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Politik
Warum die aufgebrachte Jugend den Ton angibt
Gestern noch «Generation Schneeflocke», heute politisch hochaktiv – was ist da mit den Kids passiert? Eine Spurensuche.
Alles Mimis. Bis vor Kurzem war man sich da einig. Die heutigen Jugendlichen seien, man kann es wohl nicht netter ausdrücken: fad. Entweder Streber oder Schluffis mit einem Hang zu Katzenvideos und Empfindsamkeit der weinerlichen Art. Unbelastbar. Unengagiert. Unpolitisch. Kurz: eine «Generation Snowflake», wie diese selbstbezogenen «Hilfe-eine-Anforderung!»-Kinder in Amerika heissen. Hiessen, darf man vermuten.
Wo kommen die politisierten Jungen her?
Denn urplötzlich sind die jungen Menschen nicht wiederzuerkennen, und die Welt reibt sich die Augen. Wo kommen denn diese vielen politisierten Jugendlichen mit einem Schlag her? Zu Tausenden gehen sie auf die Strasse fürs Klima. Kleben Plakate gegen Sexismus. Melden sich digital und analog zu Wort, mucken auf, verwuscheln die Parteien und lassen altgediente Politiker alt aussehen. Denn sie sind es, diese vermeintlich schlecht informierten Teenies, die auf einmal die Themen setzen, die Lufthoheit über den aktuellen gesellschaftlichen Diskurs haben. Und – frei nach dem Struwwelpeter: Die Erwachsenen blicken stumm auf dem ganzen Tisch herum. Irgendetwas ist da passiert in den Kinder- und Klassenzimmern.
Unbemerkt von der Elterngeneration ist aus vielen Schneeflocken eine Lawine geworden. Mag das CS-Jugendbarometer, das vergangenes Jahr veröffentlicht wurde, noch verkünden: Die Teenager von heute sorgen sich vor allem um ihre AHV. Mag auch die Sinus-Jugendstudie ermittelt haben, das Hauptkennzeichen der heutigen Jugend sei «Neo-Konventionalismus», also das Bestreben, möglichst lautlos auf längst gelegten Schienen dahinzugleiten – die Realität sieht anders aus. Die Heranwachsenden 2019 machen die Studien zu Altpapier. Und zwar weltweit.
In Rom versucht die 12-jährige Genesis Butler den Papst zum Veganismus zu bekehren, in Hamburg protestiert der 7-jährige Emil mit Gleichaltrigen gegen handysüchtige Erwachsene, mit 17 demonstriert in Denver der Umweltaktivist Xiuhtezcatl Martinez mit Hunderten anderer Jugendlicher gegen Fracking; Ziad Ahmed, damals 14 Jahre alt, gründet die Organisation Redefy, die sich weltweit für Inklusion an Schulen einsetzt, und in Schweden bestreikt ein Mädchen mit Zöpfen die Schule, um auf das Thema Klima aufmerksam zu machen: Greta Thunberg, Galionsfigur der «Fridays for Future»-Bewegung.
Und während anfangs Eltern, Lehrer und Politiker noch mit einer Mischung aus Verblüffung und herablassender Rührung auf die Klima-Kinder blickten, hat der Wind sich inzwischen gedreht. Seit der Europawahl ist Rezo nicht mehr «dieser Youtuber mit der blauen Tolle», Greta nicht mehr – je nach Sichtweise – possierlich oder bedauernswert, und die streikenden Schüler gelten auch nicht länger als eine Art fliegendes Klassenzimmer im Einsatz für Gletscher und Eisbär, sondern – Schluss mit niedlich! – auf einmal ist da eine neue Macht. Und eine Machtverschiebung: weg von der Elterngeneration, hin zur Kindergeneration.
Warum wir den Jungen zuhören sollten
Herbert Grönemeyer wünschte sich ja schon 1986 «Kinder an die Macht». Und ein bisschen scheint sein Wunsch erhört worden zu sein. Wenn vielleicht auch nicht Kindlichkeit, so ist doch zumindest Jugendlichkeit das flächendeckende Ideal: In der Mode eifern Mütter ihren Töchtern nach, Väter ihren Söhnen, technisch rufen Mamas und Papas ihre Kinder zu Hilfe, wenn der Home-Button am Handy streikt oder der Computer spinnt. Und besonders Social Media, fest in der Hand der «Digital Natives», kehrt den gesellschaftlichen Einfluss um: Von der Sogwirkung mancher Influencer können Werbeleute mit traditionellen Kampagnen nur träumen, Reichweiten wie das Rezo-Video erreicht kein «10vor10», kein Wahlplakat, keine Zeitung. Und wer in diesem Jahr zufällig die aktuelle Staffel von Germanys Next Topmodel gesehen hat, konnte nicht umhin, sich von Folge zu Folge gequälter zu fragen: Wer buhlt da eigentlich um wessen Gunst? Die angehenden Models um Model-Mama Heidi Klum, oder Heidi Klum um die Mädchen, mit ihren teilweise Zigtausenden Instagram-Followern? Auch der Wirtschaft liegt die Generation Z, der nach 1996 Geborenen, am Herzen, genauer: an den Kassen. In den USA beispielsweise machen Menschen unter 18 Jahren ein Viertel der Bevölkerung aus, ihre Kaufkraft wird auf 44 Milliarden Dollar jährlich geschätzt. Welches Produkt am Markt eine Zukunft haben wird, bestimmen die, welche die Zukunft noch vor sich haben. Wer die Zeichen an der Wand lesen kann, weiss: Den Jungen sollte gut zugehört werden. Und einige clevere amerikanische Studenten haben daraus sogar schon ein Beratungsgeschäft gemacht: Jugend-Denken übersetzt für Erwachsene. Zigtausende zahlen Firmen für die juvenile Nachhilfe.
Nur – wie konnte gerade der heutigen Generation der Helikopter-Eltern entgehen, was da in den Köpfen und Herzen ihrer stets aufmerksam beäugten kleinen Lieblinge vor sich geht? Ist das nicht merkwürdig?
«Nein, überhaupt nicht», findet Rahel Bühler, Historikerin an der Fachhochschule Nordwestschweiz und Spezialistin für die Geschichte der Jugend. Schon immer sei der Blick des erwachsenen Teils der Gesellschaft auf die folgende Generation ebenso getrübt wie durch Emotionen verzerrt gewesen. Eine brackige Melange aus Angst, Wunschdenken und Hochstilisierung von Einzelerscheinungen zu einem vermeintlichen Massenphänomen. Waren zu Goethes Zeiten wirklich alle jungen Menschen lesesüchtige Träumer? Die 68er-Heranwachsenden samt und sonders Fans von Ho Chi Minh, Marcuse und Sex im Rudel? Die 70er-Teens in der Schweiz wohlstandssatt und träge, die 80er gewaltbereit und unter Drogen? Und sind die heutigen Kids wirklich erst durch Greta Thunberg wachgeküsst worden wie Dornröschen vom Prinz?
«Unfug», findet Rahel Bühler. «Das Medieninteresse ist vielleicht erst durch sie richtig erwacht.» Vieles von dem, was vermeintlich eine ganze Generation auszeichne, sei nur das, was die Erwachsenen sehen wollten und hineininterpretierten. Denn längst vor den Schulstreiks und all den publizierten pathetischen Vergleichen – die Bewegung sei wie ein Kinderkreuzzug, Greta wie Jeanne d’Arc, ja, wie Jesus beim Einzug in Jerusalem oder doch zumindest wie Rudi Dutschke, nur mit Zöpfen – haben die Jungen begonnen, sich zu engagieren.
Seit 2014 hat sich etwa die Mitgliederzahl der Schweizer Jungparteien verdoppelt. Die Jusos sind in den vergangenen zehn Jahren viermal grösser geworden, bei den Grünen ist ein Anstieg seit 2015 um 40 Prozent zu verzeichnen, die Nachwuchsorganisation der SVP hat um 20 Prozent zugelegt. Vor allem der Anteil der Mädchen und Frauen ist explodiert. Ein Plus von 54 Prozent innerhalb der Schweizer Jungparteien.
Politisierung beginnt zu Hause
Generell, wenn auch vielleicht nicht parteipolitisch gebunden, haben 65 Prozent aller Heranwachsenden zumindest ein politisches Grundinteresse, belegt eine Untersuchung von Matthias Künzler, Professor an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Chur und Fachmann für Multimedia. Und dass das Interesse steige, sei unter anderem eine Wirkung der von den Älteren kritisch beäugten neuen Medien. Denn die böten Informationen rund um die Uhr, aus vielen Kanälen, verständlich präsentiert. Doch vor allem sei politisches Interesse Folge des elterlichen Vorbilds. «Entscheidend ist, was am Mittagstisch gesprochen wird, ob die Heranwachsenden erleben, dass Politik nicht langweilig und abstrakt, sondern wichtig für das Leben ist. Besonders in einem Land mit direkter Demokratie.»
Hurra! Wir Eltern ein Vorbild! Mütter und Väter als die wirklichen Helden, die Teenies motivieren, edle Gesinnung in die Herzen und Problembewusstsein in die Köpfe pflanzen?
«Eher...nein», desillusioniert Oliver Nachtwey, Professor für Soziologie an der Uni Basel, umgehend. Zwar seien die Eltern in der Tat der entscheidende Auslöser, aber leider weniger durch ihre grossartige Erziehung und als leuchtendes Vorbild, als vielmehr dadurch, dass die Babyboomer-Eltern so richtig auf Kosten der Kinder gelebt hätten, was das Klima anbelangt. Bis zu drei Autos pro Familie, Flugreisen, Kreuzfahrten: das Leben als «Nach-mir-die-Sintflut»-Event. Ausserdem wundere ihn gar nicht, dass die heutigen Mamis und Papis die Zukunftsängste ihrer Kinder nicht bemerkt hätten, denn Helikopter-Eltern ginge es gar nicht um das Wohl ihrer Kinder, sondern nur darum, vermeintliche Erfolgsrezepte für die Karriere in ihre Kinder hineinzupfropfen. Notfalls gegen die Kinder selbst.
Nicht gegen die Werte der Eltern
Gute Güte, so schlimm? Oliver Nachtwey lacht. «Die meisten Eltern heute sind ja trotzdem tolle Eltern, die mit ihren Kindern offen diskutieren und sie ernst nehmen.» Deshalb sei das Besondere am aktuellen Jugendprotest, dass sich die Bewegung nicht gegen die Werte der Eltern richtet, sondern gegen ein «Weiterso». «Am liebsten möchten die Jungen gemeinsam mit ihren Müttern und Vätern etwas ändern.»
Ja, aber ist das nicht verkehrt? Nimmt die Dauerumarmung zwischen Eltern und Kindern den Jungen nicht die Luft zum Atmen? Braucht es zum Erwachsenwerden nicht Reibung, damit nicht entsteht, was der amerikanische Psychologe Jonathan Haidt grassierendes «Coddling of the Mind» nennt? Verwöhntes Hätschelkinder-Denken?
«Die Forderung nach Abhärtung ist doch ein alter und hässlicher Hut», sagt Nachtwey. Es sei doch nur klug, dass diese Jugend ‹weicher› sei und Wert lege auf: Work-Life-Balance, Freunde, Freizeit, eine schöne, intakte Natur… «Und keine Angst, notfalls wehren sich die Schneeflocken schon.»
Das sehen wir gerade – erstaunt.