Geschlechter-Stereotype
Sport: Bastion der Vorurteile
Von Text Caren Battaglia Fotos Holger Salach, Wolfgang Gogoll
Typisch Junge, typisch Mädchen – in Turnhallen und auf Trainingsplätzen halten sich selbst die schimmeligen Stereotype hartnäckig. Höchste Zeit, dass sich das ändert.
Na, schon zum Public Viewing fürs Endspiel am 7. Juli verabredet? Fähnchen fürs Auto gekauft? Trikot der Lieblingsmannschaft paratgelegt? Nein? Warum denn nicht? Es ist doch Fussball-WM. Frauen-Fussball-WM. Doch Frauen-Fussball-WM – seien wir ehrlich, gilt als WMchen. Nett, aber nicht ernst zu nehmen. Wie Männer in der Rhythmischen Sportgymnastik. Jungs beim Ballett, Mädchen beim Skispringen … Sport ist eine der letzten Bastionen verstaubter Geschlechtsrollenklischees, die noch nicht geschliffen wurden. Hier wuchern alte Zöpfe ungehindert. Höchstens, dass mal die Spitzen geschnitten werden. Und Stereotype, von denen man dachte, sie stünden kurz vor der Mumifizierung, sind hier fit und durchtrainiert. Warum eigentlich?
Bei der Frage erscheinen vor dem geistigen Auge gähnende Leser und Leserinnen: Das Thema Gender sei nun wirklich ermüdend 80ermässig. Damals habe man das am WG-Tisch diskutiert, doch jetzt sei es doch wirklich von diesem Tisch und auch von allen anderen Tischen. Zudem gäbe es drängendere Probleme als die Frage, ob Frauen im Viererbob bei Olympia starten dürfen, ob ein Stefan Raab lustig oder beknackt ist, wenn er im fleischfarbenen Ganzkörperanzug bei Rhythmischer Sportgymnastik herumkaspert, und ob es frech, dusselig, ein Skandal oder alles gleichzeitig ist, wenn der FC Basel im vergangenen November zur 125 Jahr-Gala die Männermannschaft zum Menü in den Saal bittet und die Frauenmannschaft zum Tombola-Loseverkauf abkommandiert. Kann sein, dass das eine Nebensache ist. Kann. Muss aber nicht.
Denn spätestens, wenn das eigene Kind Lust auf eine vermeintlich untypische Sportart bekommt, wird spürbar, dass da nichts vom Tisch ist und aus der Nebensache eine Hauptsache werden kann, an der zahllose Fragen ohne Antworten hängen. Für das Kind. Und für die Eltern. Denn plötzlich stolpert man über dahingesagte Sätze wie «sie wirft wie ein Mädchen», «sie ist auf dem Platz toll angriffig, fast wie ein Bub», «Tänzer sind schwul». Was sagt man da Tochter oder Sohn? Und wie solche rätselhafte Fakten erklären:
♦ Roger Federer verfügt über 20 Grand Slam Einzeltitel der Männer. Margret Smith Court über 24 Grand Slam Einzeltitel der Frauen. Eine der beiden Personen kennt jeder und jede…
♦ 15 Prozent der Sportübertragungen berichten über Frauen. Die Berichtenden sind zu 89 Prozent Männer.
♦ 84 Verbände sind Mitglied bei Swiss Olympic. Bei 4 Verbänden sitzt eine Frau auf dem Präsidentenstuhl.
♦ 2015 dürfen Männer erstmals bei der WM beim Synchronschwimmen im gemischten Duo starten.
♦ Beachvolleyballerinnen wird 2004 vom Weltverband FIVB vorgeschrieben, auf dem Court Bikinihöschen zu tragen, die an der Seite nicht breiter als 7 Zentimeter sind. Die Vorschrift wird 2012 gekippt.
♦ 2014 starteten bei Olympia erstmals Skispringerinnen. Inzwischen dürfen sie auch von der Grossen Schanze springen. Begründung von FIS-Präsident Gian-Franco Kasper, für das bis anhin geltende Verbot: «Die Wucht des Aufpralls zerstört die Gebärmutter.»
♦ Tour de France für Frauen? Fehlanzeige.
♦ Rhythmische Sportgymnastik für Jungen in der Schweiz? Auch Fehlanzeige.
♦ Berufshandballer erhalten ein doppelt so hohes Taggeld wie Berufshandballerinnen.
♦ 2004 schlägt Sepp Blatter vor, Frauen sollten beim Fussball doch engere Hosen tragen, um ihren Sport beliebter zu machen.
♦ 2019: Auf der Liste der 100 bestverdienenden Sportler/-innen stehen 100 Männer.
♦ 2016 dürfen erstmals Frauen in der nordischen Kombination bei Olympia starten.
♦ 0,4 Prozent der Werbe- und Sponsorengelder gehen an Frauen.
♦ 2018: Die Welt-Fussballerin wird bei der Preisverleihung des Ballon d’Or vom Moderator gefragt, ob sie twerken könne.
Die Liste liesse sich beliebig verlängern. Wie kommts, dass dieses «hier weiblich – dort männlich» im Sport konserviert wird wie Ötzi im Eis? «Weil Sport mit der Geschlechterdichotomie assoziiert ist», weiss Petra Giess-Stüber, Professorin für Sportpädagogik an der Uni Freiburg im Breisgau. Beim Sport stünde eben der Körper und damit das Geschlecht im Zentrum. So hat etwa ein Junge von 30 Kilo Gewicht 12 Kilo Muskeln, ein Mädchen 9. Ab der Pubertät geht die Schere weiter auf, sorgt das «männliche» Hormon Testosteron für Kraft und Schnelligkeit. Im Kielwasser davon, so Giess-Stüber, schwämmen dann dumpfe Schlussfolgerungen, in denen überlegene männliche Sportleistungen mit vermeintlich natürlicher genereller Überlegenheit des Mannes gleichgesetzt würden. Ausserdem gäbe es viele Sportarten, in denen grössere Muskelkraft nicht zentral sei. «Vor allem aber, das muss man klar sagen», so Giess-Stüber, gehe es bei der Zementierung tradierter Sichtweisen «um Machterhalt und Geld». Um Budgets der Sportförderung, Werbeverträge, Einfluss, Pfründe, Millionen… Doch wenn es auf den ersten Blick auch so scheint, als sei der Sport nicht nur bei Jungen mit 78 Prozent viel beliebter als bei Mädchen mit 65 Prozent (Studie Kölner Sporthochschule), sondern generell eine Art privilegierter Londoner Herrenclub des 19. Jahrhunderts, sieht das bei genauerer Betrachtung anders aus.
Niemand, so die Fachstelle für Gleichstellung Zürich in einer Untersuchung, wird mehr gehänselt als der «unsportliche Junge», niemand häufiger mit Mobbing konfrontiert als ein Bub in einem vermeintlichen Mädchensport. «Jungen in untypischeren Sportarten sind extremen Belastungen ausgesetzt, Rollenvorschriften sind für sie viel restriktiver», erklärt Petra Giess-Stüber. Ein Mädchen im Bubensport werde weitgehend akzeptiert. «Aber ein Junge im Mädchensport? Das gilt als Abstieg.» Und diese Sportprägung beginne früh. Schon zum Eltern-Kind-Turnen – so Studien der Uni Freiburg – zögen die Mütter und Väter ihren Töchtern Gymnastikschläppchen und pastellfarbene Leggins an, den Jungen feste Turnschuhe und eine dunkle Sporthose. Und von da ab kickten die Väter mit den Jungen, die Mädchen gingen ins Turnen. «Bis zum Schulbeginn haben sich dann durch stetes Üben schon deutlich unterschiedliche Kompetenzen herausgebildet, die in der Schule noch weiter vertieft werden», resümiert Petra Giess-Stüber.
Finger hoch, wer als Junge im Sportunterricht getanzt hat. Muss das so bleiben? Nein. Norwegen machts vor. Hier kriegen alle Mitglieder der Fussballnationalmannschaft den gleichen Lohn. Egal ob Frau oder Mann. Auch die deutschen Fussballfrauen gehen in die Offensive. Mit dem, nun ja, drastischen Werbeslogan für ihre Nationalmannschaft: «Wir brauchen keine Eier, wir haben Pferdeschwänze.» Auch die Japaner pfeifen darauf, dass Rhythmische Sportgymnastik angeblich unmännlich ist und versetzen mit ihrer Hochleistungsakrobatik die Welt in Staunen. Und Eltern, was können die tun, damit Sohn oder Tochter frei aus der Vielfalt wählt, angeschimmelte Vorurteile abtropfen lässt und sich gegen Ungerechtigkeiten wehrt?
«Nicht-stereotype Angebote machen», betont Petra Giess-Stüber. «Den Fernseher bei ‹untypischen› Sportarten anlassen, ruhig auch mal bei den Lehrern nachfragen, ob es wirklich im Sportunterricht stets die ausgetretenen Pfade sein müssen und das Kind bestärken in dem, was ihm wirklich liegt – unabhängig von Geschlechtergrenzen.» Damit künftig der Spass gleich verteilt ist: bei Sport und Losverkauf.