
Anita Zulauf
Familie / Schulweg
Mit der Seilbahn in die Schule
Kinder alleine in einer Seilbahn? Unvorstellbar. Für Bergfamilien ist das der ganz normale Alltag. Wir haben vier Kinder auf ihren abenteuerlichen Schulwegen begleitet.
Es ist eng, in dem Schulbus. Etwa 15 Kinder mit Schultheks und Turnsäckli sitzen dichtgedrängt nebeneinander. Kinder vom Kindergarten bis zur 6. Klasse der Berggemeinde Romoos (LU). Es wird geschubst, gelacht, geknufft. Und es ist laut. Die Kinder werden in verschiedene Weiler nach Hause gefahren. Die Strecke ist ganz schön steil und kurvig. Immer wieder hält der Bus und lässt Kinder aussteigen. «Tschüss und e Guete», ruft die Busfahrerin hinterher. Es ist Mittagszeit.
Im Bus sitzt auch Linus Vogel. Linus ist 10 Jahre alt und geht in die 5. Klasse. Für ihn ist bei der «Schwändi» Endstation. Doch zu Hause ist er noch lange nicht. Der Bauernhof der Familie Vogel liegt oben, auf einem Hügel im Napfgebiet. Linus steigt einen kleinen Pfad empor zu einem grauen Betongebäude. Er macht die Tür auf. Da hängt sie in den Seilen, bereit für ihren Fahrgast: Die Seilbahn Schwändi–Ober Länggrat, eine kleine, blaue Pendelbahn, Platz für vier Personen oder 350 Kilo, mit gelben Gepäckhaltern vorn und hinten. Linus fährt jeden Tag zweimal mit der Seilbahn, einmal runter, einmal rauf. Für den Schulweg ins Dorf überwindet er insgesamt rund 400 Höhenmeter.
Seilbahn in Schräglage
Der Bub steigt ein, nimmt den Telefonhörer von der Halterung an der Kabinenwand und betätigt eine Kurbel. «Jetzt läutet die Glocke oben in der Bergstation», sagt er. Und spricht auch schon in den Hörer: «Hallo Päuli, ich bin parat.» Kaum hat er den Hörer eingehängt, ruckelt die Bahn los. Nach ein paar schwingenden Bewegungen macht sie sich gemächlich auf den 1270 Meter langen Weg. Linus lehnt sich zurück. Es ist ruhig, still schon fast. Nur das Surren der Seile ist zu hören. Und die Bahn schwebt höher und höher. Nicht ein bisschen unheimlich? «Nein, gar nicht», sagt er. Was macht er, wenn er allein ist auf dem Weg nach oben? «Ein bisschen Nachdenken halt. Meist schaue ich, ob ich Tiere sehe.»
Die Bahn quert die Schlucht Goldbachgraben in bis zu 250 Metern Höhe. Weit unten wiegen sich die Gipfel der Tannen. Kühe weiden auf einer Wiese, zwischen den Bergen und den Wäldern hängen Nebelfetzen. «Manchmal ist es etwas langweilig. Als die anderen noch mitfuhren, wars lustiger », sagt Linus. Die anderen, das sind Nachbarskinder und seine Schwestern Julia (13) und Carolin (15). Sie alle gehen jetzt in die Oberstufe, manche nach Wolhusen, Julia und Carolin nach Willisau, in die Kantonsschule. Sie «seilen» zu anderen Tageszeiten, wie man hier das Seilbahnfahren nennt.
Manchmal sehe er Rehe und Gemschi, erzählt Linus auf dem Weg nach oben. «Spannend wirds, wenn es stark windet. Dann schaukelts, und manchmal fährt die Gondel in Schräglage, dann muss man einfach auf die andere Seite rutschen, damit sie wieder gerader hängt.» Lässig findet er es auch, wenn sich hohe Bäume im Wind biegen und die Äste die Kabine streifen.
Heute ist windstill.
Die Seilbahn ist angekommen, fährt in die Bergstation ein. Linus begrüsst Paula «Päuli» Kammermann. Sie betreibt die Seilbahn gemeinsam mit ihrem Mann Fritz. Die Bahn wurde 1962 für den Schülertransport gebaut, damals, als man die Aussenschulen in diesem Gebiet dicht machte und es noch keine Zufahrtswege gab.







Kumpur, Nepal Rostige Transportbahn über reissenden Fluss Trishuli; Gefahren: Schakale, Tiger, ertrinken.
Atule’er, China Berg auf 17 selbstgebauten Bambusleitern 800 Meter Höhe überwinden, Kletterdauer bis 2 Stunden; Gefahr: abstürzen.
Titicacasee, Peru Kinder rudern in Kanus 4 Stunden; Gefahren: Kälte, ertrinken.
Taiga, Mongolei Bei –36 Grad 10 Kilometer zu Fuss oder auf Reittieren; Gefahren: Wölfe, Bären, Schneestürme.
Quelle: Die gefährlichsten Schulwege der Welt, DVD im Handel erhältlich
Während Linus‘ Schulkameraden bereits beim Mittagessen sitzen, liegt vor ihm noch ein Fussmarsch von rund 15 Minuten. Rauf auf den Berg, durch Wald und entlang von Wiesen. Findet er seinen langen Heimweg nicht manchmal blöd? Linus zuckt die Schultern. Darüber macht er sich keine Gedanken. Er interessiert sich gerade für den Ameisenhaufen am Wegrand, der ausgebuddelt worden ist. «Vielleicht wars ein Dachs. Oder der Fuchs», überlegt er, und geht weiter bergauf. Dann sagt er, dass er manchmal mit dem Fahrrad fahre, zur Seilbahn. Das geht schneller. «Richtig toll wirds im Winter, dann fahr ich mit dem Schlitten runter, und wenn es noch dunkel ist, ziehe ich die Stirnlampe an.»
Jetzt taucht linker Hand der grosse Bauernhof der Familie Vogel auf. Linus erzählt, dass sie Kühe hätten, Geissen, Kaninchen, Hühner und Katzen. Zu Hause empfängt Pia Vogel ihren Jüngsten. Das Essen steht schnell auf dem Tisch. Linus hat einen Bärenhunger.
Pia Vogel erzählt: «Als unsere Älteste, Carolin, vier Jahre alt war, habe ich sie am ersten Kindergartentag noch begleitet. Am nächsten Tag ging sie dann selber los. Nein, wir hatten keine Angst, weder Carolin noch mein Mann oder ich. Das ist hier oben völlig normal, das machen alle so.»
Panik wegen Stromausfall
Gemeinsam mit den Nachbarskindern ging es damals zu viert, fünft oder sechst mit der Seilbahn runter – und wieder hinauf. Und wenn mal ein Kind die anderen verpasste, dann fuhr es allein. Carolin nahm später ihre jüngeren Geschwister mit, als die eingeschult wurden. «Wir haben den Kindern die Regeln erklärt, sie halten sich daran», so Pia Vogel. Die Regeln sind: Die Tür nicht aufmachen während der Fahrt und nicht schaukeln. Nur einmal, da hatte Pia Vogel richtig Angst um ihre Kinder. Das war bei einem Unwetter. Der Strom fiel aus, und sie wusste, jetzt gerade hängen die Kinder in der Gondel fest, die auf dem Weg ins Tal war. «Das war so schlimm. Ich malte mir alles Verrückte aus, was passieren könnte», sagt sie. Die Kinder aber fanden es sehr spannend. Und sie hofften, dass die Schule schon mal ohne sie anfängt. Eine Viertelstunde später hatte Seilbahnbetreiber Fritz Kammermann das Notstromaggregat in Betrieb genommen.
Linus‘ Schwester Carolin erzählt, dass es damals in der Kindergruppe eine klare Hierarchie gab. Jedenfalls, was die Bedienung des Telefons und der Kurbel in der Gondel betraf: «Das durfte nur das jeweils älteste Kind. Als ich dann dran war, fand ich das super toll.» Sie lacht. Die Kinder leben gern auf diesem Berg. Langweilig ist ihnen nicht. Wenn Carolin erwachsen ist, möchte sie auch in den Bergen leben, mit vielen Tieren. Julia wohl eher nicht. Und Linus will mal Bauer werden. Oder Schreiner. Oder beides.
Was für viele Leute ein Abenteuer der besonderen Art ist, ist für drei Kinder aus Frutigen (BE) ganz normaler Alltag. Der Schulweg von Nils (11), Mia (9) und Fabia (7) Wäfler führt über die Hängebrücke Hohstalden. Die ist mit 153 Metern eine der längsten Hängebrücken Europas. Der Weg, den die Kinder täglich gehen, ist für Flachländer denn auch eine Herausforderung, Schwindelfreiheit ist von Vorteil. Durch die 60 Zentimeter breiten Boden-Gitterroste und den Maschendrahtzaun links und rechts schaut man fast 40 Meter in die Tiefe, auf Felsen, dicke Steinbrocken und den rauschenden Bergbach Engstlige. Und manchmal, bei Unwetter, wird aus dem Rauschen ein wildes Getöse. Dann reisst die Engstlige Baumstämme und Geröll mit, die Bäume rechts und links biegen sich im Sturmwind.
Aber auch wenn es völlig windstill ist, wackelt die Brücke beim Drüberlaufen zünftig. Hängebrückenfeeling nennt es Karin Wäfler, die Mutter. Vera, das jüngste Kind, ist vier Jahre alt, und geht voraussichtlich 2017 in den Kindergarten. Sie freut sich schon, wenn sie mit ihren Geschwistern den Weg laufen kann, sagt sie. Und packt für das Foto schon mal ihr Köfferchen.
Eine Stunde unterwegs
«Nein, gefährlich ist das nicht, unsere Brücke ist ja auch richtig gut gebaut», sagen die Kinder. «Nur manchmal, wenn es im Winter am Morgen noch dunkel ist, dann ist es ein wenig unheimlich», sagt Fabia Wäfler. Nils hingegen, der den Weg manchmal alleine geht, wenn die Schwestern später Schule haben, findets erst dann richtig «cool». Mia erklärt in breitestem Oberländer Dialekt: «Wenn es Schnee drauf hat und rutschig ist und wir rennen, dann fällt manchmal einer um, das tut schon weh. Fabia hatte mal ein Loch im Kopf und musste das dann nähen, beim Doktor.» Runterschauen, wenn der Bach tobt, das ist richtig spannend, finden die Kinder. Und manchmal, wenn es stürmt und kräftig wackelt, dann legen sie sich mitten auf der Brücke auf den Bauch. «Das kribbelt dann so schön, das ist lustig», sagt Mia.
«Wir haben die Kinder von klein auf an die Brücke gewöhnt. Sie klettern da ja auch nicht rum, sie wissen, dass das gefährlich ist», sagt die 37-jährige Karin Wäfler. Wirklich gefährlich findet die Mutter eher, dass ihre Kinder mit dem Schulbus, der auf der anderen Seite der Brücke hält, 40 Minuten lang durch enge Bergsträsschen kurven müssen. Vor allem im Winter, wenn die Strassen verschneit und glatt sind. Ungefähr 40 Kinder werden von drei Schulbussen eingesammelt, in all den verstreuten «Spissen», wie man im Berner Oberland sagt und damit die bewohnten Bergrücken der Niesenkette meint. Kommen sie im Schulhaus Rinderwald an, waren die Kinder oft bis zu einer Stunde unterwegs. Ab der siebten Klasse ist Schluss mit Schulbus. Ab da müssen die Kinder auf eigene Faust in die Schule kommen. Nils wird dann den Linienbus nehmen bis zum Hohensteg in Achseten. Von dort aus wird er 20 Minuten zu Fuss den Berg rauf steigen zum Schulhaus Rinderwald, wo die Kinder vom Kindergarten bis zur neunten Klasse unterrichtet werden. Und obwohl der Weg anstrengender wird, freut sich Nils darauf.




Das Haus der Wäflers steht zuhinterst am Schützenweg auf 900 Metern über Meer, abgeschieden, zwischen steilen Hügeln und hohen Bergen am Rande der Schlucht. Seit die Hängebrücke zur Touristenattraktion geworden ist, betreibt die Familie das «Hängebrügg-Beizli», direkt beim Eingang der Brücke. Der ehemalige Innendekorateur und Pflegefachmann und die Lehrerin können heute von dem Restaurantbetrieb leben.
Aber: Warum zieht man überhaupt an einen solchen Ort, weit weg von der Zivilisation? Karin Wäfler erzählt, dass ihr Mann Martin im Alter von 22 Jahren die Liegenschaft kaufte, «mehr Wellblechhütte als Haus». Seine Kollegen sagten, «Tinu, jetzt findest du nie mehr eine Frau». Sie lacht. Martin Wäfler hatte das Haus renoviert und die Seklehrerin hat sich «von Anfang an hier wohl gefühlt».
Brückenbau für die Kinder
Damals gab es über die Schlucht eine uralte Holzbrücke, morsch, wacklig, gefährlich, nur auf zwei Stützen gebaut. Als Nils zur Welt kam, war für das Ehepaar klar, dass sie ihren Kindern diesen gefährlichen Schulweg nicht würden zumuten können. Die Alternative, ein rund 30-minütiger Fussmarsch bis zur nächsten Brücke durch die Schlucht, entlang von Felsen mit drohendem Steinschlag, kam ebenfalls nicht infrage. Andere Leute hätten sich jetzt wohl überlegt, wegzuziehen. Die Wäflers begannen, eine Hängebrücke zu planen. 75 000 Franken kostete das Projekt. Nach entsprechenden Zeitungsartikeln haben sie eine Welle der Solidarität erlebt. Letztendlich finanzierten sie das Projekt mit verschiedenen Sponsoren, privaten Geldgebern, dem Berner Oberland Tourismus und einem Kulturprozent. Das Paar investierte 400 Arbeitsstunden. «Wir haben Bäume gefällt, Verankerungen gebaut, Löcher gegraben für das Fundament, Stützen einbetoniert, Gitter montiert», erzählt der 42-jährige Martin Wäfler. Und sie mussten sich mit Behörden rumschlagen, mit der Gemeinde Frutigen, die sich weigert, für Haftung und Unterhalt aufzukommen. «Wir sind wohl politisch nicht auf der richtigen Linie und für manche Leute zu unkonventionell. Da spielt viel Neid mit», sagen sie.
Zwei Tage nach Nils’ erstem Geburtstag war die Brücke fertig. Den Unterhalt finanzieren sie heute zum Teil mit einem Kässeli an beiden Eingängen zur Brücke. Besucher, die nur die Brücke nutzen und nicht ins Beizli einkehren, bezahlen einen Franken. Die wahrscheinlich grösste Genugtuung für die Wäflers war der Innovationspreis der Volkswirtschaft Berner Oberland, den sie 2014 für ihr Projekt verliehen bekommen haben. Die Kinder lieben ihre Brücke. Ins Dorf ziehen? Das wäre keine gute Idee, findet Nils. Und schnappt sich das Funkgerät, um mit seinem Freund auf einem gegenüberliegenden Berg zu funken, wie jeden Abend, um 17.30 Uhr.
Die Stunden der Seilbahn Schwändi–Oberlänggrat in Romoos scheinen gezählt. Die Gemeinde hat am 2. 12. 2016 beschlossen, den Seilbahnbetrieb voraussichtlich im Sommer 2017 einzustellen. Viele Menschen in Romoos, darunter auch die Familie des 10-jährigen Linus Vogel, den wir in unserer Reportage begleitet haben, bedauern diesen Entscheid.