Generationenkonflikt
Böse Jugend?
Das kollektive Bild Erwachsener von der nachfolgenden Generation entsteht leider nicht nur im direkten Kontakt mit Kindern und Jugendlichen. Die Lebenswelten von Kinderlosen und Eltern überschneiden sich immer weniger, ältere Menschen werden in Altersheimen oft ganz von den jüngeren Generationen abgeschnitten. Es ist also vorab ein mediales Bild, das Erwachsene von Mädchen und Jungen, von jungen Frauen und Männern haben, geformt und gefestigt durch Zeitungsberichte und Fernsehbilder. Und die sind längst nicht immer positiv. Das hat gerade die heftig diskutierte Dokusoap «Jung, wild & sexy» vom November auf dem TV-Kanal 3+ wieder bewiesen, welche die Schweizer Jugend ungeniert über eine Leiste schlug und als «baggernde und saufende» Partytiere karikierte. Solche Pauschalurteile versprechen nicht nur hohe Einschaltquoten, sie führen auch zur Bestätigung allfälliger Vorurteile, weil Menschen Nachrichten unterschiedlich auswählen und gewichten. Ältere Menschen etwa scheinen ihr vorgefasstes Urteil gegenüber der Jugend gern bestätigt zu sehen. Sie konsumieren daher bevorzugt Artikel und Sendungen über negatives Verhalten und schlechte Eigenschaften der Heranwachsenden. Zu diesem Ergebnis kam ein Forschungsteam der Universität Friedrichshafen. Sie legten den Probanden eine Tageszeitung mit diversen positiven, aber auch negativen Berichten über jüngere und ältere Personen vor. Die Testpersonen zwischen 50 und 65 (anders als die 18- bis 30-Jährigen) lasen als erstes die negativen Artikel über junge Leute. Auf diese Weise werden Vorurteile immer wieder neu geschaffen und bestätigt.
Aber was ist denn nun wirklich dran am kollektiven Bild verwöhnter Tyrannen und komasaufender Jugendlichen? wir eltern hat das Klischee mit der Realität konfrontiert. Und die herkömmlichen Bilder mit nackten Zahlen überprüft.
1. Vorurteil: Jugendliche hängen rum
Das Vorurteil taucht in verschiedenen Variationen auf: die Jugend als Null-Bock-Generation, als wohlstandsverwahrloste, faule und bequeme Kids, die alles ohne Gegenleistung serviert bekommen wollen, als zynische Schulschwänzer oder desinteressierte Langweiler.
Abgesehen davon, dass sich hinter dem «Null Bock auf gar nichts» ja auch eine Form der pubertären Rebellion verstecken könnte, zeigen Studien ein ganz anderes Bild der nachwachsenden Generation. Natürlich verfügt die Jugend heute in der Regel über materielle Möglichkeiten wie nie zuvor. Aber sie steht eben auch unter einem zunehmenden Leistungsdruck. Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat ihre Zukunft unsicherer gemacht. Ist es da nicht erstaunlich, dass sich laut der Shell-Jugendstudie der Anteil derjenigen Jugendlichen, die ihre Zukunft optimistisch sehen, sogar noch erhöht hat? «Mit tatkräftigem Anpacken, wechselseitiger Unterstützung und einer pragmatisch-taktischen Flexibilität will die Mehrheit der Jugendlichen die Dinge in den Griff bekommen. Diese Haltung prägt die Einstellung und den Lebensalltag und bietet zugleich Schutz davor, sich unterkriegen zu lassen», schreiben die Autoren der Studie. Die junge Generation hängt nicht faul rum, sie geht die schwierigen Bedingungen im Gegenteil bewundernswert sportlich an.
*Quelle: 16. Shell-Jugendstudie 2010**
2. Vorurteil: Jugendliche saufen
Trinken bis zum Umfallen: Wenn Jungen – und immer mehr Mädchen – mit einer Alkoholvergiftung ins Spital eingeliefert werden, findet das allemal Eingang in die Schlagzeilen. Ist ja auch wirklich krass, wenn 13-Jährige im Kampftrinken mit Gleichgesinnten Glas um Glas Wodka in sich hineinschütten, weil sie scheinbar nur so Spass und Bestätigung finden.
Tatsächlich ist Alkohol klar die Droge Nummer eins bei Schweizer Jugendlichen. Auch wenn der Konsum, der bis 2002 massiv angestiegen war, laut der schweizerischen Schülerbefragung 2006 erstmals wieder zurückgegangen ist. Trotzdem ist es nach wie vor besorgniserregend, dass rund 30 Prozent der 15-jährigen Knaben und 20 Prozent der Mädchen angeben, schon mindestens zweimal in ihrem Leben betrunken gewesen zu sein. Rund ein Viertel der Jungen trinkt mindestens wöchentlich Alkohol, bei den Mädchen der gleichen Altersgruppe sind es 17 Prozent. Bier und Alcopops sind die beliebtesten Getränke. Nicht selten enden Partys als Saufgelage. Laut der Statistik einer grossen deutschen Krankenkasse nimmt das Komasaufen insbesondere bei sehr jungen Jugendlichen zu. Die Patienten, die mit einem Vollrausch ins Krankenhaus kämen, würden immer jünger, beobachtet die Krankenkasse. Bei den ganz jungen Alkoholopfern lägen zudem in letzter Zeit die Mädchen vor den Jungen.
An die Getränke zu kommen, ist für die Altersgruppe der 13- bis 15-Jährigen offenbar kein Problem, obwohl von Gesetzes wegen eigentlich gar kein Alkohol an sie abgegeben werden dürfte.
Der Alkoholkonsum scheint also kein herbeigeredetes, sondern ein wirkliches Problem zu sein.
Quelle: Schweiz. Fachstelle für Alkohol und andere Drogenprobleme
3. Vorurteil: Jugendliche sind respektlos und haben keine Werte
Dass durch die Jugend Sitte und Moral verfallen, orakelten schon die alten Griechen. Jede heranwachsende Generation wird offenbar erneut wegen fehlenden Respekts, anstössiger Kleidung und unmoralischen Verhaltens gescholten. Die Jungen und keine Werte? Wie kommt es dann, dass mehr als drei Viertel der Jugendlichen erklären, dass man eine Familie braucht, um wirklich glücklich leben zu können? Und dass mehr als 90 Prozent ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern haben? Dass 70 Prozent überzeugt sind, dass es – gerade weil heute vieles in der Arbeitswelt und Gesellschaft falsch laufe – nötig sei, sich dagegen zur Wehr zu setzen? Dass über vier Fünftel der Meinung sind, es müsse heute für alle Menschen verbindliche moralische Regeln geben, damit die Gesellschaft funktionieren kann? Eine Jugend ohne Werte? Ach wo!
Quelle: Shell-Jugendstudie 2010
4. Vorurteil: Jugendliche kiffen
Im Jahr 2006, dem Zeitpunkt der letzten Schülerbefragung, gaben 34 Prozent der 15-jährigen Jungen und 27 Prozent der gleichaltrigen Mädchen an, schon einmal Cannabis geraucht zu haben. In den letzten zwölf Monaten vor der Befragung haben rund ein Viertel der Jungs und 41 Prozent der Mädchen gekifft. Viele von ihnen wollten es einmal ausprobieren, hörten dann aber wieder auf, weil sie schlechte Erfahrungen damit machten oder das Interesse verloren. Die Mehrheit der 15-Jährigen hat noch nie gekifft (66 Prozent der Knaben und 73 Prozent der Mädchen). Der Konsum, der seit 1986 stetig gestiegen war, ging 2006 erstmals wieder zurück. Das Kiffen scheint also im Gegensatz zum Alkohol ein Minderheitenproblem zu sein.
Quelle: Schweiz. Fachstelle für Alkohol und andere Drogenprobleme
5. Vorurteil: Kinder und Jugendliche sitzen dauernd vor dem Bildschirm
Klar, der Umgang mit den Medien hat sich verändert. Heute haben fast alle Jugendlichen Zugang zum Internet, über 70 Prozent sind regelmässig auf Facebook, Lokalisten, Schüler- oder Studi-VZ oder auf ähnlichen Plattformen unterwegs. Bei den 6- bis 11-Jährigen gehen nur rund 17 Prozent regelmässig ins Internet. Ein gutes Viertel von ihnen verfügt allerdings über einen eigenen Fernseher im Kinderzimmer. Knapp die Hälfte der Kinder in diesem Alter sehen pro Tag mehr als eine Stunde fern: 31 Prozent ein bis zwei Stunden, 10 Prozent zwei bis drei Stunden und 3 Prozent sogar drei Stunden und mehr. Ein Viertel gibt an, tagsüber zu Hause Computer spielen und fernsehen zu dürfen, wann sie wollen. Ein Fünftel der Mädchen und fast ein Drittel der Jungen erklären, dass es deswegen zu Streit in der Familie kommt. TV und Computer sind nicht des Teufels, aber sie sollten nicht zum alltäglichen Freizeitprogramm der Kinder verkommen. Da sind Eltern gefragt, die klare Regeln aufstellen.
Quelle: 2. Kinderstudie 2010
6. Vorurteil: Jugendliche haben immer früher Sex
TV-Berichte, wonach bereits Kinder sich beim Sex mit ihren Handys filmen und die Bilder dann weiterschicken, schockieren nicht nur eine vermeintlich prüde Grosselterngeneration. Da werden auch aufgeschlossene Eltern hellhörig. Aber selbst wenn die Berichte der Wahrheit entsprechen – eine «Generation Geil» daraus zu konstruieren, der nur noch wichtig ist, wann sie das nächste Mal mit wem wie Sex hat, zielt an der Realität vorbei. Die aktuelle Studie «Jugendsexualität 2010» jedenfalls kam zum Schluss, dass Mädchen und Jungen seltener früh sexuell aktiv sind als noch 2005. Bei den 14-jährigen Mädchen sank der Anteil derer mit Geschlechtsverkehrerfahrung deutlich von 12 auf 7%, bei den gleichaltrigen Jungen sogar von 10 auf 4%. Mehr als ein Drittel der jungen Frauen und Männer haben bis zu einem Alter von 17 Jahren noch keinen Geschlechtsverkehr gehabt. Ihr erstes Mal erlebten die Jugendlichen in der Regel in einer festen Beziehung. Und diejenigen, die in diesem Alter schon sexuell aktiv sind, verhüten bereits beim ersten Mal besser als je zuvor. Nur je 8% der Mädchen und Jungen gaben an, keine Verhütungsmittel benutzt zu haben. 1980 lag dieser Anteil mit 20% bei den Mädchen und 29% bei den Jungen um ein Vielfaches höher. Tatsächlich haben Jugendliche also immer später Sex. Und verhüten gewissenhaft.
Quelle: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
7. Vorurteil: Kinder ernähren sich nur von Fast Food und bewegen sich kaum
Essen hat mittlerweile seine lustvolle Selbstverständlichkeit verloren. Auf dem Kampffeld, um richtig oder falsch, haben sich die Experten schon lange die Kinder ausgesucht. Ihre Pandemie-Warnungen vor einer zunehmenden Verfettung der nachkommenden Generation klingen ähnlich wie diejenigen vor Vogel- oder Schweinegrippe. Immer mehr Kinder in der Schweiz seien übergewichtig, heisst es, mittlerweile schon jedes fünfte. Ihr Krankheitsrisiko daher deutlich erhöht. Dabei ist umstritten, ob der sogenannte Body-Mass-Index (BMI) zur Ermittlung von Übergewicht bei Kindern überhaupt taugt. Die neusten Daten zeigen nun immerhin, dass sich die Lage «stabilisiert » hat. Eines haben die Kampagnen allerdings erreicht: Immer mehr Mädchen fühlen sich zu dick (ob sie es sind oder nicht) und versuchen abzunehmen. Die Zahl der Magersüchtigen ist jedenfalls gestiegen.
Was Kinder und Jugendliche essen, weiss man – um ehrlich zu sein – nicht genau. Die Umfragen und Studien dazu klingen ziemlich zufällig. Klassisches Fast Food, wie Hamburger und Pommesfrites, isst die Mehrheit jedenfalls nur gelegentlich. Höchstens nämlich einmal pro Woche, wie drei Viertel in einer grossen Studie angeben.
Wenn es so schwierig ist, den Kindern gesundes Essen beizubringen, dann sollten sich die kleinen Couchpotatoes wenigstens mehr bewegen, möchte man meinen. Aber auch hier: So schlimm sieht es gar nicht aus. Fast 80 Prozent der Schulwege werden in der Schweiz ausschliesslich zu Fuss oder mit dem Velo zurückgelegt, hat das Bundesamt für Sport ermittelt. 80 Prozent der 10-Jährigen sind in einem Verein und trainieren pro Woche zwischen 2,7 und 3,3 Stunden. Fussball, Rad fahren und Schwimmen sind bei den Kindern die beliebtesten Sportarten. Sie bewegt sich also doch, die junge Generation.
Quelle: Bundesamt für Sport
**Seit 1953 gibt Shell in Deutschland unabhängigen Forschungsinstituten Studien in Auftrag, um Sichtweisen, Stimmungen und Erwartungen von Jugendlichen zu untersuchen. Die 16. Shell-Jugendstudie 2010 stützt sich auf eine repräsentativ zusammengesetzte Stichprobe von 2 604 Jugendlichen im Alter von 12 bis 25 Jahren.*