Vaterzeit
Mein Kind ist höchstens Durchschnitt
Luule erhält ihr erstes «Zeugnis» von der Kita und unser Kolumnist ist äusserst verunsichert.
Mir war vor Luules Geburt klar, dass mit Kindern heute alles etwas schneller gehen würde als damals in den 1970er- und 1980er-Jahren. Und völlig fern der modernen Kinderwelt war ich auch nicht, sah ich doch meine fünf Neffen bestimmt viermal im Jahr und besuchte mit meinem Göttikind Ende November jeweils die Kinderoper in Zürich. Das war immer grosses Kino: mal gab es ein Musical, mal einen Kinderopernklassiker wie Humperdincks «Hänsel und Gretel»: die Hexe als Horrorclown und das Sandmännchen ein Drogendealer, der weisses Pulver streute. Mein Göttikind nahm diese Regieeinfälle, die ich mit 30 noch nicht akzeptiert hatte, locker, war diese Bildsprache aus Netflix-Serien gewohnt. Und so durfte der Kleine dann jeweils fünf Sätze und seinen Namen in meine Zeitungskritik einfliessen lassen, erhielt gar ein kleines Honorar dafür. Ich hingegen musste 24 Jahre alt werden, um meinen Namen erstmals in der Autorenzeile zu lesen.
Mir war also bewusst, dass heute, und somit auch in Luules Leben, alles früher eintreten würde. Aber darauf, dass Luule mit ihren 13 ½ Monaten bereits ihr erstes Zeugnis vorgehalten bekäme, war ich nicht gefasst. «Elterngespräch» hatte die Vorladung der (wunderbaren) Kita geheissen. Und wir führten auch ein nettes Gespräch, aber am Ende hielt ich den «Entwicklungsbericht» in der Hand, was ja nichts anderes als ein Zeugnis ist. Luules Mami war stolz darauf, sagte mir : «Luule kann alles ! ». Ich hingegen erkannte, dass mein letztes Zeugnis ein HR-Elaborat voller Schalmaienklänge war gegen den knallharten Bericht, den Luule erhalten hatte. Jeder weiss doch, wie verklausuliert diese Schreiben sind: Wenn da keine Superlative stehen, kann man sich gleich beim Arbeitsamt melden.
Nur altersentsprechend?
«Luule nutzt in gleicher Weise ihre Hände wie auch ihren Mund, um Dinge zu untersuchen» hiess es zu Beginn unter dem Titel «Motorik». Gut, dachte ich, und kam sogleich ins Grübeln : Sollte sie mit einem Jahr nicht bereits viel öfters die Hände als den Mund brauchen, um Dinge zu untersuchen? Dass etwas mit ihr nicht stimmen konnte – sprich : dass ihr Zeugnis schlecht war – wurde mir im Folgesatz klar: «Das Kopfheben in Bauchlage oder das Fussstossen gegen Druck fallen Luule nicht schwer », stand da. Warum stand da nicht «ist für Luule ein Kinderspiel»? Mit «nicht schwer » wollte die Kita-Leiterin doch nichts anders sagen als : «Es fällt ihr schwer». Weiter unten bei «Kognition/Sozialverhalten» stand : «Luule ist freudig erregt, wenn sich jemand mit ihr beschäftigt.» Hier stach mir das «mit ihr beschäftigt» ins Auge: Beschäftigt sich niemand mit ihr, krabbelt sie folglich in eine Ecke, und gibt sich dort der Melancholie hin, starrt die farbige Kita-Wand an und entwickelt eine Freude an der Traurigkeit. Und die Sätze «Luule schaut sich gerne Bilderbücher mit einer Bezugsperson an, die für sie die Buchseiten umblättert» und «Luule zeigt kein Interesse daran, sich mit Papier und Stiften auseinanderzusetzen» heisst : Sie braucht dauernd Hilfe.
Das Fazit des mehr als eine A4-Seite füllenden Berichtes war dann erwartungsgemäss vernichtend : «Luule ist in allen Bereichen altersentsprechend entwickelt.» «Altersentsprechend»! Welch schöner Euphemismus, um zu sagen, dass sie Durchschnitt ist, ja: mit allem hintendrein. Und als ich mir vornahm, am nächsten Tag mit der Kitaleitung das Gespräch zu suchen und über das miserable Zeugnis zu sprechen, wollte ich nochmals auf den Entwicklungsbericht schauen. Doch Luule hatte ihn vom Esstisch geklaut und irgendwo versteckt. Auf die Frage, wo sie das Blatt versteckt habe, antwortet mit einem «Dada» und lächelte verschmitzt. Ich schaue über den Boden und sah: Sie hat den Entwicklungsbericht bereits mit einem Stift überarbeitet. Ich war stolz und deutete ihn komplett neu.