Eltern schielen gerne auf andere Kinder. Doch wovon hängt es ab, wie schnell sich ein Kind entwickelt?
Alle, die täglich mit Kindern zu tun haben, vergleichen, obwohl in jedem guten Babyratgeber nachzulesen ist, dass jedes Kind auf seine Weise einmalig ist. «Die kindliche Entwicklung zeichnet sich gleichermassen durch Einheit und Vielfalt aus», so Remo Largo in «Babyjahre». Die verschiedenen Stadien der Entwicklung weisen bei jedem Kind in etwa die gleiche Abfolge auf. Unterschiedlich sind jedoch das Entwicklungstempo und die Ausprägung bestimmter Verhaltensweisen: Nicht jedes Kind freundet sich sofort mit dem Nuggi an, manche spucken ihn beharrlich immer wieder aus und verweigern alles, was nach Gummi schmeckt. Doch wovon hängt es ab, wie schnell sich ein Kind entwickelt? Wie kann man seine Entwicklung fördern? Soll man das überhaupt ? Das fragen sich viele Eltern immer wieder.
Zum einen ist genetisch bedingt, wie flott und geschickt ein Kind beispielsweise motorische und sprachliche Fähigkeiten erwirbt. Zum anderen ist die Entwicklung eines Kindes abhängig von seiner Umwelt, in den ersten Jahren insbesondere von den Eltern, der Familie. Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht. So verhält es sich auch mit den Kindern. Gute Bedingungen sind ihrer Entwicklung jedoch ohne Zweifel förderlich. Wichtig, deshalb, dass sie sich geborgen und angenommen fühlen. Doch: Für die elterliche Zuwendung gilt dasselbe wie für die Nahrung. So wie ein Übermass an Köstlichkeiten zu Übergewicht führt, vermehrt auch Überbehütung nicht das Wohlbefinden, sondern hält das Kind in einer gefühlsmässigen Abhängigkeit und macht es unselbstständig.
Der Säugling ist kein hilfloses Wesen
Die hohe Kunst ist also, in allem das Mass zu finden. Und hier hilft uns das Baby gleich selbst, wie die ungarische Kinderärztin Emmi Pikler in verschiedenen Büchern anschaulich dargelegt hat. Wenn wir das Kind von Beginn an nicht als hilfloses Wesen anschauen, sondern es als kompetentes Individuum wahrnehmen, das uns zeigt, wann es was braucht und womit es gerade beschäftigt ist, fördert dies in hohem Masse seine Selbstständigkeit und sein Selbstvertrauen.
Für die Entwicklungsexpertin, die jahrzehntelang zum Thema geforscht hat, ist zentral, dass Eltern oder Betreuer aufmerksam beobachten, wonach das Kind verlangt. Und ihm die Möglichkeit geben, im eigenen Tempo vorwärtszukommen.
Denn wenn Babys reden könnten, würden sie sagen: «Lass mir Zeit, es selbst zu tun. Hilf mir nicht und stör mich nicht dauernd beim Üben.»
Das Zürcher Fit-Konzept
2005 haben Kinderarzt Remo Largo und sein Nachfolger am Zürcher Kinderspital, Oskar Jenni, das «Zürcher Fit-Konzept» veröffentlicht, in dem ebenfalls betont wird, wie wichtig eigenständige Lernerfahrungen bereits für Babys sind: «Aus den selbstbestimmten Erfahrungen gewinnt das Kind sein Selbstvertrauen: Ich bin fähig zu lernen und kann Zusammenhänge in dieser Welt verstehen.»
Zugegeben, nicht immer eine einfache Sache, die Anliegen des Babys zu erkennen und angemessen darauf zu reagieren. Doch wer wagte schon zu behaupten, Erziehung sei ein Kinderspiel? Die beiden Kinderärzt entlasten uns jedoch auch, wenn sie schreiben, es bedeute nicht den Weltuntergang, wenn wir nicht perfekte «Kinderleser» seien. «Sie müssen nicht ständig die Bedürfnisse ihres Kindes zu erahnen suchen und an ihm herumrätseln. Ein Kind hält ein gewisses Mass an Frustrationen aus und meldet seine Bedürfnisse lautstark an, wenn diese nicht befriedigt werden, beispielsweise wenn es hungrig ist oder Zuwendung will.»