Ist es zu verantworten, dass Kinder weniger Freizeit haben als Erwachsene? Eine Frage, die sich bei einem Blick auf einen ganz normalen Schüler-Alltag aufdrängt.
Lea ist 14. Im März wird sie 15. Schmal, grosse blaue Augen. Nur morgens sind sie klein. Um 6 Uhr, draussen ist es noch dunkel, klingelt der Wecker der Gymnasiastin. Raus aus dem Bett. Bis sie das wiedersieht, dauert es lange. Dazwischen liegt eine Menge Tag: mit etwas Spass – und viel Stress. Auf über 50 Stunden Arbeit pro Woche, 38 davon Unterricht, kommt die blonde Schülerin aus dem Zürcher Säuliamt. Nicht nur sie. Denn die neue Form von Kinderarbeit hat eine ganze Generation im Griff. Ein Tag in Leas Leben. Oder in Majas, Leonies, Lukas’ ...
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6.00
Wecker: Lea zieht die Decke über den Kopf.
6.05
Leas Mutter steht im Zimmer. «Aufstehen, Süsse! Hilft alles nichts!» Licht an. Ätzend. In einer Stunde geht der Bus. Lea hat Glück, ihre Klassenkameradin, die zwei Dörfer weiter wohnt, nimmt den gleichen Bus. Allerdings muss die vorher noch umsteigen.
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6.30
Lea nagt am Brot. Hunger hat sie keinen. Viel zu früh. Nur weil ihre Mutter wieder rumstresst, isst sie ihr zuliebe zwei Bissen. Tasche, Handy, Kopfhörer. Mist, wo sind die Kopfhörer? «Ich drück dir für Franz die Daumen», ruft ihre Mutter. Französisch ist eine der 27 Prüfungen, die Lea bis Ende Januar schreiben wird. Mit Verabreden war deshalb – und weil sie kurz bei Papa im Nachbarort vorbeischauen wollte – am Wochenende wieder nix. Dämliches Passé composé. Aus Frust hat sich Lea Sonntag heimlich die Haarspitzen pink gefärbt. Vorübergehende Schnappatmung der Mutter.
62 Prozent der Jugendlichen fühlen sich tagsüber nicht ausgeruht und leistungsfähig. Jeder 5. hatte in den letzten zwölf Monaten Schlafprobleme.
Dillenburger Institut für Gesundheitsforschung
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7.15
Der Bus ist wie jeden Morgen proppenvoll. Viele Krawattenträger auf dem Weg zur Arbeit. Im Stehen nochmal kurz Deutsch durchzulesen, kann Lea vergessen. Gut, dass es im Bus WLAN gibt. Schnell schickt sie ein Selfie von den pinken Haaren an ihre Freundin Svenja. Antwort: «So cool :-)»
7.50
Die Franz-Prüfung läuft so lala. Hoffentlich reichts. «6 von euch werden im Februar nicht mehr da sein», hat die neue Klassenlehrerin gleich in der ersten Woche gesagt. Etwa ein Viertel übersteht erfahrungsgemäss die Probezeit nicht. Manchmal geht Lea nachts in Gedanken die Reihen ihrer Klassenkameraden durch. Wer wird rausfallen? Was, wenn sie selbst dazugehört? Eine Lehrstelle suchen? Oder es nächstes Jahr wieder probieren oder was? Bloss nicht dran denken …
Jeder vierte Schüler leidet unter starken Ängsten vor schlechten Noten
Leuphana Universität Lüneburg:
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13.15
Mittagspause. Mama sagt, sie solle in der Mensa etwas Vernünftiges essen. Aber wer tut das schon? Meist holt Lea sich mit ein paar anderen etwas beim Brezelkönig oder ein Muffin bei Starbucks. Schnell essen und die restliche Zeit für Italienisch-Vocis und Geografie von Jessica abschreiben nutzen. Jessica hat immer alles. Ausser Humor.
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16.45
Schulschluss. Fünf der zwölf Fächer gehabt; alle harten. Draussen ist es wieder dunkel.
17.45
Beinahe zuhause. Im Bus sitzen die gleichen Krawattenträger wie am Morgen. Nur grauer. Die haben es gut. Wahrscheinlich legen die jetzt die Krawatte ab und die Füsse hoch. Auf Lea dagegen wartet eine Personenbeschreibung in Englisch, Stammbaum Zeichnen für Geschichte, und – leider – Mathe. Dazwischen schnell Nachtessen mit Mama. Warum muss die nur immer so viel fragen? Wie war’s? Was habt ihr gemacht? Wie lief Französisch? Gigantomanische Nerverei! Leas Zimmertür knallt. Etwas fester als beabsichtigt. Schnell saust Lea ins Wohnzimmer und küsst ihre Mutter. Ist ja eigentlich nicht so übel, die alte Dame. Deshalb erzählt Lea auch, welchen Witz Luc in der Klasse gemacht hat und wie die Lehrerin daraufhin … Huch, beinahe verplaudert. Jetzt schnell an den Schreibtisch!
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20.00
Englisch fertig. Englisch ist cool. Aber Mathe, Mathe, Mathe!! Das Handy piept. Klassenchat «is englisch-Uffzgi uf morge??» Leas Mutter zieht bis nach den Hausaufgaben das Handy ein. Eltern!
Eine kanadische Studie ergab: Probanden mit Freunden fühlen sich weniger gestresst und gesünder als welche ohne. Ihr Wohlbefinden blieb dann hoch, wenn sie ihre Freunde persönlich trafen und nicht nur mit ihnen chatteten.
«Der Spiegel», 24.Februar 2014
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21.00
Jetzt noch der Stammbaum … Lea gähnt. Zum Glück malt sie ganz gern. Früher kam sie um diese Zeit von der Leichtathletik zurück. Aber dienstags und donnerstags Training, Wettkampf, Schule, das passt nicht alles in eine Woche. Den Sport hat sie aufgegeben. Auch das Gitarre spielen. Der Gitarren-Lehrer war wütend, weil Lea nie geübt hat. Aber wann, bitteschön? Irgendwie schade. In der Zeitung hat Lea gelesen, dass irgendein Lehrer gesagt hat, wer neben der Schule keine Zeit für Hobbys habe, der sei auf der falschen Schulstufe. Wie verlogen ist das denn! Dabei muss der doch wissen, dass das nur für die Megabrains zu schaffen ist. Lea will aber nicht von der Schule. Sie will Primarlehrerin werden. Vielleicht auch Kinderärztin. Apropos: Was waren noch mal Eukaryoten? Hat die Bio-Lehrerin doch lang und breit erklärt …
Eltern sprechen pro Tag nur 10 bis 12 Minuten mit ihren Kindern.
Christoph Meinecke Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin
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22.00
Leas Mutter kommt rein. «Ab ins Bett! Hast du noch in eurem Roman für Deutsch weitergelesen?» Ja, wann denn das noch? Vielleicht morgen im Bus. Ach, und morgen ist Mathenachhilfe. Nach der Schule durchfahren, abends wird es dann wohl acht, bis sie zuhause ist. Schöner Mist, aber Mathe ist Leas Horrorfach. Mama steht immer noch im Zimmer, hoffentlich kommt jetzt kein Problemgespräch der Machart «Du bist so blass. Wie geht es dir, mein Schatz?». Da fühlt man sich ja wie auf der Psychocouch. Uffz, diesmal nicht. Und zum Glück hat sie vergessen, das Handy mit aus dem Zimmer zu nehmen.
13-Jährige arbeiten im Schnitt fast 44 Wochenstunden in der und für die Schule und ältere Kinder mehr als 45 Stunden.
Studie der Unicef
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22.45
Lea liegt im Bett. Eben hat sie eine SMS ihrer Freundin Svenja beantwortet. «nei, morn gaht nöd. Mues lerne … :-(. I de Ferie?» «Gaht nöd :-( :-(» , hat Svenja zurückgeschrieben. «Mues in es Englisch-Sprachlager. Mis Mami stresst». Lea lacht. Eltern sind doch alle gleich. Gerne würde sie jetzt noch eine Folge ihrer Lieblingsserie «Gilmore Girls» gucken. Aber dann gibts nur Ärger. Ach du Heiliger, war noch was für Informatik auf? Lea kann nicht einschlafen. Obwohl sie müde ist. Was, wenn sie rausfällt? Was, wenn sie morgen dran kommt und keine Ahnung von der Photosynthese hat? Lea steht nochmal auf und notiert auf einem Post-It: Chemie-Test vorgezogen! Clearasil leer! Mama erinnern: Brille unscharf geworden. (Augenärztin? Mist, noch ein Termin!) Mara Geburtstags-SMS schicken. Die hat in der Sek im Augenblick auch üblen Stress, die Mara: für die FMS-Aufnahmeprüfung lernen, schnuppern, bewerben falls die Prüfung daneben geht, Samstag in die Stadt für diesen Multi-Check ... Und dann hat der Freund Schluss gemacht. Begründung: keine Zeit. Wär schön, sich mal wieder mit Mara zu treffen. Aber wann?
Die Vertragsstaaten erkennen das Recht des Kindes auf Ruhe und Freizeit an, auf Spiel und altersgemässe Erholung.
Kinderrechtskonvention der UNO Artikel 31
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23.30
Lea schläft. Im Schlaf sieht sie aus wie ein kleines Mädchen.
10,5 Stunden Schlaf brauchen 10- bis 11-jährige Kinder, 10 Stunden Schlaf brauchen 12- bis 13-jährige Kinder, 9 Stunden 14- bis 16-jährige.
www.familienhandbuch.de
Interview
«Der Spass fehlt oft»
Gefragt: Dagmar Pauli, Chefärztin des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes, Zürich.
wir eltern: Frau Pauli, was ist von den Klagen über Schülerstress und Überlastung zu halten? Wieder nur Medien-Wind und hyperventilierende Eltern?
Dagmar Pauli: Viele vermeintliche Probleme werden von den Medien hochstilisiert. In diesem Fall handelt es sich aber meiner Meinung nach um eine tatsächlich äusserst bedenkliche Entwicklung. Geschätzt bei rund einem Drittel unserer Patienten spielt der Schulstress eine erhebliche Rolle, die Zahl der Jugendlichen mit Erschöpfungsdepression ist hoch. Die Schweiz zählt – mit Japan – zu den wohlhabenden Ländern mit den höchsten Raten an Jugend-Suiziden: Man sollte über einige Aspekte des eher elitären Schweizer Schulsystems nachdenken.
Jetzt gibt es sicherlich Stimmen, die zum Stress sagen «ist er zu stark, bist du zu schwach».
Kinder verkraften eine Menge, ja. Die meisten haben Mechanismen entwickelt, Druck und Stress zu handhaben. Damit das auch auf die Dauer klappt, sind Phasen der Erholung ganz wichtig. Ich beobachte oft, dass vielen die Zeit zum «Chillen» fehlt, Zeit, sich mit gutem Gewissen zu erholen. Oft wird zudem das Familienleben vom Thema Schule überschattet, das Verhältnis zwischen Kindern und Eltern giftig. Meine persönliche Meinung: Die Stundenpläne sind zu voll.
Ist Lernen nicht besser als Rumhängen und Gamen?
Alles im Rahmen. Kinder und Jugendliche brauchen Zeit für ihre Peergroup, für Freunde. Sie müssen Entwicklungsprozesse proben: wie man miteinander umgeht, wie mit dem anderen Geschlecht … Sie brauchen Räume in ihrem Leben, in denen es mal nicht um Schule geht und die Chance, ein Selbstbild aufzubauen, das nicht nur aus Noten und Leistung gespeist wird.
Sich durchzubeissen und seine Aufgaben gewissenhaft zu erledigen, ist aber nicht unwichtig zu lernen …
Das ist richtig. Aber ich finde auch: Pflichterfüllung kann nicht das einzige Lebensziel sein. Die Freude am Leben darf nicht zu kurz kommen. Und eben dieser Spassfaktor fehlt bei heutigen Jugendlichen oft. Leider.