Vaterzeit
Mit Baby in die Oper
Das späte Vaterglück mit 52 birgt für unseren Kolumnisten einige Tücken. Gewöhnt an ein Leben zwischen Konzert- und Restaurantbesuchen, kommt auch er auf die Welt.
Du gehst mit deinem zwei Monate alten Baby in die Mailänder Scala?», fragten die Freunde belustigt. «Ja klar», entgegnete ich, «da schreien ja sowieso alle.» Und nebenbei: Es geht nicht um irgendeinen Abend, wir sprechen von der Saisoneröffnung, wenn Mailand kopfsteht, die Parkettkarte 2500 Euro kostet. Seit 1991 bin ich an der Eröffnung ohne Unterbruch dabei: erst als Opernfan im Stehplatz, seit 1998 als Kritiker im Parkett. Der Abend reiht sich ein in meine 125 Opern-, Konzert- und Theaterabende pro Jahr. Dieses Leben, das so viele Jahre mein grosses Glück war, sollte mit 52 Jahren beziehungsweise mit der Geburt meiner Tochter nicht einfach fertig sein, finde ich. Aber wer weiss, vielleicht handeln die nächsten Kolumnen, die ich hier schreiben will, genau davon…
Fast zu spät zur Geburt
Aber bevor der Vorhang in Mailand aufgeht, muss ich etwas gestehen. Ich verpasste die Geburt meiner Tochter um ein Haar, dachte ich doch, dass ein Wochenende in Florenz einige Tage vor dem Geburtstermin noch drin liegen würde. Und so erwachte ich dann nach einem famosen Nachtessen mit leichtem Kopfweh an einem Samstagmorgen Ende September. Um 9.45 Uhr rief meine Partnerin Tea aus dem Spital an, wo sie eine – vermeintlich – letzte Routineuntersuchung hatte, und sagte leise, dass es eng werden könnte. Ich begann zu rechnen. Zu spät?
Um 10.40 Uhr stand ich mit gepackten Koffern am Bahnhof, fünf Minuten später kam die Entwarnung aus Zürich. Ich trank einen Caffè, fuhr zurück ins Hotel und sass alsbald gelöst mit meinem Freund Giacomo in der Trattoria Mario, wo wir schon als Studenten gegessen hatten. Ich fragte ihn beim zweiten Glas Wein, ob er Götti von meiner Tochter werden würde, und hatte wohl das erste Mal wegen ihr Tränen in den Augen.
Doch irgendetwas schien gegen die Heimkehr zu sein. Am Sonntag musste ich nämlich beinahe in Mailand bleiben, da ein Zugchaos den Sonntagabendverkehr lahmgelegt hatte. Mailand…Hierhin, würde, ja müsste Luules erste Reise gehen. Seit der Geburt von Luule Anfang Oktober war kein Gedanke mehr an Mailand möglich – vorerst.
Immerhin wagten Tea und ich, nur 21 Tage nach der Geburt ein erstes Konzert zu planen, versuchten, unser altes Leben dem völlig neuen aufzudrücken. Wie wir es damals mitsamt Luule und Grossmutter ins 19.05-Uhr-Tram schafften, weiss ich nicht mehr. Es gab wieder Tränen. Kurz vor 19.30 Uhr waren wir im Foyer. Aber was, wenn Luule nun zu schreien begonnen hätte? Hätte dann das Mami die Kleine mit ihrer Grossmutter und einem Fläschchen abgepumpter Milch, das unsere Tochter bis dahin immer abgelehnt hatte, alleine stehen lassen? Luule blieb still, Tea kam mit mir in den Saal, Beethovens 4. Klavierkonzert war grossartig, obwohl es gefühlt fünfmal so lang wie sonst dauerte. Noch ehe der Pianist die Zugabe anstimmen konnte, war Tea schon wieder bei Luule, alsbald im Tram und schliesslich zu Hause. Nach der Pause sass die Grossmutter auf ihrem Sitz.
Erste Reise mit 60 Tagen
Dann rückte die Scala-Saisoneröffnung näher. Oder soll ich zugeben, dass diese Reise nach 60 Tagen, die wir mit dem Bewundern unserer Tochter verbracht hatten, gerade recht kam? Und wer es geschafft hat, ein Passfoto eines einmonatigen Babys einzureichen, kann locker mit dem Zug nach Mailand fahren.
Die Nacht davor war nur bis 4 Uhr gut gewesen. Was solls, dachte ich: Als Student hatte ich für die Saisoneröffnung beim Warten auf die Stehplatzkarten auch schon mal zwei Nächte ohne ein richtiges Bett verbracht.
Ob ich zum Galadinner in den Palazzo kommen würde, hatte die Pressefrau zwei Tage vor der Premiere gefragt. «Klar, wie immer!», schrieb ich und löschte die Worte gleich wieder: Galadinner um 22 Uhr, um 1 Uhr angeheitert heimkommen, um 3.30 Uhr Windeln wechseln, um 7 Uhr Luule (unter) halten, um 9 Uhr beginnen, 7000 Zeichen zu schreiben? Alle Espressi Mailands zusammen würden nichts helfen.
Kaum war der Vorhang gefallen, hatte ich schon den Mantel an, kaufte alsbald im Laden ums Eck unseres Airbnb ein Pack Ravioli, 150 Gramm Culatello sowie eine Flasche Barbaresco, und schon sassen Luule, Tea und ich am Tischchen in der kleinen Küche. Es war das schönste Galadinner aller Zeiten. Die Kritik war um 18 Uhr online.