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Monatsgespräch
«Nicht jede Lüge ist ein ethischer Notfall»
Von Kristina Reiss
Wann können Kinder zwischen Gut und Böse unterscheiden? Wann lernen sie Mitgefühl? Hartmut Kasten, Münchner Entwicklungspsychologe, Frühpädagoge und Familienforscher über die Entwicklung der Moral.
wir eltern: Herr Kasten, der Vierjährige hat die Lieblingspuppe seiner Schwester angemalt, behauptet aber steif und fest: «Ich wars nicht, ich schwörs.» Die Achtjährige steckt herumliegendes Wechselgeld ein und besteht ebenfalls darauf, es nicht gewesen zu sein. Müssen sich die Eltern Sorgen machen?
Prof. Dr. Dr. Hartmut Kasten: Das ist normale kindliche Entwicklung. Allerdings lassen sich solche Einzelfälle ohne Detailwissen kaum beurteilen. Wichtig ist zum Beispiel: Was leben die Eltern vor? Schummeln diese öfter und nehmen es mit der Wahrheit nicht so genau? In erster Linie aber kommt es auf die geistig-kognitive Entwicklung des Kindes an.
Wie sieht diese genau aus?
Hier gibt es zwei Quantensprünge: Zum einen die Entdeckung des Ichs in der zweiten Hälfte des zweiten Lebensjahres und die damit einhergehenden Versuche, sich abzugrenzen. Zum anderen den Unterschied zwischen Sein und Schein, den Kinder im fünften und sechsten Lebensjahr verinnerlichen. Dies alles ist eng gekoppelt an den Hirnreifungsprozess, die Ausbildung des Denkbereichs.
Dann ist die beschriebene Verweigerung, eine Tat einzugestehen, beim Vierjährigen noch unter Fantasiegeschichte zu verbuchen, bei der Achtjährigen aber bereits als Lüge?
So würde ich das nicht formulieren. Es ist völlig normal, wenn eine Achtjährige mal vom Pfad der Tugend abweicht. Eltern sollten hier nicht jede Lüge als ethischen Notfall betrachten und überreagieren. Zwar ist die Hirnreife eine wichtige Voraussetzung für die moralische Entwicklung, gleichzeitig gibt es aber unendlich viele weiche Faktoren, die das Ganze beeinflussen. Diese sind je nach Kind und Familie völlig unterschiedlich. Bei Geschwistern etwa kann sich ein Moralgefühl schon viel früher entwickeln als beim Durchschnitt. Insbesondere bei Schwestern ist das gut zu beobachten.
Inwiefern?
Schwestern haben manchmal eine intime Vertrautheit und können sich gegenseitig in die Innenwelten blicken – was Aussenstehende gar nicht mitbekommen. Nicht umsonst hat ein französischer Psychologe mal gesagt: «Schwestern sind seelisch füreinander nackt.» Auch zwischen Männermoral und Frauenmoral gibt es grosse Unterschiede.
Tatsächlich?
Ja, die Moral von Männern ist an Recht und Ordnung orientiert, im Sinne von «mein Wille ist Gesetz». Frauenmoral wiederum baut eher auf Empathie. Dies macht sich auch bei Knaben und Mädchen bemerkbar. Auch gesellschaftliche Werte spielen in die Moralentwicklung hinein. Diese haben sich in den vergangenen Jahren bekanntlich erheblich gewandelt. Galten früher in der Familie ganz hohe Werte, sind wir heute auf dem besten Weg, zu einer Welt von Egomanen zu werden. Ebenfalls wichtig für die Moralentwicklung sind ausserdem Spiegelneuronen.
Das müssen Sie erklären.
Der kompetente Säugling wird geboren mit der Fähigkeit, nachzuahmen. Schon bei einem wenige Tage alten Baby lässt sich das beobachten. Schauen Sie dieses mit ausdrucksstarker Mimik an, werden Sie bemerken, dass der Säugling versucht, Sie nachzuahmen. Dieses Phänomen zeigt sich schon bei Primaten. Es ist eine wichtige Fähigkeit zur Ausbildung von Grundemotionen – die wiederum wichtig sind für eine Bindungsbereitschaft. Gibt es keinen emotionalen Resonanzboden, ist Gefahr im Verzug. Es droht Gefühlsverrohung, die moralische Entwicklung wird gebremst. Die Ursache dafür hängt mit ganz frühen Erfahrungen zusammen.
Vorbilder und Vorleben sind neben der Hirnreife also ausschlaggebend für die moralische Entwicklung?
die moralische Entwicklung? Ja, sehr ausschlaggebend sogar. Im ersten Lebensjahr – mindestens jedoch so lange, bis Kinder in die Kita kommen – sind Eltern für den Nachwuchs Gesetz. Ihr Nein und ihr Ja zählen, im Sinne einer einfachen Vermeidungsmoral: Das ist gut, das ist schlecht. Gleichzeitig sind Kinder Seismografen, die sehr genau spüren, wie Eltern Dinge handhaben – ob sie etwa Kompromisse finden oder wie sie Probleme lösen.

zVg
Prof. Dr. Dr. Hartmut Kasten (Jahrgang 1945) ist Entwicklungspsychologe, Frühpädagoge und Familienforscher. Er lehrt an der Ludwig-Maximilians-Universität München im Fachbereich Psychologie und Pädagogik und hat zahlreiche Bücher geschrieben. Kasten ist verheiratet, Vater einer erwachsenen Tochter und seit kurzem Opa. Er lebt in der Nähe von München.
Und wann lernen Kinder Mitgefühl?
Mit wachsender Entwicklung orientieren sich Kinder auch an anderen: So legen sie sich mit fünf, sechs Jahren eine dezentrierte Sicht zu und kalkulieren das Empfinden anderer mit ein.
Das Kind ist dann also zu Empathie fähig?
Zu reflexiver Empathie, ja. Irreflexive Empathie wiederum empfinden Kinder bereits von Anfang an. Dies zeigten schon frühe Beobachtungen in Waisenheimen: Fing in einem der riesigen Säle ein Säugling an zu schreien, folgten kurz darauf alle.
Wenn Kinder erst ab Vorschulalter zu reflexiver Empathie fähig sind: Sollten Eltern dann eingreifen, wenn sich jüngere Kinder im Sandkasten um Eimer und Schaufel streiten? Sozusagen als moralische Wegweiser und Vorbilder?
Nein, besser nicht. Geschwisterkinder haben ihr Trainingscamp zu Hause, lernen dort am besten und benötigen keine Hilfe. Nur wenn ein Kind stets unterliegt, sollten Eltern eingreifen – aber behutsam und nicht wertend. Ich mache mich hier klar zum Anwalt der Heranwachsenden. Diese sogenannten Helikoptereltern – verunsicherte Eltern der Mittel- und Oberschicht, die zu viele Ratgeber gelesen haben – sollten lieber auf ihr Bauchgefühl hören. Also bitte keine Ausstellung mit den ersten hingekrakelten Kopffüsslern des Kindes veranstalten. Damit nehmen Sie ihm bloss seine intrinsische Begeisterung, den «Flow», in seiner Welt aufzugehen. Und das wollen wir doch alle nicht.