Interview
«Kinder brauchen Zucker!»
Von Veronica Bonilla Gurzeler
Die Ernährungs-Psychologische Beraterin Silvia Schmidt erklärt, was Zucker mit unseren Kindern macht und weshalb ein komplettes Zuckerverbot das Ziel verfehlt.
«wir eltern»: Frau Schmidt, die Diskussionen um den Zuckergehalt in der Ernährung nehmen mitunter religiöse Züge an. Wie gross ist der Risikofaktor «Zucker» tatsächlich für unsere Gesundheit?
Silvia Schmidt: Bei chronischem Überkonsum kann eine Insulinresistenz auftreten, mit welcher man irgendwann bei Diabetes 2 landet. Die WHO empfiehlt für Erwachsene maximal 50 Gramm Zucker – ideal sind 25 Gramm. Für Kinder sind es weniger: für 1- bis 3-Jährige maximal 30 Gramm, für 4- bis 6-Jährige 35 Gramm und für 7- bis 10-Jährige 42 Gramm.
Wir konsumieren mehr?
Viel mehr! Vielen Klientinnen in meinen Beratungen ist nicht bewusst, wie viel versteckter Zucker allein schon in einem Joghurt mit Aroma von 150 Gramm enthalten ist – es sind etwa 12 Gramm.
In den Badis sieht man zusehends mehr übergewichtige Kinder – hat die Schweiz ein Zuckerproblem?
Hierzulande haben etwa 15 Prozent der Kinder Übergewicht – bei den Erwachsenen sind es 40 Prozent. Es ist normal, dass sich der Stoffwechsel verändert und man mit den Jahren an Gewicht zulegt.
Andererseits versuchen immer mehr Eltern, ihre Kinder möglichst zuckerfrei zu ernähren. Wie sinnvoll ist es, wenn man den Kindern jegliche Süssigkeiten vorenthält?
Dazu gibt es Studien: Verbieten Eltern Kindern etwas – und zuckerfreie Erziehung besteht faktisch aus einem Zuckerverbot – wird es umso spannender für die Kids. Plötzlich sehen sie überall das Verbotene, haben Verlangen danach. Man bewirkt das Gegenteil von einem moderaten Gebrauch – Schleckereien und Süssgetränke werden unheimlich attraktiv. Die Absicht ist vielleicht gut – man will die Kinder vor Schädlichem bewahren – aber die Folge davon ist, dass diese Kinder den «Mangel» wo immer möglich kompensieren. Sie langen an Geburtstagspartys erst recht zu.
Immerhin finden Geburtstagsfeste nicht alle Tage statt.
Das Problem ist, dass diese Kinder den Umgang mit Süssigkeiten nicht lernen. Dabei wäre genau das ein wichtiger Lernprozess, denn zuckerhaltige Lebensmittel und Getränke stehen den Kindern in den Läden jederzeit und überall zur Verfügung.
Es gibt einen gewissen Konsens, dass man nicht schon Babys mit Zucker «anfixen» soll. Bis zu welchem Alter des Kindes ist es sinnvoll, den Zuckerkonsum zu vermeiden?
Im ersten Jahr gibt es keine Notwendigkeit, dem Baby Zucker zu verabreichen. Ein Kind in diesem Alter isst, was es erhält und dann, wenn es Hunger hat. Beim ersten Kind ist das auch unproblematisch. Schwieriger wird es, wenn ältere Geschwister mit einem Lolli im Mund herumlaufen und das Kleine darf nicht. Da sind Kompromisse und Augenmass gefragt.
Dann kann es doch sinnvoll sein, den Kindern möglichst früh zu erklären, weshalb Zucker schädlich ist?
Kinder verstehen den Begriff «gesund» oder «Gesundheit» bis ins Kindergartenalter nicht. Wenn man sie aber ab drei, vier Jahren einbezieht in die Vorbereitung zum Beispiel des Pausensnacks, erfahren sie spielerisch und sinnlich, was alles zu einem gesunden Znüni gehört.
Früher waren die Fette die Übeltäter, heute ist es der Zucker.
Problematisch ist, dass Kohlehydrate per se verteufelt werden: Brot, Nudeln, Kartoffeln – alles ist angeblich schlecht. Ich betreue viele Klient:innen mit Essstörungen in meiner Praxis – also auch viele, die deutlich zu wenig Kohlenhydrate zu sich nehmen.
Was passiert, wenn man zu wenig Kohlehydrate isst?
Dem Körper fehlt die Energie. Entweder verliert man massiv an Gewicht oder es führt durch die Strenge mit sich selber zu Essattacken. Aus einem gestörten Essverhalten herauszufinden, ist schwierig.
Umso problematischer, wenn Eltern ein gestörtes Essverhalten haben.
Ja, die Verbotskultur überträgt sich auf die Kinder. Deshalb ist es wichtig, dass Eltern – es sind insbesondere Mütter – ihr Essproblem auch ihren Kindern zuliebe angehen. Selbst wenn Eltern ihr fragwürdiges Essverhalten zu verstecken versuchen: Kinder sind sensibel und spüren genau, wenn etwas nicht stimmt.
Silvia Schmidt (50) ist Mutter von zwei Kindern, Ernährungs-Psychologische Beraterin und Präsidentin der Ernährungs-Psychologischen Beratung Schweiz (epb).