Mobbing
Lou: «Ich wollte einfach, dass sie endlich aufhören.»
Mobbing ist an Schulen weit verbreitet. Jedes zehnte Kind in der Schweiz ist betroffen. Zum Beispiel Lou, der von der Klasse gemobbt wurde, bis er psychisch erkrankte.
Lous* Mutter Elisabeth und ich telefonierten zum ersten Mal im Winter letzten Jahres miteinander. «Ich erzähl dir unsere Geschichte, denn ich wünsche mir viel mehr Aufklärung über Mobbing», sagte sie. Ein paar Wochen später schildert sie mir in einem Zoom-Meeting, was begann, als Lou etwa acht Jahre alt war, und dramatisch endete, als er mit elf Jahren in die Kinderpsychiatrie eintrat. «Zuerst fand ich alles nicht sehr beunruhigend, schliesslich kannten wir Neckereien und Streitereien auch aus unserer eigenen Schulzeit, doch dann wurde es immer schlimmer.» Lous Mutter wirkt nicht wie der Typ, den schnell etwas aus der Ruhe bringt. Eher wie eine Frau, die sich gewohnt ist, Krisen zu überstehen. Elisabeth ist selbst Lehrerin.
Lou begann die Schule zu verweigern, war kaum noch ansprechbar
Mitschülerinnen und Mitschüler verfolgten Lou auf dem Schulweg, nahmen ihm über Monate hinweg die Schulsachen weg. Dann liessen sie ihn nicht mehr in die Schultoilette und schlossen ihn aus jeglichen Gruppen aus. Lou begann mehr und mehr die Schule zu verweigern – er war damals in der 4. Klasse. Am Morgen wollte er nicht aufstehen, war kaum mehr ansprechbar: «Lou tickte zu Hause immer mehr aus. Sagte, er wolle nicht mehr leben oder ich solle ihn umbringen», erzählt Elisabeth.
Die Mutter informierte die Schule, doch die Situation besserte sich nicht, die Lehrpersonen stritten das Mobbing ab. Als Lou gar nicht mehr aufstand und nur noch im dunklen Zimmer lag, sich für nichts mehr interessierte, wandte sich die Mutter an die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dort erhielt Lou sofort einen Notfallplatz und blieb mehrere Monate stationär. Elisabeth mailt mir die Berichte der Klinik. Der Grund der freiwilligen Einweisung von Lou: «Suizidalität aufgrund von Mobbingerfahrungen. Die Diagnose: Anpassungsstörungen. Depressionen.»
♦ Sprechen Sie mit Ihrem Kind über Mobbing. Am besten indirekt. Teilen Sie ihm mit, was Sie wahrnehmen. Zum Beispiel «Ich stelle fest, dass du nicht mehr so gern zur Schule gehst» oder «Ich habe das Gefühl, dass es dir nicht gut geht».
♦ Hören Sie genau zu, was Ihr Kind Ihnen erzählt, und relativieren Sie nicht die Gefühle des Kindes. Bei Mobbing braucht das Kind die Unterstützung der Eltern.
♦ Achten Sie auch auf körperliche Beschwerden wie Schlafprobleme und Appetitlosigkeit. Beachten Sie, ob sich das Medienverhalten des Kindes stark verändert, es Medien plötzlich viel intensiver oder kaum noch nutzt.
♦ Bleiben Sie objektiv und unterscheiden Sie zwischen Konflikt und Mobbing. Ein Konflikt kann ein Kind meist selbst lösen Mobbing nicht.
♦ Nehmen Sie körperliche Beschwerden ernst. Auch wiederholte Bauchschmerzen, Kopfweh, Prellungen, Appetitlosigkeit oder Schlafprobleme können Anzeichen sein.
♦ Schulverweigerung oder Suizidgedanken des Kindes müssen ernst genommen werden.
♦ Informieren Sie die Lehrperson oder die Schulleitung. Und holen Sie Hilfe bei Beratungs- und Anlaufstellen.
Bis zwei Opfer pro Klasse
In der Schweiz wird jedes zehnte Kind im Lauf der Schulzeit Opfer von Mobbing. Ein bis zwei Kinder pro Klasse sind also betroffen. Christelle Schläpfer ist individualpsychologische Beraterin und Elternbildnerin. Als Mobbingexpertin berät sie Eltern, löst Fälle an Schulen und bildet Fachpersonen aus. Die ehemalige Lehrerin sitzt an ihrem Pult in ihrer Praxis in Winterthur und hat sich eine Stunde Zeit für ein Online-Gespräch mit mir genommen. Sie erklärt mir das Phänomen noch einmal genauer: «Am einfachsten erklärt sich Mobbing im Unterschied zu einem Konflikt. Bei einem Konflikt geht es um unterschiedliche Meinungen, um Klärung von Besitzverhältnissen. Es geht darum, wer mehr, wer zuerst oder wer recht hat. Bei Mobbing aber geht es um ein Machtungleichgewicht. Mobbing kann das Opfer nicht selbst abwenden.»
Die Stiftung Pro Juventute beschreibt auf ihrer Homepage die Anzeichen und Auswirkungen von Mobbing bei Kindern und Jugendlichen so: «Es machen sich körperliche Beschwerden bemerkbar. Manchmal löst Mobbing auch Schlafprobleme und Appetitlosigkeit aus. Oder das Medienverhalten des Kindes ist anders und es nutzt Medien plötzlich viel intensiver oder kaum noch. Möglich ist auch, dass das Kind aus Angst nicht mehr in die Schule oder ins Training gehen will oder gar Suizidgedanken hat.»
«Die Klinik war damals wie Ferien für mich»
Ich treffe Lou im Innenhof eines grossen Shoppingcenters in Zürich. Er absolviert in einem Betrieb seit knapp einem Jahr eine Lehre als Informatiker und kommt direkt von der Arbeit. Er trägt ein bedrucktes T-Shirt, einen dunklen Rucksack. Wir holen uns etwas zu trinken und setzen uns auf eine freie Bank. Er beginnt sofort zu erzählen – von der Schule, der Klinik, der Ausbildung und von seinem Karatetraining. Er rede gern und offen über alles, versichert er mir: «Die Klinik war für mich damals wie Ferien, sie hat mir sehr geholfen», sagt er, «in die Schule hingegen ging ich nie gerne».
Er sei bereits am ersten Schultag frustriert gewesen, erzählt er mir. Alles, was die Lehrpersonen in der Schule an Lernstoff erklärten, wusste er schon. Er wollte nicht basteln, nicht kreativ sein, er wollte Mathematikaufgaben lösen; und zwar anspruchsvolle. Lou hat einen überdurchschnittlich hohen Intelligenzquotienten, wie Abklärungen später ergeben. «Ich habe von Anfang an keine Hausaufgaben gemacht. Ich sah den Sinn nicht ein, da ich unterfordert war», schildert er mir.
Seine Klasse sei schwierig gewesen. Zuerst hätten alle in der Klasse bis auf vier Kinder einen anderen Jungen gemobbt. Dieser Junge kam schliesslich in eine andere Schule. Lou habe ihm einmal geholfen, als er verfolgt wurde: «Das war der Anfang mit dem Mobbing gegen mich.»
Während ich Lous Erzählungen folge, erinnere ich mich auch an meine eigene Schulzeit. Es gab in meiner Schulklasse diesen einen Jungen, der nie an Partys eingeladen wurde. Der keine Freunde hatte, der in der Pause stets allein war. Wollte er sich anderen anschliessen, wurde er ignoriert, ausgelacht oder abgewertet. Die einen in der Klasse schlossen ihn aktiv aus, andere wie ich schauten einfach zu.
Jedes Kind das etwas anders ist, kann ein Opfer werden
Ich sammle meine Gedanken und konzentriere mich wieder auf Lou. Er schildert, wie ihn seine Mitschüler erst einen Streber nannten, dann «Hawking», wie den weltbekannten Physiker Stephen Hawking, der eine Behinderung hat. «Eigentlich harmlos, doch wenn du tausendmal am Tag so genannt wirst und über sehr lange Zeit, ist das enorm anstrengend und belastend», sagt Lou. Als die Mitschüler aufhörten, ihm Übernamen zu geben, war er erst erleichtert.
Doch die Ruhe hielt nicht lange an. Jetzt schlossen sie ihn überall aus: «Stand ich zu einer Gruppe, reagierte niemand, keiner redete mit mir, ich war inexistent, unsichtbar, ein Geist. Es fühlte sich an, als würde ich verschwinden.» Keiner lud Lou ein oder wollte in der Freizeit mit ihm abmachen, er war immer allein. «Und dann ist es regelrecht ausgeartet. Ich kann mich nur noch erinnern, wie ich in der Garderobe meine Schuhe band und mir ein Mädchen mit dem Fuss ins Auge kickte. Ich reagierte nicht, war wie in Trance, nahm alles hin. Zu Hause hatte ich dann aber emotionale Ausbrüche wegen allem.»
♦ «Hilfe bei Mobbing» bietet Familien und Schulen Unterstützung bei Fragen rund um das Thema Mobbing ➺ https://hilfe-bei-mobbing.ch/mobbing.
♦ Die Beratungsstelle Edufamily von Christelle Schläpfer bietet Mobbingberatung für Eltern und Schulen. ➺ https://edufamily.ch
♦ Informationen und Unterstützung zur Gewaltprävention: ➺ https://gewalt-praevention.ch
♦ Hilfe bieten auch die Jugenddienste in der Schweiz: ➺ www.skppsc.ch und www.projuventute.ch
♦ Hilfe am Telefon gibt es bei den kantonalen Opferberatungsstellen: ➺ www.opferhilfe-schweiz.ch, beim Elternnotruf ➺ www.elternnotruf.ch und bei der Notrufnummer der Pro Juventute für Jugendliche der: ➺ www.147.ch
«Es sollte einfach aufhören»
Lou schaut kurz auf die Uhr, in einer halben Stunde fährt sein Tram. Er erzählt mir, dass er jedes Mal durchdrehte, wenn ihn seine Mutter daran erinnerte, sein Ämtli zu machen. «Ich hatte mich nicht mehr im Griff, hasste das Leben und mich selbst. Ich wollte einfach nur noch, dass alles aufhört.» Lou suchte den Grund für das Mobbing vor allem bei sich.
Christelle Schläpfer erlebt immer wieder, wie die Opfer den Fehler bei sich suchen. Die Expertin differenziert: «Es gibt aktive und passive Opfer. Kinder wie Lou gehören zu den passiven, sie haben oft psychosomatische Beschwerden. Ihr Ventil sind zum Beispiel die Geschwister oder die Eltern.» Aktive aggressive Opfer hingegen schlagen zurück, wehren sich und haben Ausbrüche in der Schule.
Aktive Opfer seien oft Kinder, die zum Beispiel ein ADHS haben und impulsiv sind. «Sie werden von den Erwachsenen dann zu Unrecht als problematisch angesehen, dabei sind sie Opfer», sagt Schläpfer. Die Expertin weiss: Bei Mobbing ist es sehr wichtig, die Dynamik in der Klasse zu durchbrechen: «Mobbing in der Schule geht nie nur von einer Person aus. Es gibt die aktiven Rollen, die Zuschauerinnen oder die Mitläufer und auch die Rolle des Opfers – sie alle zusammen ermöglichen Mobbing.»
Auch Nicht-Handeln macht einem zur Mittäterin
Die letzten Jahre habe ich nie mehr an meinen Mitschüler gedacht. Nun kommt er mir bei all diesen Gesprächen wieder in den Sinn. Er entsprach nicht der «Norm», von der wir Kinder damals ausgingen. Wir empfanden sein Verhalten als «komisch», konnten es nicht einordnen, so gaben wir ihm die Schuld am Ausschluss aus der Klasse. Erst jetzt begreife ich: Ich war viel mehr Mittäterin, als ich mir damals eingestand. Ich war durch mein Nicht-Handeln beteiligt.
«Es gibt keine typischen Opfer wie früher angenommen», sagt Christelle Schläpfer. «Schulen, die behaupten, das Opfer sei schuld, ziehen sich aus der Verantwortung. Mobbing ist nie okay – egal, was das Opfer gemacht hat und wie es sich verhält.» Gemäss Schläpfer kann jedes Kind Opfer werden. Ein Mobbinggrund sei schnell gefunden – aufgrund der Religion, der Hautfarbe oder weil das Kind dick oder dünn, weil es gut oder schlecht in der Schule ist. Weil es einen speziellen Kleidergeschmack hat oder sich leicht provozieren lässt. «Doch nichts rechtfertigt diese Form der psychischen Gewalt», sagt Schläpfer.
Das Opfer nicht in den Fokus stellen
Sie betont, wie wichtig es ist, weder als Lehrpersonen noch als Eltern das Opfer in der Klasse in den Fokus zu stellen, das mache die Dynamik schlimmer. Taucht Mobbing auf, sollte die Lehrperson mit der Klasse immer indirekt vorgehen, über eine Geschichte zum Beispiel. «Es ist wichtig, sehr sensibel zu sein und sich allenfalls externe Hilfe zu nehmen.»
Rebecca Boettcher ist Sozialpädagogin und integriert Mobbingprävention in ihre Kinderyogakurse. Wir treffen uns zum Mittagessen in einem Restaurant in Zürich. Ihr ist es wichtig, in ihren Kursen das Selbstwertgefühl jedes Kindes zu stärken. «Opferprävention ist genauso Täterprävention: Bei Mobbing geht es um Grenzverletzungen und darum, Grenzen zu setzen», sagt sie. Boettcher arbeitet in ihren Kursen über den Körper: «Ein aufrechter Gang, fest und stabil auf den Füssen zu stehen, das signalisiert auch: Ich bin selbstbewusst und stark.» Auch das sei sowohl Opfer- wie auch Täterinnenprävention. Denn Täter handeln sehr oft aus einem mangelnden Selbstbewusstsein heraus und brauchen ebenso Hilfe.
Enttäuscht von der Schule
Lou erzählt mir zum Abschluss, wie gut es ihm heute geht. Aber wenn er zurückdenke, sei er enttäuscht von seinen Lehrpersonen: «Ich gebe den Lehrern nicht die Schuld. Ich denke, sie sind einfach zu sehr in ihrer eigenen Welt und haben Angst vor Belastungen. Es ist auch gut möglich, dass sie wirklich nichts bemerkt haben. Aber wenn ein Schüler und die Eltern immer wieder um Hilfe bitten, sollte eine Schule das ernst nehmen.»
Und wie es meinem Mitschüler heute geht? Ich weiss es nicht. Ich habe ihn nicht kontaktiert, auch nach der Arbeit an diesem Artikel nicht. Zu unsicher bin ich mir, ob es bei ihm nicht alte Wunden aufreisst. Klarer hingegen ist mir geworden: Vermutlich wäre er kein Opfer geworden, wäre der Selbstwert jedes einzelnen Jugendlichen in meiner Klasse grösser gewesen. Auch meiner. Dann hätte ich vielleicht den Mut gefasst, mich für ihn starkzumachen.
*Name geändert
Marah Rikli ist freie Autorin, Moderatorin, ehemalige Buchhändlerin und aktive Speakerin für Diversität und Inklusion. Sie lebt mit ihrer Patchworkfamilie in Zürich. Und lancierte kürzlich ihren eignen Podcast Podcast Sara & Marah im Gespräch mit…