Generationen
Und wie war das damals bei Dir?
Nicole Stamm (44) Handarbeitslehrerin im 20-Prozent-Pensum und Hausfrau, verheiratet mit Christian Stamm, gemeinsame Kinder: Jon Andri (12) und Ursina (9), lebt in Affoltern am Albis.
Corinne Balmer (65), früher Hausfrau, später diplomierte Hauspflegerin, verwitwet, zog neben Sohn Christoph und Tochter Nicole auch ein Pflegekind auf, lebt in Zürich.
wir eltern: Mütter sind für Töchter Rollenmodelle, an denen sie sich orientieren und reiben. Was haben Sie als Mutter anders gemacht als Ihre Mutter?
Nicole Stamm: Ich habe meinen Traumberuf nicht aufgegeben, als die Kinder kamen. Lehrerin zu sein erfüllt mich. Obwohl ich auch mit Leib und Seele Mutter und Hausfrau bin. Ich hatte eine gute Intuition, als ich damals Christian zum Lebenspartner wählte. Christian liebt seinen Job in der IT-Branche, ist aber weniger karriereorientiert als andere Männer, und verbringt seine freien Tage gerne mit der Familie.
Corinne Balmer: Ja, zwar waren dein Vater und ich beide vom 68er-Geist beseelt und erzogen die Kinder antiautoritär, doch die Familienstruktur war klassisch. Walter investierte als Oberstufenlehrer sehr viel Freizeit in seine berufliche Aufgabe, während ich das Familienleben gestaltete und neben euch leiblichen Kindern noch einen Pflegesohn grosszog. Ich habe mich der Berufskarriere von Walter untergeordnet.
Und das störte sie nicht?
Corinne Balmer: Nein, warum auch? ich genoss vollkommene Freiheit im Alltag, niemand redete mir drein.
Nicole Stamm: Du hast die Situation einfach angenommen, wie sie war.
Corinne Balmer: Ich habe mich ein Leben lang mit jeder Situation arrangiert und immer meine Nische gefunden, sei es mit Handarbeiten wie Patchwork oder Weben, die zu meinen Leidenschaften wurden, sei es mit freiwilligem Engagement für soziale Einrichtungen. Ich bin eine gute Zuhörerin, Walter hat gerne viel erzählt. Wir haben einander gut ergänzt. Und als Grossmutter stehen meine Fähigkeiten ein weiteres Mal hoch im Kurs.
Nicole Stamm: So tolerant bin ich nicht in Bezug auf das Engagement des Ehemannes in der Familie. Obwohl ich früh von dir gelernt habe, für die anderen da zu sein. Ein Grundsatz, den ich auch meinen Kindern in aller Selbstverständlichkeit vorlebe.
Corinne Balmer: Mein Leben hat aber mit Selbstaufgabe nichts zu tun, ich habe mir immer genommen, was ich brauchte. Und ich ordnete mich auch nicht der Doktrin der 68er unter, die in unzähligen Büchern davon abriet, die Kinder zu erziehen, und stattdessen deren freie Entwicklung propagierte. Ich liess als junge Mutter lieber meinen Bauch entscheiden, so setzte ich beispielsweise alles daran, dass ihr Kinder sehr früh selbstständig wurdet. Ich liess euch nicht allein, war 16 Jahre ganz für euch da. Doch schon im jungen Alter musstest du die Ferienkoffer selber packen – ob das Reisegepäck dann vollständig war oder nicht, war nebensächlich.
Was halten sie, Frau Stamm, als Mutter von der antiautoritären Erziehung, die sie als Kind genossen haben?
Nicole Stamm: Dieses Erziehungsmodell ist aus meiner Optik etwas gar freiheitlich, ich habe meine eigenen Vorstellungen. Als Handarbeitslehrerin in der Primarschule, wo ich auch viel von den familiären Hintergründen meiner Schulkinder mitbekomme, beobachte ich etwa, dass die Extreme zwischen Eltern, die ihre Kinder emotional alleine lassen, und jenen, die sie total überbehüten, immer stärker werden.
Corinne Balmer: Im Gegensatz zu dir habe ich euch im Spiel zwar immer beobachtet, griff aber nur ein, wenn unmittelbare Gefahr bestand. Du hingegen warnst deine Kinder vor Gefahren, lange bevor sie überhaupt eintreten.
Nicole Stamm: Ich kontrolliere die Kinder nicht auf Schritt und Tritt, doch habe ich klare Vorstellungen im Alltag, wie die Dinge zu laufen haben. Auch sind mir Ordnung im Haushalt und klar strukturierte Tagesabläufe sehr wichtig. Es fällt mir schwer, etwas dem Zufall zu überlassen.
Führt das unterschiedliche Erziehungsmuster zu Konflikten?
Nicole Stamm: Nein, finde ich nicht. Und du? Ich respektiere, dass du als Grossmutter einen anderen Erziehungsstil pflegst, und ich habe grosses Vertrauen in dich, wenn ich dir jeweils die Kinder zur Betreuung übergebe. Jon Andris Gesundheitszustand ist wegen seiner Behinderung instabil. Wenn ich arbeite, bin ich auf jemanden angewiesen, auf den ich mich 100-prozentig verlassen kann, der weiss, was zu tun ist. Du bist die Garantin dafür.
Corinne Balmer: Ich tue das gerne und so oft ich kann. Aber ich bin halt auch eine Weltenbummlerin. Meine Leidenschaft ist das Reisen, Libyen war wunderbar, und auch der Jemen, die Wüste auf Kamelen zu durchqueren: fantastisch! Seit Walter, mit dem ich diese Leidenschaft früher teilte, gestorben ist, kann ich mir Freiheiten nehmen, für die mir lange die Zeit fehlte.
Nicole Stamm: Das sind für mich dann immer die unsicheren Momente.
Corinne Balmer: Dass ich von allen gebraucht werde, scheint mein Schicksal zu sein. Früher brauchte mich meine eigene Familie, mein eigener Vater sogar bis heute. Walter war wegen seiner Krankheit lange auf mich angewiesen, und im Moment unterstütze ich dich und die Kinder.
Nicole Stamm: Ich bin dir sehr dankbar für diese Unterstützung. Und ich glaube wir verstehen uns überdurchschnittlich gut, wir hatten noch nie Streit. Höchstens Spannungen. Nämlich immer dann, wenn du in die Ferien verreist und ich für die Betreuung meiner Kinder eine andere Lösung suchen muss. Das meine ich allerdings keineswegs als Vorwurf, im Gegenteil: Ich gönne dir um alles in der Welt die Freiheit. Gleichzeitig führt mir deine Abwesenheit stets vor Augen, dass ich ohne deine Unterstützung meinen Lehrerinnenjob an den Nagel hängen müsste. Doch ich habe im Laufe der Jahre auch dazugelernt, etwa auf das gute Netz von Freunden und Bekannten zu vertrauen, die bereit sind, in die Lücke zu springen. Und wenn alle Stricke reissen, ist Christian ja schliesslich auch noch da.
Michel Good (41), Geschäftsleiter des Kulturzentrums Alte Fabrik in Rapperswil im 80-Prozent-Pensum, verheiratet mit Bettina Gasser, gemeinsame Söhne: Juri (5 Jahre) und Leo (3 Jahre), lebt in Winterthur.
Hans-Peter Good (71), pensionierter Sekundarlehrer, verheiratet mit Yvonne Good, gemeinsame Kinder: zwei Töchter und Sohn Michel, lebt mit seiner Gattin in Männedorf.
wir eltern: Die Vaterrolle hat sich in den letzten Jahren stark verändert, vom Ernährer zum Miterzieher. Finden Sie diese Veränderung positiv?
Hans-Peter Good: Das tönt mir zu positiv! In den letzten Jahren meiner Schultätigkeit stellte ich im Gegenteil fest, dass es mit der Aufsichtspflicht der sogenannten Miterzieher und der Erziehung der pubertierenden 15-Jährigen haperte. Eine Veränderung allerdings habe ich akzeptieren gelernt. Die Kinder in die Krippe zu geben, wäre für mich in den 70er-Jahren nicht in Frage gekommen. Die war damals nur für Kinder gedacht, deren Mütter gezwungen waren, Geld zu verdienen. Dass meine Enkelkinder heute die Krippe besuchen, ist sicher wertvoll. Sie lernen mit anderen Kindern umzugehen oder Spielsachen zu teilen.
Michel Good: Kinder lernen heute wirklich vieles in der Krippe. Juri lernte da zum Beispiel das Karottenschälen schon mit dreieinhalb.
Hans-Peter Good: Als ihr klein wart, hatte ich wenig Zeit. Heute kümmern deine Mutter und ich uns regelmässig um eure Kinder, und wir haben grosse Freude daran. Ich freue mich jedes Mal, wenn sie bei uns übernachten. Wie so viele andere Väter auch, habe ich im Nachhinein das Gefühl, etwas verpasst zu haben.
Michel Good: Das wird mir dereinst kaum passieren, ich bin viel mit den Kindern zusammen und bringe mich täglich in die Erziehung ein. Ich gehe oft in die Natur mit ihnen, unternehme viel. Das heisst aber nicht, dass ich die Tage für sie durchprogrammiere. Ich lege als Vater viel Wert darauf, dass meine Kinder auch mit Langeweile umgehen und selber Ideen für Spiel und Beschäftigung entwickeln.
Hans-Peter Good: Da hast du sicher recht, obwohl ich mich natürlich riesig freue, dass der älteste Enkel mit mir begeistert Tennis spielt und alles über die griechischen Sagen der Antike wissen will. Um diesen Wissensdurst zu stillen, durchstöbere ich meine Bibliothek und versorge ihn mit allerlei Lesestoff.
Michel Good: Wertvoll für ihre Förderung ist das sicher und ich finde es toll, dass du dir dafür Zeit nimmst. Ich halte allerdings nichts davon, die Kinder so früh wie möglich in Förderprogramme zu stecken und jede freie Minute mit Aktivitäten in Sportklubs oder Sprachkursen auszufüllen, wie das manche Eltern tun. Kinder sollen möglichst lange Kinder sein.
Hans-Peter Good: Und man sollte sich für sie Zeit nehmen. Als Sekundarlehrer hatte ich zwar häufiger Ferien als andere Väter und nutzte sie für Unternehmungen mit euch Kindern. Doch der Schulalltag war intensiv. Ich musste mich um die Probleme anderer Kinder kümmern. Dabei hatte ich Einblick in die Familien meiner Schulkinder, besonders in jene, die nicht so intakt waren wie unsere. Kinder, deren Eltern sich trennten, sobald es schwierig wurde, hatten Probleme und sie machten Probleme. Als Lehrer spürte man das auffällig oft bei Patchworkfamilien und Familien mit nur einem Elternteil.
Michel Good: Ich zweifle daran, dass Familien grundsätzlich intakter sind, in denen der Vater zu 100 Prozent erwerbstätig und für die Kinder oft unerreichbar ist, während die Mutter vielleicht ihre Lebensträume begraben muss. Mit meinem 80-Prozent-Pensum als Geschäftsleiter konnte ich mir einen Papi-Tag einrichten, der mir heilig geworden ist. Dieser Tag ist zwar um einiges anstrengender als der Berufsalltag, denn Kinder sind unberechenbar und haben Erwartungen. Doch die Liebe und das Vertrauen, das ich spüre, die eigene Verantwortung, die ich für die Kinder tragen darf, entschädigen mich für viele anstrengende Stunden. Kürzlich hat mir Juri einen Witz erzählt, das erfüllte mich mit Stolz; ich freue mich über den intellektuellen Entwicklungsschritt.
Sie sind als Vater sehr engagiert. Spüren Sie diesbezüglich gesellschaftlichen Druck?
Michel Good: Ja, durchaus, und es herrscht bei jungen Vätern oft eine gewisse Orientierungslosigkeit, es fehlen die Rollenvorbilder. Umso mehr muss ich mich mit meiner Rolle auseinandersetzen. Dabei lasse ich mich hin und wieder von Büchern des Kinderarztes Remo Largo oder von Thomas Gordon inspirieren.
Hans-Peter Good: Verglichen mit dir war ich ja ein richtiger Macho. Deine Mutter hat sich damals voll und ganz eurer Erziehung gewidmet, rannte jeden Mittag nach Hause, um mir das Essen zu kochen, und hatte keinerlei Unterstützung von mir im Haushalt. Sie war zuweilen unglücklich darüber, sich der Familie unterordnen zu müssen.
Michel Godd: Bettina wäre auch nicht glücklich als Vollzeithausfrau. Doch kritisieren möchte ich dich in deiner Rolle als Vater nicht. Du bist zwar manchmal autoritär gewesen, aber ich habe dich nie als abwesenden Vater empfunden.
Kennen Sie den Vorsatz: Das mache ich einmal anders?
Michel Good: Natürlich! Als frischgebackener Vater dachte ich oft, dass ich die Erziehungsmethoden meines Vaters niemals anwenden würde. So wollte ich nie wie du den Satz: «Es ist, weil ich es sage, ich bin der Chef» verwenden, wenn dir uns Halbwüchsigen gegenüber die überzeugenden Argumente ausgingen. Inzwischen musste ich jedoch von meinen Idealen etwas abrücken: Obwohl ich mich sehr bemühe und mich mit meiner Rolle als Vater stark auseinandersetze, fehlt manchmal einfach die Energie für den pädagogisch hochwertigen Umgang, und ich tappe in die gleiche Falle. So sehr ich ein engagierter Papi bin, ein Übervater bin auch ich nicht.
Hans-Peter Good: Das kann ich mir bestens vorstellen.
Michel Good: Aber im Vergleich zum früheren Erziehungsverständnis bin ich mir nicht zu schade, mich für ein Fehlverhalten bei meinen Kindern zu entschuldigen.
Hans-Peter Good: Und ich bin in meiner Rolle als Grossvater deutlich nachsichtiger als früher als Vater. Damals war ich wohl sehr stur, wenn es um Tischmanieren ging. Ihr Kinder musstet das Gemüse fertig essen, auch wenn euch dabei fast übel wurde. Ihr seid uns mit hängenden Köpfen hinterher getrottet, wenn wir Eltern am Sonntag auf einem Spaziergang bestanden.
Michel Good: Ja, das stimmt. Heute dürfen deine Enkelkinder stehen lassen, was sie nicht essen mögen. Und sie dürfen mitbestimmen, wenn ihnen das Freizeitprogramm nicht passt.
Hans-Peter Good: Die Zeiten haben sich eben schon geändert. Und ich denke, das ist ganz gut so.