Interview
Taffe Mütter haben oft mutlose Mädchen
Mädchen im Teenageralter, die sich zurückziehen, extrem antriebslos sind und der Schule fernbleiben: Der Jugendpsychiater Michael Schulte-Markwort beschreibt in seinem Buch «Mutlose Mädchen» ein neues Phänomen.
«wir eltern»: Herr Schulte-Markwort, wie kamen Sie auf den Begriff «mutlos»?
Michael Schulte-Markwort: Eine Zeit lang dachten mein Team und ich, wir haben es mit besonders depressiven Mädchen zu tun. Aber je intensiver wir uns mit ihnen beschäftigten, umso mehr merkten wir: Die bei Depressionen üblichen Strategien zeigen bei diesen Mädchen – also etwa fünf Prozent unserer Patientinnen – keine Wirkung. Ihre Grundstimmung ist nicht zutiefst traurig, sondern komplett antriebslos. Daraus entstand für uns der Begriff «mutlos».
Wie zeigt sich diese Mutlosigkeit genau?
Die betroffenen Mädchen – zwischen 13 und 16 Jahren – interessieren sich für nichts, brennen für nichts. Sie haben Phasen, in denen sie sich mit Freundinnen treffen, aber insgesamt fühlen sie sich überfordert und ziehen sich zurück – was jede Entwicklung ausschliesst. Auch zur Schule gehen sie nicht mehr. Kurz: In einem Alter, in dem sie Perspektiven für das eigene Leben entwickeln sollten, bleiben diese Mädchen in ihrer Entwicklung stecken.
War dies bei den von Ihnen behandelten Mädchen schon in der Kindheit absehbar?
Nein. Als Kinder waren sie meist unauffällig, in der Tendenz etwas stiller, eher schüchtern bis ängstlich aber leistungsstarke Mädchen, bei denen niemand Zweifel hatte, dass sie ihren Weg gehen.
Sie sagen, diese Mädchen fühlen sich überfordert – von was genau?
Die Mädchen stammen in der Regel aus Familien, in denen die Mutter die familiäre Hauptlast trägt – wie das heute meist immer noch der Fall ist. Mütter sind erwerbstätig, versorgen die Kinder, geben Nachhilfe und schmeissen den Haushalt. Ich bin immer wieder tief beeindruckt, wie leistungsfähig diese Frauen sind. Aber sie sind auch sehr erschöpft. Ihre Töchter sehen in ihren Müttern, die alles gegeben haben und erfolgreich ihre vielen Aufgaben bewältigen, keine Vorbilder. Sie wollen nicht so erschöpft sein; der Weg, der ihnen vorgezeichnet wird, überfordert sie. Damit stehen sie an der Spitze einer Nachfolgegeneration, die uns darauf hinweist: «Wir tragen diesen Leistungsgedanken so nicht weiter!» Was ich auch bei uns in der Klinik feststelle: Dort arbeiten nur noch zehn Prozent Vollzeit. Der Rest möchte das nicht mehr.
Was ist mit den Jungen? Ist bei ihnen keine Mutlosigkeit festzustellen?
Wir kennen dies auch bei Jungen. Bei Mädchen beunruhigt uns jedoch, dass die Zahl so zugenommen hat. Auch wenn es sich um eine kleine Gruppe handelt: Diese Mädchen halten uns als Gesellschaft den Spiegel vor. Insgesamt waren Kinder und Jugendliche noch nie so reflektiert wie heute, vor allem Mädchen. Sie sind kritischer, sensibler als Jungs – was ein Grund dafür sein mag, dass mehr Mädchen ausscheren. Zudem ist die Situation für sie schwieriger: Ein junger Mann kann heute Hausmann werden und wird dafür gefeiert. Will eine junge Frau Hausfrau sein, wird sie abgewertet. Das Problem ist: Emanzipation findet nur im Leistungsbereich statt.
«Die Mädchen entwerten unbewusst ihre Mütter mit allen emanzipatorischen Eigenschaften und begehren gegen sie auf», schreiben Sie. Was ist die Lösung? Zurück zur klassischen Hausfrau und Mutter, damit die Töchter nicht leiden?
Nein, das wäre eine fatale Schlussfolgerung. Mir ist wichtig festzuhalten: Die Mütter haben nichts falsch gemacht. Ausser: vieles besonders richtig. Die Mädchen haben auch nichts falsch gemacht: ausser dass sie besonders gemocht werden wollten und besonders angepasst waren. Wichtig ist, die Botschaft der Mädchen zu verstehen: «Euer Leistungsanspruch gilt für uns nicht mehr!» Wir Erwachsene sollten uns hinterfragen: Wie viel Erschöpfung im Leben bin ich bereit, in Kauf zu nehmen? Was ist ein angemessener Preis? Dramatisch ist auch, dass Mutterschaft bei uns keinen Wert hat und Mütter mit allem alleine gelassen werden.
Ist der Rückzug der Mädchen auch als drastische Abgrenzung zu verstehen? So, wie es alle Generationen versuchen? In meiner Kindheit etwa waren Mütter meist nicht berufstätig – was für meine Generation wiederum nicht zur Debatte stand. Wir wollten Job UND Kinder. Und haben das meist auch realisiert.
Ja, aber damals gelang Abgrenzung leichter. Heute ist dies schwierig, weil sämtliche Optionen bereits besetzt sind. Was sich auch in anderen Bereichen zeigt: Wollen junge Menschen ältere Generationen herausfordern, erreichen sie das fast nur noch, wenn sie sich radikalisieren. In diesem Sinne sind auch extreme Protestaktionen zu verstehen. Mutlose Mädchen wiederum, die das Leistungsprinzip nicht weitertragen wollen, wählen den drastischen Rückzug.
Michael Schulte-Markwort (66) ist Kinder- und Jugendpsychiater sowie Universitätsprofessor mit Schwerpunkt Erschöpfungsdepression (Burnout-Syndrom). Er ist ärztlicher Direktor der Marzipanfabrik und der Oberberg Fachklinik Fasanenkiez sowie Supervisor der Praxis Paidion in Hamburg. Dort lebt er auch mit seiner Familie.
➺ Michael Schulte-Markwort: «Mutlose Mädchen». Ein neues Phänomen besser verstehen. Hilfe für die seelische Gesundheit unserer Töchter. Kösel 2022, 256 Seiten, Fr. 34.–
Wo bleiben bei alldem die Väter?
Sie sind meist zu wenig präsent und oft hilflos. Väter, die – ebenso wie die Mütter – alles getan haben, um ihren Familien ein gutes Leben zu gewährleisten, realisieren die Mutlosigkeit ihrer Töchter ungläubig. Orientieren sie sich selbst am Motto «Für Probleme gibt es immer eine Lösung», können sie sich in diese emotionale Dimension nur schwer einfühlen. So übersehen sie oft, dass ihre Töchter ängstlich-zurückhaltend sind. Und werden für ihre Töchter unerreichbar.
Mutlose Mädchen sind also ein Symptom unserer Zeit. Gleichzeitig sehen sie auch im Schulsystem Ursachen dafür. Inwiefern?
Das Schulsystem – zumindest das deutsche – ist ein Ort der Defizitbeurteilung. Benotet wird nicht, was eine Schülerin oder ein Schüler geschafft hat, markiert werden Lücken und Nicht-Wissen. Die Mitteilung lautet: «Du hast 20 von 50 Wörtern falsch geschrieben!» Nicht: «Du hast 30 richtig!» Die Pädagogik ist auch nicht partizipativ, sondern von Grund auf misstrauisch. Gerade die stilleren, zurückhaltenden Mädchen gehen in solch einem System leicht unter. Schule ist zugleich der «Laufsteg», auf dem sich Kinder und Jugendliche täglich zeigen. Dies kann Freude machen, weil es mit guten Kontakten zu Freundinnen und Freunden verbunden ist. Es kann aber auch Stress bedeuten, wenn man nicht so selbstsicher in der Welt steht.
In verschärfter Form gibt es solch einen «Laufsteg» auch in den sozialen Medien.
Ja, der virtuelle Laufsteg ist heute ein stressiger Bestandteil der Jugend, vor allem Mädchen vergleichen sich hier. Bearbeitete Fotos erschlagen und machen klein – was negative Gefühle und Mutlosigkeit verstärken kann. Für mutlose Mädchen ist die digitale Welt Fluch und Segen zugleich: Segen, weil sich mit Freunden in Kontakt bleiben lässt, die die Mädchen aufgrund ihres Rückzugs analog längst nicht mehr sehen. Aber auch Fluch, weil digitale Welten ein Heraustreten aus dem häuslichen Umfeld weniger notwendig machen.
Was können Eltern von mutlosen Mädchen tun?
Eltern müssen aufhören zu locken («Willst du das nicht mal ausprobieren?»), denn das führt zu noch mehr Rückzug. Es ist eine schwierige Situation, vor allem für Mütter, deren Lebensmodell die Töchter in Frage stellen. Viele Eltern sind sehr tolerant, sagen «Noten sind uns nicht wichtig, das Kind soll sich nur selbst ernähren können». Doch wenn selbst dieses Minimalziel mit dem Schulabsentismus schwindet, bekommen sie es mit der Angst zu tun.
Was heisst das für den Umgang mit mutlosen Mädchen konkret?
Es braucht sehr viel Geduld und oft jahrelange Begleitung. Man muss sich auf die Seite der Mädchen schlagen, versuchen, sie zu verstehen, ihre Sicht der Dinge spiegeln und schauen: Warum ist das so? Meist gilt es, das Selbstwertgefühl der Mädchen zu stärken. Anschliessend folgen viele Mikroschritte: ein Praktikum vielleicht, ein zartes Pflänzchen von Beziehung. Dies alles ist innerhalb einer Familie kaum zu schaffen, hier braucht es Psychotherapie, manchmal auch Schulbegleitung oder den Einzug in eine Wohngruppe. Die Mädchen benötigen Zeit, Entwicklungsschritte in ihrem langsamen Tempo zu gehen. Und für Eltern ist wichtig, sich nicht die Schuld zu geben.
Wie erkennen Eltern, dass es sich nicht um normales pubertäres Verhalten handelt, sondern um ein psychisches Problem, für das es professionelle Hilfe braucht?
Verlassen Sie sich auf Ihr Gefühl. Glauben Sie, etwas ist nicht normal, lassen Sie es abklären. Generell gilt: Zieht sich ein Kind immer mehr zurück, ist es zu fast nichts mehr zu motivieren, sollten Eltern hellhörig werden – und nicht warten, bis es nicht mehr zur Schule geht.
Wie verhindere ich als Mutter, dass meine Tochter mutlos wird?
Es braucht einen ehrlichen MutterTochter-Dialog, ohne zu beschwichtigen, sondern im Sinne von: «Du hast recht, manchmal bin ich sehr erschöpft. Aber das ist es mir wert, weil mir die Arbeit viel Spass macht.» Es geht darum, sich selbst und seine Bedürfnisse nicht zurückzustellen, sondern ein gutes Vorbild zu sein in Selbstfürsorge. Gleichzeitig muss die Tochter wissen, dass es für sie immer einen eigenen Weg gibt. Dazu gehört auch, dass Eltern sich klar sind: Was für ein Kind haben wir vor uns? Aus einem zurückhaltenden Mädchen lässt sich kein aktives machen. Eltern müssen sich dem Tempo des Kindes anpassen.
Sollten sich Mutter und Vater gegenüber dem Nachwuchs mehr zurücknehmen? «Kinder entwickeln sich manchmal besser, wenn Eltern im richtigen Moment wegschauen», schreiben Sie.
Ja, davon bin ich tief überzeugt. Wir kennen dies aus unserer eigenen Entwicklung. Heutigen oft sehr engagierten Eltern fällt dieses Wegschauen schwer. «Wir verstehen uns doch so gut», sagen sie, «du kannst mir alles erzählen.» Umso wichtiger ist es, manchmal loszulassen und zu sagen: «Geh! Du kannst das alleine! Ich traue dir das zu!» Allerdings dürfen Eltern dann nicht jeden Schritt des Kindes auf dem Handy kontrollieren; das wäre nicht authentisch. Gesagtes muss immer mit der Haltung übereinstimmen. Das ist ganz zentral.
Einst Redaktorin beim «Tages-Anzeiger», später Korrespondentin in Shanghai, schreibt Kristina Reiss heute als freischaffende Journalistin leidenschaftlich über den Mikrokosmos Familie. Dabei interessiert sie sich für alles, was Menschen bewegt – ihre Wünsche, Sehnsüchte, Ängste und Hoffnungen.