Konsum
Lieb und teuer
Von Text: Nicole Gutschalk / Illustrationen: Lucas Peters
Kinder sind uns lieb – und teuer. Ruinös teuer. Denn schaut man sich auf dem grassierenden Markt der Kinder-, Baby- und Schwangerschaftsindustrie um, befällt einen das Gefühl, dass wir Eltern selbst nicht mehr ganz bei Sinnen sind; für was unsereiner sein Geld verpulvert, es ist zum Verrücktwerden.
942 Franken pro Monat kostet ein Kind im Durchschnitt ein Schweizer
Paar. Hochgerechnet bis zum 18. Lebensjahr macht das über 200 000 Franken.
Einen Überblick über das uferlose – und teilweise äusserst fragwürdige – Sortiment bekommt man an Kindermessen im In-und Ausland. Egal ob in Paris, Amsterdam, Kopenhagen, Bern oder Zürich: An Messen drängen sich in den schmalen Gassen zwischen den Ausstellern auch eine grosse Anzahl Schwangerer und frischgebackener Erstlingseltern, die Kids festgezurrt in Buggies oder wacklig unterwegs auf stylischen Laufrädern. Dabei findet der schicke Stand mit den Wickeltaschen in Chanel-Optik genauso Beachtung wie der plüschig inszenierte mit den duftenden Babyölen, der reduziert gestaltete mit der Espressomaschine zur Milchschoppenzubereitung oder der futuristische mit WiFi-Babyphon und integrierter Nachtsicht-Kamera.
Baby-Yoga und Frühenglisch
Wer jetzt denkt, dass sich vieles davon nie im Leben verkauft – was man sich ja durchaus denken könnte bei Produkten wie dem sexy Spitzennegligé mit Abpumpaufsätzen (wer bitteschön will beim Abpumpen sexy aussehen?) oder dem Baby-Löffel mit integriertem Breidispenser. Wer also glaubt, dass diese Objekte unangetastet in den Regalen ihr staubiges Dasein fristen, irrt. Wir Schweizer haben noch nie so viel Geld für unsere Kinder ausgegeben wie heute. Laut Bundesamt für Statistik 942 Franken pro Kind und Monat. Ein Teil davon geht natürlich drauf für Notwendiges wie Essen, Wohnen, Gesundheit. Klar. Ein schönes Stück vom Kuchen buttern wir aber auch in Dinge, die man bestenfalls als Nice-to-Haves bezeichnen darf: Baby-Yoga, Frühenglisch, Medizinal-Nuggi oder Furby Boom.
Busenstraffer und Leasing
Was treibt uns Eltern eigentlich an, immer tiefer in die Taschen zu greifen? Sind wir allesamt zu Helikoptervätern und Tigermüttern mutiert, die das «Projekt Kind» über alles stellen, und unsere 1,52 Kinder dermassen vergöttern, dass wir sie permanent fördern, bespielen und überwachen müssen? Und geht es uns dabei wirklich um das Wohl unserer Kinder? Oder vielleicht im Grunde doch um unser eigenes Glück, weil wir uns selbst misstrauen; als wären wir eine Bedrohung für unsere Kinder, wenn wir nicht das richtige Essen, die richtige Kleidung, den richtigen Kinderwagen kaufen. Natürlich wollen wir alles richtig machen. Schliesslich sind unsere Kinder längst zum Statussymbol geworden, unser Produkt für die Welt, an dessen Qualität wir als Eltern gemessen werden. Gibt es da welche, die sich freimütig als Versager outen möchten? Oder ihr Kind freiwillig zum Outsider abstempeln lassen, bereit zum Abschuss, weil es das Smartphone, das doch alle anderen längst haben, einfach nicht bekommt? Nein, das wollen wir nicht. Da verzichten wir lieber auf ein neues Paar Winterstiefel und lassen die alten dafür ein weiteres Mal besohlen.
So setzt man als Eltern Prioritäten. Die Kids bestimmen unser Konsumverhalten. Und dies schon, bevor sie überhaupt auf der Welt sind. Also kaufen wir Vitaminpräparate, Teekräuter, Antistreifenöle, Busenstraffer und gehen ins Schwangerschaftspilates und zu Hypnobirthingkursen – wer weiss, vielleicht bringts was.
Wir wollen auf Nummer sicher gehen. Von Anfang an. Unserem Nachwuchs nur das Beste bieten. Eine Erkenntnis, die sich Werber, Marketingabteilungen und PR-Agenturen längst zunutze gemacht haben. Laut einer deutschen Studie zielt ein Fünftel des gesamten Werbebudgets auf uns und unsere Kinder. Sei dies bei offensichtlichen Produkten wie Spielzeug, Süsswaren oder Gamekonsolen, aber auch in Sachen Urlaub oder Autos. So verbringen wir künftig also unsere Ferientage in Erlebnisresorts mit Riesenwasserrutschen und Hochseilparks statt im idyllischen Tessiner Rustico. Oder wir tauschen den stylischen, aber unpraktischen Saab 900 gegen eine langweilige, aber praktische Familiensänfte ein. Oder zumindest gegen einen neuen geräumigen Kombi. Auch wenn wir dafür einen Leasingvertrag unterschreiben müssen. Sicherheit geht vor.
Chancengleichheit
Wer versucht, gegen den Strom zu schwimmen, macht sich keine Freunde. «Waaas, euer Auto stammt aus den Neunzigern! Gab es da schon Airbags?» hört man die nachbarschaftlich organisierte Staatssicherheit anklagend von sich geben. Was einem bei flüchtigen Bekanntschaften vom Spielplatz natürlich schnurzpiepegal sein kann. Bei Freunden, die man schätzt, aber nicht. Der perfide Druck kommt von allen Seiten: «Haben eure Kids denn nichts dagegen, dass sie die Sportferien bei der Oma verbringen müssen?» Aber, hey, nein, sie finden es voll easy! Schliesslich kostet eine Woche Skiurlaub inklusive Material, Skitickets, Beherbergung in einer popligen Unterkunft, bei überteuerter Pistenverpflegung in Form labbriger Pommes und fettäugiger Spaghetti Bolos und dem obligaten Snowliland für eine vierköpfige Familie nur läppische 4000 Franken! Aber weil man als Familie der Mittelschicht nicht sein Gesicht verlieren will, sagt man das natürlich nicht. Man antwortet: «Ach, weisst du, wir gönnen uns dieses Jahr halt eine längere Auszeit in Thailand, da müssen wir mit unseren Ferientagen gut haushalten.» Auch wenn dieser Trip noch in den Sternen steht und sich der Traum spätestens nach Begleichung der Steuerrechnung mit Garantie in Luft auflösen wird. Oder aber man sagt knapp: «Ich war noch nie ein Wintersportmensch.» Was schon beinahe revolutionär wäre.
Klar, das alles ist Klagen auf sehr hohem Niveau. Denn wie müssen sich erst Alleinerziehende vorkommen? Die haben vielleicht andere Freunde; mag sein. Oder sie haben sich nach der Trennung einfach neue gesucht. Sich unter ihresgleichen begeben. Sind ja mittlerweile ganz viele, 100 000, um genau zu sein. Davon beziehen durchschnittlich 18,8 Prozent – meist Mütter – Gelder vom Sozialamt. Und just da, in der sozialen Ungleichheit, zeigt die Konsumgesellschaft ihre Fratze.
In der Schweiz leben zurzeit über eine Million Menschen unter der Armutsgrenze. Im Vergleich mit den Nachbarländern liegt das zwar im Rahmen. Aber letztlich sind es traurigerweise vor allem Haushalte mit Kindern, die von Armut am meisten betroffen sind. Laut aktuellen Zahlen der Caritas stammen 260 000 Kinder aus «ärmlichen» Verhältnissen. Spielt doch keine Rolle, mag man nun denken – schliesslich ist die Finanzkraft nur ein Faktor unter vielen, der über die Entwicklungschancen von Kindern entscheidet. Stimmt. Genauso wichtig sind stabile Beziehungen und ein Umfeld, das die Kreativität und die Entfaltung der Kinder fördert. Genau.
Leider spielt die Herkunft in Bezug auf Chancengleichheit laut Ökonomen trotzdem eine zentrale Rolle. So ermittelte der Wissenschaftler Daniel Schnitzlein vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) jüngst folgende Werte: Rund 40 Prozent unseres späteren Einkommens lässt sich statistisch mit unserer Herkunft erklären. Beim Bildungserfolg beträgt der Zusammenhang sogar rund 50 Prozent. Schnitzlein selbst kommt daher zum Schluss, dass in Deutschland «kaum Chancengleichheit besteht». Diese Sachlage wird in der Schweiz kaum anders sein. Machen wir uns also bitte nichts vor: Wie gut ein Kind lesen, rechnen oder schreiben lernt, hängt bereits in der Grundstufe von seiner Herkunft ab. Moralisch betrachtet ist das super verwerflich, aber als Mittelständler bezahlt man halt doch einen Nachhilfelehrer oder einen Kurs im Lernstudio, um den Sprösslingen keine Chancen zu verbauen. Nachvollziehbar.
raphaelfellmer.de
Buchtipp: Wer mehr über das Leben einer Familie erfahren möchte, die einen konsumfreien Weg eingeschlagen hat, dem empfehlen wir die Lektüre von Raphael Fellmers «Glücklich ohne Geld». Das Skript lässt sich auf www.raphaelfellmer.de/ kostenfrei runterladen.
Debatte ankurbeln
Was lässt sich also machen, wenn Geld, letztlich der Konsum, quasi per definitionem über die Zugehörigkeit in der Konsumgesellschaft entscheidet? Sollen wir als Eltern einfach mindestens ein Auge zudrücken und brav unser eigenes Familienförderprogramm weiterführen? Selber auf möglichst viel verzichten, damit es unseren Sprösslingen an nichts mangelt? Damit sie auf der Konsumwelle weit oben schwimmen können, während andere untergehen?
Oder sollten wir uns nicht anstatt nur darum zu sorgen, ob unser Baby auch wirklich im «Best»-Hochstühlchen sitzt oder unsere Vierjährige am ökologisch wertvollsten Müsliriegel knabbert, darum bemühen, auch mal gegen den Mainstream zu paddeln. Auch wenn wir dafür einen «Ausschluss» – welcher Art auch immer – riskieren. Wir könnten die Chancengleichheitsdebatte ankurbeln, politisch für Tagesschulen einstehen, um arbeitstätige Eltern, Alleinerziehende, aber auch Menschen mit Migrationshintergrund gleichermassen zu entlasten und deren Kindern zu besseren Startchancen zu verhelfen. Wer an dieser Stelle mit dem Kopf nickt – auch wenn nur ein kleines bisschen – der wird selbst Kinder erziehen, die irgendwann zu autonom denkenden Menschen heranwachsen. Und das hört sich doch auch gut an, oder?
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