Kinderhospiz
Lachen, spielen, sterben

Sigrid Reinichs
Nach seinem Tod sitzt Fabian auf einem riesigen Glas Nutella. Ganz oben am Rand und baumelt zufrieden mit den Beinen. Zufrieden, obwohl ihm nur gerade zehn Jahre auf dieser Welt blieben, um Nutella zu essen.
So jedenfalls stellt sich der siebenjährige Nik den Ort vor, an dem Fabian jetzt ist: friedlich und voller Leibgerichte. Deshalb hat er das Bild gemalt und seinem verstorbenen Freund im Abschiedsraum auf die Decke gelegt.
Der Tod macht traurig, aber er gehört zum Leben – wie Nutella.
Hier im Kinderhospiz Balthasar deutlicher als anderswo.
Acht Kinder und vier Jugendliche mit der Diagnose «lebensverkürzend erkrankt» wohnen derzeit in den hellen Häusern in den Hügeln des deutschen Sauerlandes. Von der Strasse zweigt ein Weg rechts ab, gleich gegenüber vom «Olper Grill & Partyservice».
Pietätlos, denkt der Besucher kurz. Gerade so lange, bis er in den original grossen Plastikstier in Stiefeln im Balthasar-Vorgarten hineinläuft, einem rennenden hüfthohen Jungen mit Spielzeug-Gitarre ausweichen muss und von Nicole Binnewitt, Pressesprecherin des Hospizes, mit einem munteren «Ich hol erst mal ’nen Kaffee» begrüsst wird.
Ein Stück Normalität
Die erste Lektion ist nach 10 Minuten klar: In diesem Haus sterben Kinder. Aber vor allem leben hier welche.
Penible Kinder wie Lukas, der seine Hände keinesfalls mit fieser Fingerfarbe dreckig machen würde und aufgrund seiner Hirnschädigung nie in die Pubertät kommen wird; lustige wie Marie, die gerne Verstecken hinter ihrer Hand spielt und nachts von Monitoren bewacht werden muss, damit sie nicht unbemerkt aufhört zu atmen; hibbelige wie Lily, die durch die nasse Wiese des Gartens streift, als ahnte sie, dass sie das im nächsten Herbst vielleicht nicht mehr kann; zum Umpusten zarte Kinder wie Dorothea, die mit ihren 16 Jahren 22 Kilo wiegt, und nüchterne Realisten wie Saskia, die auf Youtube ihre Beerdigungs-Powerpoint-Präsentation zeigt: gewünschte Musik und Farbwahl des Sarges inklusive.

Seit 1998 gibt es das Kinderhospiz Balthasar. Damals war es das erste in Deutschland. Während in der Schweiz die Kinderhospiz- Stiftung noch immer auf der Suche nach geeigneten Räumen ist und palliative Care-Teams der Spitäler die Betreuung von Kindern in der letzten Lebensphase übernehmen, existieren in Deutschland inzwischen neun dieser Einrichtungen für Kinder und zwei – eines davon in Olpe – für Jugendliche über 16. «Schliesslich haben Jugendliche ganz andere Bedürfnisse als Kinder », sagt Birgit Halbe, seit 13 Jahren Pädagogin und Trauerbegleiterin im Balthasar. Während im Kinderhospiz bunte WindowColours die Fenster schmücken, Mobiles, Kuscheltiere, farbige Schnitzfiguren und wöchentliche Clown-Besuche das Bild bestimmen, ist es im Jugendhospiz erwachsener. Hier gibt es Computer im Zimmer und Musikanlagen. Wenn auch die Gäste im Jugendhospiz eine andere Zukunft als ihre Altersgenossen haben, die Gegenwart gestalten sie sich möglichst genauso.
Schlafen bis in die Puppen, Chatten am Computer – denn die Fingermuskulatur ist meist lange intakt – Spätvorstellungen im Kino und Übernachten mit Freund oder Freundin unter einem Dach sind hier genauso beliebt wie bei all den anderen Jugendlichen, die denken dürfen, Sterben sei nur etwas für alte Leute. Wie seit der Gründung des ersten Hospizes für Sterbende 1967 im englischen Sydenham gilt noch heute: Wenn Ärzte nichts mehr tun können, muss man sie auch nicht täglich sehen. Stattdessen sollte «der Tod ins Leben integriert werden». Auch Familien, die langsam Abschied voneinander nehmen, haben ein Recht auf Normalität.

Das gemeinsame Mittagessen der «Kleinen» ist sehr normal. Heute gibt es Lasagne. Vegetarisch oder mit Fleisch, frisch gekocht, wie jeden Tag. Als Nachtisch Schokoladenpudding. Die acht Kinder, sieben davon im Rollstuhl, sitzen am hellen Holztisch, ein paar gesunde Geschwister, wie Lukas Bruder Tim (7) und Maries Drillingsgeschwister Theresa und Lukas (9), Eltern, die Betreuer… Es wird geschwatzt, gelacht, gezankt und gekleckert wie überall, wo Familien gemeinsam essen. Tim lässt ein Stoff-Känguru über den Tischrand hüpfen. Lukas will keine Lasagne, dafür zweimal Pudding. Theresa, Maries Schwester, erzählt aufgeregt von dem Ausflug in den Vogel- und Affenpark, den die Geschwisterkinder gestern mit den Pädagoginnen gemacht haben, «und dann hat mich tatsächlich so ein frecher Vogel in den Finger gepickt». Julia Voss mahnt bei Sohn Tim samt Känguru Tischsitten an und Regina Rabsch isst einfach in aller Ruhe. Zu Hause ist das ja selten möglich, schliesslich muss Dorothea gefüttert und gestreichelt, getröstet und gewaschen werden. Mal ungestört zu essen und die 100 Prozent Verantwortung 24 Stunden am Tag wenigstens eine Zeit lang abgeben zu können, geniesst die 48-Jährige wie andere Frauen ein Wellnessweekend in einem Luxushotel.
Kassen und Kosten
28 Tage pro Jahr dürfen Eltern und gesunde Geschwister nach Olpe kommen, um sich zu erholen und ohne Stress beieinander sein zu können. Dafür zahlt keine Kasse. Ihre erkrankten Kinder kommen im Schnitt genauso lang: ab der Diagnose «lebensverkürzend erkrankt» hin und wieder für einen kürzeren Aufenthalt, nachdem sie wieder nach Hause abreisen. Und viele von ihnen kommen dieses eine Mal zum längeren Aufenthalt, von dem niemand weiss, wohin die Reise anschliessend geht.
Aber auch ihr «Urlaub» mit Therapiebad, Rollstuhlschaukel im Garten, Spielzimmer und Entspannung im kuschligen mit Lichteffekten und Wasserbett ausgestatteten «Snoezelenraum» wird nur zu einem kleinen Teil von offiziellen Kostenträgern übernommen. 70 Prozent der jährlichen Betriebskosten von 1,7 Millionen Euro muss das Kinderhospiz durch Spenden bestreiten. Erwachsenenhospize müssen das nur zu 10 Prozent.
«Kinder sterben halt unberechenbar», fasst Nicole Binnewitt die zynische Regelung der Kassen zusammen. «Kinder sterben nicht in einem Ruck, sondern sie gehen in kleinen Schritten aus dem Leben.» Das ist zusammen mit den Aufenthalten der Restfamilie eine unsichere finanzielle Investition. «Sterbende Erwachsene bleiben, laut Statistik, durchschnittlich 12 Tage im Hospiz. Das ist besser kalkulierbar», sagt Nicole Binnewitt schlicht. Schwarzer Humor ist in den sonnenhellen Räumen allgegenwärtig.
Da erzählt Regina Rabsch die Anekdote von der Schulanmeldung ihrer Tochter, zu der sie höchstpersönlich mit Dorothea antraben musste: «Ach Gott, das Kind kann ja überhaupt nicht in eine normale Schule, da muss ich ja ein ganz anderes Formular suchen», habe die Sekretärin mit einem Blick auf die winzige Dorothea gestöhnt. «Das tut mir aber jetzt leid», hat Regina Rabsch da geantwortet. «Ich hätte es auch lieber anders gehabt.»

Am Ende bleibt Humor
Auch wird bei Tisch besprochen, mit welchen Argumenten Therapien für die Kinder gestrichen werden. «Abgelehnt», hatte die Kasse einer Familie geschrieben. «Lohnt nicht, die Lebenserwartung ist schon überschritten.» Hier im Essraum bleibt keinem dabei der Bissen im Halse stecken. Erstens ist die Lasagne sehr lecker und zweitens kennen alle solche Geschichten aus eigener Erfahrung.
Was hilft da anderes als Humor?
«Also, wir werden jetzt endlich mal mit dem Lottospielen anfangen», witzeln Judith und Udo Wenzel, die Eltern von Lily (11) und Lea (14). «In ganz Deutschland sind 60 von 80 Millionen Menschen von der Stoffwechselerkrankung MPS 3 betroffen. Wir haben gleich zwei Kinder mit der Diagnose. Auch eine Art 6er im Lotto.» Ganz normal in den Kindergarten ging Lea, als sie plötzlich anfing. Wörter zu verlieren, ständig aufgedrehter wurde. Schwesterchen Lily kam auf die Welt, ein süsses Baby. Zeitgleich stolperte Lea immer häufiger, konnte nicht mehr sprechen. Diagnose «Mukopolysaccharidose Sanfilippo; Lebenserwartung 13 Jahre». Zucker, der aufgrund der Krankheit nicht abgebaut werden kann, zerstört nach und nach alle Zellen. Die Wenzels liessen auch Lily testen. Volltreffer. Lea sitzt jetzt im Rollstuhl, aber das Sitzen strengt sie an. Lily läuft noch umher. «Konnte Lea vor zwei Jahren auch noch», sagt ihre Mutter trocken. Ob sie sich mit dem Tod beschäftigen? Die Kindergärtnerin schaut auf das Beet, in dem sich die Windmühlen drehen, auf deren Flügeln die Namen der verstorbenen Kinder geschrieben sind. «Irgendwie schon. Schliesslich sind wir in einem Hospiz. Aber auch wieder nicht. Ich schiebe das weg.»
Für Spenden
Kinder- und Jugendhospizstiftung Balthasar, Konto Nr.190 11, BLZ 370 601 93 Pax Bank Köln
Kinderhospiz Schweiz
In der Schweiz sind etwa 200 Kinder unheilbar und lebensverkürzend erkrankt. 2009 hat sich in Olten die Stiftung Kinderhospiz Schweiz gegründet. Finanzierungspläne sind zwar inzwischen erstellt, nach einem passenden Gebäude für acht Kinder und ihre Angehörigen wird noch gesucht. Infos unter www.kinderhospiz-schweiz.ch oder unter Tel. 0800 688 886
Den Abschiedsraum, in dem die Toten bis zu fünf Tagen gekühlt liegen können, damit die Angehörigen genügend Zeit zum Loslassen haben, hat sie nie betreten. Nicht die Nici-Schäfchen auf der gelben Tagesdecke angeschaut, nicht den Springbrunnen und noch keinen Blick ins Gästebuch geworfen. Ihr Mann Udo ist da anders. Er war in dem Raum. Er hat das Seminar «Was tun zwischen Tod und Beerdigung?» besucht. Er sagt: «Ich kaufe mir ein Motorrad, wenn die Mädchen tot sind. Und meine Frau und ich fahren mit dem Wohnmobil durch Skandinavien. » Klar, klinge das schrecklich und er hoffe von ganzem Herzen, dass die beiden noch lange, lange bei ihnen bleiben möchten. Aber dass sie gehen, das hat er schweren Herzens akzeptiert. «Wo steht, dass wir keine Pläne machen dürfen?» Seine Frau sieht ihn liebevoll an. Udo Wenzel ist einer der wenigen Väter, die das Ganze mit durchstehen. 80 Prozent der Partnerschaften zerbrechen. Nie sind es die Väter, die bleiben. Nachdenklich guckt Udo Wenzel Lily zu, die mit ihrer Betreuerin Manuela durch den Garten und leider auch in das kleine Wasserbecken läuft. Schuhe nass, Socken nass. Kein Problem. Probleme sind etwas sehr Relatives. Lilys Vater sieht Lilys Mutter ernst an: «Ich wusste, als ich meine Frau kennenlernte, dass sie blond, und hübsch und lustig ist. Aber dass sie so stark ist, das wusste ich nicht. Ich bewundere sie unendlich.» Judith Wenzel lacht. Glücklich. Wie Frauen eben lachen, wenn sie ein unerwartetes Kompliment hören. Die beiden strecken die Beine von der Gartenbank in die Herbst-Sonne. Ein schöner Tag. Lachen, gutes Wetter, nichts zu tun und dann hat Lily «Messer» gesagt. Ein Wort, das sie schon lange verschwunden glaubten.

Super, Geschwister zu haben
«Manchmal denke ich, dass der Satz ‹Hauptsache gesund›, ganz schön arrogant ist», sagt Barbara Brüser, seit 10 Jahren hier Erzieherin und Trauerbegleiterin: «Das zeigen mir die Kinder jeden Tag.»
Gestern beispielsweise hatten alle einen tollen Abend. Theresa, Maries Schwester, hat ein Theaterstück aufgeführt. Früher hat die 9-Jährige ihren Eltern schon mal einen Zettel hingehalten, auf dem stand: «Ich kriege einen Husten. Ich bin auch krank.» Es ist nicht einfach, als Drilling Beachtung zu finden, wenn der Bruder als Baby eine Hirnblutung hatte und die Schwester so krank ist, dass jeder Infekt das Ende bedeuten kann. Aber gestern hatte sie die volle Beachtung bei ihrem lustigen Stück mit sämtlichen verfügbaren Stofftieren als Schauspieler – und einer Lehre: «Es ist so super, Geschwister zu haben.» Alle Eltern haben gelacht und geklatscht. Und Theresas Mutter, Ines Richter, war einmal mehr stolz auf ihre drei ganz besonderen Kinder. Auf ihrem T-Shirt steht: «The good life is closer than you think.»