Gesellschaft / Primarschule
Lehrermangel auf der Primarstufe
Von Text Manuela von Ah / Fotos Holger Salach
Immer weniger Männer haben Lust, im Klassenzimmer zu stehen. Warum eigentlich? Und wie lassen sich wieder mehr Lehrer an die Primarschule holen?
Der Verein «Männer an die Primarschule» (MaP) setzt sich mit einer noch bis 2018 dauernden Kampagne mit verschiedenen Massnahmen für mehr Lehrer in der Grund- und Mittelstufe ein. Interessierte Einsteiger oder Quereinsteiger finden detaillierte Infos unter: ➺ www.maenner-an-die-primarschule.ch ➺ www.umstieg-lehrberuf.ch
Noch plappern und zappeln die Kinder, hüpfen wie kleine Sprungfedern auf und ab von den niedrigen Bänken im Kreis vorne an der Wandtafel. Erst als sich Marc Haring (30) dazusetzt, wirds still im Klassenzimmer. Nein, kein autoritäres Zack zack besänftigt die Drittklässler, sondern ein Mann mit der Ruhe eines Mönchs, der eben noch meditiert hat. Marc Haring, heute in Jeans und grasgrünem Pulli, motiviert, lobt und tadelt als Lehrer seine Schützlinge und führt als Schulleiter die Primarschule in Allenwinden (ZG). Er ist der einzige Mann im Schulhaus. Und damit so etwas wie eine rare Spezies im Schulalltag der jungen Schülerinnen und Schüler. Mitte der 1960er-Jahre wurde noch weit über die Hälfte der Schulhefte von männlichen Lehrkräften korrigiert, heute unterrichten an den Primarschulen nur knapp 18 Prozent Männer. Und je jünger die Kinder, desto weniger mögen sich männliche Pädagogen um Singen, Schuhbinden und Sozialkompetenz kümmern: Im Kindergarten liegt der Männeranteil bei vier Prozent.
Lehrer gehen in Pension
Dass den Buben – und Mädchen! – beim Aufwachsen männliche Vorbilder fehlen, ist mittlerweile eine Binsenwahrheit. Die Scheidungsrate von über 40 Prozent führt zu Einelternfamilien, bei denen – trotz gemeinsamem Sorgerecht – meist noch immer die Mutter die Kleinen betreut. In den Krippen sind Männer rar wie Breitmaulnashörner und in der Schule begegnen Kinder oft erst in der Oberstufe männlichem Lehrpersonal. Die Tendenz hin zur männerlosen Kindheit könnte sich noch verschärfen. Denn gemäss einer Hochrechnung des Schweizerischen Lehrerverbands (LCH) werden in den nächsten Jahren viele männliche Primarlehrpersonen in Pension gehen. Tschüss Herr Lehrer, wird es dann heissen, oft endgültig.
Kerle auf der Karriereleiter
Dieser betrüblichen Entwicklung stemmt sich der Verein «Männer an die Primarschule MaP» entgegen. Beat Ramseier ist sozusagen die Galionsfigur der Kampagne. Jetzt sitzt der Koordinationsstellenleiter MaP in einem nüchternen Sitzungszimmer der Fachstelle für Jungen- und Mädchenpädagogik jumpps Fachstelle für Jungen- und Mädchenpädagogik jumpps in Zürich – und könnte wohl aus dem Stegreif ein Buch mit dem Titel «Flucht aus dem Lehrerberuf» verfassen. Denn seit gut 13 Jahren verfolgt Ramseier mit, wie die Männer die Schulen je länger desto williger den Frauen überlassen. «Die Möglichkeit, Teilzeit zu arbeiten, hat dazu beigetragen, dass immer mehr Frauen den Lehrberuf wählten», erklärt Beat Ramseier. «In der Folge wurde das Lehrerdasein – und die Pädagogik überhaupt – zunehmend den Frauen zugeschrieben.» Eine Abwärtsspirale mit Wechselwirkung. Er sei zwar kein Freund dieser These – womöglich sei aber doch etwas dran, denn: «Wird ein Beruf zum Frauenberuf, sinkt das Ansehen in der Bevölkerung.» Wo keine Karriereleiter, da keine Kerle? Das stimmt so nicht ganz. Bei Marc Haring jedenfalls wäre es verfehlt zu behaupten, der Aufstiegswille hätte für ihn keine Rolle gespielt. Immerhin war sein erster Berufswunsch «wie die Leute vom Fernsehen» als Meteorologe hoch oben auf einem Dach zu stehen und das Wetter zu präsentieren. «Jetzt präsentiere ich halt Buchstaben!», sagt der junge Lehrer. Dass der Lehrberuf karrieremässig in die Sackgasse führt, ist sowieso Schnee von gestern. Mittlerweile gibt es unzählige Weiterbildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten. Stossend ist jedoch, dass noch immer nicht alle Schulstufen gleich entlohnt werden. Das alte Klischee, eine «Häfelitante» würde halt weniger Verantwortung tragen als ein Ober stufenlehrer, scheint in Schiefertafeln gekratzt. Welcher Mann will schon zum schlechtbezahlten «Häfelionkel» werden? Das Vorurteil, als Lehrer nicht in solide Lohnklassen aufsteigen zu können, ist das eine, was Nachwuchs vergrault. Männer zögern aber auch deshalb, in einen pädagogischen Beruf einzusteigen, weil sie sich zuweilen dem Generalverdacht des sexuellen Übergriffs ausgesetzt sehen. Wo eine Lehrerin ein weinendes Kind bedenkenlos umarmt und tröstet, wird einem Lehrer schnell Ungebührliches unterstellt. In der Ausbildung steht die Thematik deshalb gross auf der Agenda. In der Fachdidaktik Sport etwa lernen angehende Lehrer und Lehrerinnen, wie Stützgriffe oder Hilfestellungen aussehen sollen, ohne auch nur im Entferntesten als übergriffig gewertet werden zu können. Im Klassenzimmer wiederum hätten Kindergartenkinder und Erstklässler manchmal den Impuls, der Lehrerin oder dem Lehrer auf den Schoss zu klettern – genau, wie sie es zu Hause bei Papa und Mama auch tun, sagt Marc Haring. «Die Kinder lernen aber schnell, dass wir Lehrpersonen eine andere Rolle innehaben als die Eltern.»
Vorurteile in den Köpfen
Mittlerweile wünschen sich Gesellschaft, Eltern und Kinder explizit wieder mehr Männer in die Schulstuben. Flankiert wird dieser Wunsch von der Gleichstellungsforschung. Diese weist nach, dass durchmischte Teams kreativer und innovativer arbeiten. Statt Zickenkrieg und Gockel kampf ein konstruktives Miteinander der Geschlechter. Wie also lotst man männliche Lehrpersonen zurück an die Primarschulen? Indem junge Männer unkompliziert «Schulluft» schnuppern können. Um nicht den bürokratischen Hürdenlauf über die pädagogischen Hochschulen nehmen zu müssen, vermittelt der Verein «Männer an die Primarschule» engagierte Lehrer, deren Begeisterung sich im besten Fall auf die potenziell Ausbildungsinteressierten übertragen soll. Zudem möchte die Kampagne Quereinsteiger abholen; Väter etwa, die sich nach einem Beruf umsehen, der sich besser mit einer Familie vereinbaren lässt. Der Verein MaP berät denn auch sogenannte Umsteiger bei Fragen wie: «Welche Vorbildung muss ich für einen Quereinstieg haben?», «Wie finanziere ich das Studium?» oder «Welche Weiterbildungen sind möglich?» Von den Imagekampagnen wurde zwar Abschied genommen, denn die Werbefilme in den Kinos funktionieren nicht wirklich. Von den Schnupperkursen jedoch wird rege Gebrauch gemacht. Die Studentenquote an der Pädagogischen Hochschule Zürich stieg immerhin von 19 Prozent im Jahre 2015 auf 21 Prozent im 2016. Euphorisch ist Beat Ramseier deswegen nicht: «Bis die Kampagne greift, könnte es schon noch eine Generation lang dauern.» Nicht zuletzt, weil Voreingenommenheiten auch tief in den Köpfen stecken. Letzthin, erzählt Beat Ramseier, habe ihm ein älterer Herr anerkennend auf die Schulter geklopft: «Gut setzt ihr euch für Männer an der Primarschule ein – es muss doch wieder einmal einer sagen, was Sache ist.»
Ein bisschen Exot
«Quatsch!», meint Beat Ramseier. Niemand will den Rohrstock zurück ins Klassenzimmer holen, und es ist nicht das Klischee des harten Kerls gefragt, der den Kindern zeigen soll, «wo der Bartli den Most holt». Erwünscht sind normale, einfühlsame und in ihrem Charakter unterschiedliche Männer. «Erst so können sich die Kinder – Jungen und Mädchen – vielfältig spiegeln und auseinandersetzen», sagt Beat Ramseier. Männer würden nicht besser umgehen mit schwierigen Kindern – aber anders. Denn sie wissen aus eigener Erfahrung, dass kämpfen auf dem Pausenplatz manchmal einfach zum Bubsein gehört – und des wegen nicht gleich ein Behördenapparat aufgefahren werden muss. «Grundsätzlich aber», sagt Beat Ramseier, «brauchts die Besten – egal welchen Geschlechts!» Und wie ergeht es Marc Haring, dem einzigen Lehrer an der Primarschule in Allenwinden? Pfeilt er als Superman durch die Gänge, bewundert und gefürchtet? Mitnichten: «In den ersten Tagen war ich vielleicht noch ein bisschen der Exot – danach einfach ein Mensch.»
Ihn muss auch keine Kampagne mehr überzeugen - er hat seinen Traumjob gefunden. Denn wo gibt es mehr Gestaltungsmöglichkeiten als in einem Klassenzimmer? Was ist sinnstiftender, als die Kinder während dieser wichtigen Lebensphase zu begleiten? Eben.
Zudem ist es definitiv trockener, als Lehrer im Schulzimmer zu stehen denn als Wetterfrosch auf dem Hausdach.
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