Früherziehung
Was macht eine Früherzieherin?
Von Manuela von Ah Fotos Elisabeth Real
Jason (2½ Jahre) fehlte unter der Geburt Sauerstoff. Die Früherzieherin Anne Steudler übt mit ihm Spielen, Singen und Ankleiden – und zeigt den Eltern, wie sie ihr behindertes Kind unterstützen können.
Jason erforscht die Welt. Der Zweijährige rutscht auf dem Po zur gläsernen Schiebetüre, patscht mit der Hand gegen die Scheibe – und quietscht vor Begeisterung, als Anne Steudler (45) es ihm nachtut. Die Früherzieherin hat sich neben Jason auf den Boden gelegt und ruft bei jedem sanften Schlag ans Fenster «Bumbum, bumbum». Sie klopfen abwechselnd und bald mit beiden Händen an die Scheibe, schaukeln sich hoch in einen Rhythmus, der sie alles um sich herum vergessen lässt. Doch Anne Steudler trommelt nicht einfach selbstvergessen mit – sie taucht in Jasons Welt mit der Absicht, ihn zu fördern. Mit ihrem «Bumbum» etwa unterstreicht sie den Klang, der das Klopfen erzeugt.
Früher blieben behinderte Kinder zu Hause, bis die überforderten und erschöpften Eltern sie in ein Heim gaben. Wo sie den Rest ihres Lebens verbrachten. Vor rund 50 Jahren schlossen sich deshalb betroffene Mütter und Väter zusammen und forderten Unterstützung. So entstand die Heilpädagogische Früherziehung (HFE). Bis vor zehn Jahren von der Invalidenversicherung getragen, ist mittlerweile jeder Kanton verpflichtet, HFE anzubieten. Denn längst ist wissenschaftlich erwiesen: Je früher ein in der Entwicklung verzögertes Kind und seine Eltern begleitet und gestärkt werden, desto weiter kommt es und desto eher kann es die Kita und den Kindergarten besuchen.
Kira Schneider (28) guckt vom Sofa aus konzentriert auf die Szene – und lacht hell auf, als sie sieht, wie fröhlich ihr Kind Neuland entdeckt. Und sei es bloss die Wohnzimmerscheibe. Jasons Entwicklungsschritte sind klein – aber jeder Schritt ist ein grosser für die Eltern. Ihr Sohn erlitt mangels Sauerstoff Stunden nach der Geburt Hirnschäden und epileptische Anfälle. Statt von der Geburtsklinik nach Hause zu fahren, wurde das Baby auf die Intensivstation des Inselspitals in Bern verlegt. «Dort erklärten uns die Ärzte, Jason sei mittel- bis schwerbehindert», erklärt Kira Schneider. In dieser Radikalität liess die Mutter die Diagnose nicht gelten. Zumal die Hoffnung letztlich immer das stärkere Argument ist. «Man weiss ja nie genau, welche Funktionen andere Gehirnregionen für die beschädigten Gehirnteile übernehmen können», sagt sie. Mit ihrem Optimismus macht Kira das halb leere Glas stets von Neuem zu einem halb vollen. Die Kraft und Zeit, die sie als Mutter neben ihrer Teilzeitarbeit als Verkaufsberaterin für ihr Kind aufwendet, reicht auch gar nicht aus, um mit dem Schicksal zu hadern. Sie schaut vorwärts, erklärt auf dem Spielplatz offensiv, weshalb ihr Kind noch nicht das Gerüst hochklettert oder wie andere Kinder lauthals «Mama» ruft.
Jasons Entwicklungsalter entspricht etwa demjenigen eines 1-jährigen Kindes: Er robbt auf dem Po, isst Brei und spricht noch nicht. Hirnorganisch sind bei ihm die Grob- und Feinmotorik beeinträchtigt, vor allem auf der rechten Körperseite. Emotional aber spielt der Junge auf der ganzen Klaviatur. Als Papa Mathias (32) jetzt frühzeitig von der Arbeit zurückkehrt, reisst Jason seine Ärmchen in die Luft und gluckst vor Freude. Beim Hochheben gucken sich zwei Augenpaare innig an. Dann drückt Mathias seine Frau zur Begrüssung an sich und setzt sich zur Gruppe auf den Boden.
Anne Steudler hat derweil Bäbi Tina aus ihrer Berufstasche gezogen. Arbeit steht an: Die Hose ausziehen, das Pullöverchen über den Puppenkopf stülpen – das ist schwierig. Jason zupft und zerrt. Anne Steudler hilft etwas nach und benennt dabei überdeutlich jeden Handgriff und jedes Kleidungsstück. So sollen Handlung und Sprache in Jasons Gehirn verknüpft werden. Als die Früherzieherin den Jungen auffordert, Tinas rote Schühchen seiner Mutter zu überreichen, klopft sie sich dabei zweimal mit der Faust leicht auf ihre Wange und sagt «Mama». Seit einigen Wochen baut sie die Lautsprache unterstützende Gebärden in die Arbeit ein. Jason hört zwar ganz normal, aber von der vorsprachlichen zur sprachlichen Kommunikation können die Gebärden dennoch als Überbrückungshilfe dienen. Durch den visuellen Reiz erleichtern sie das Sprachverständnis.
Was aber bedeutet Früherziehung genau? Töpfchen-Training? Anstand und Sittlichkeit lernen? «Erziehen können wir unser Kind doch selber!», denken oder äussern manche Eltern, wenn sie den etwas ältlich anmutenden Begriff das erste Mal hören. Auch Kira erging es so, als der Kinderarzt ihr vor eineinhalb Jahren dazu riet, neben Physiotherapie und Logopädie auch HFE für Jason in Anspruch zu nehmen. Kira googelte und telefonierte mit dem kantonalen Früherziehungsdienst – und war beruhigt. HFE ist freiwillig und für die Eltern kostenlos. Mit aufgezwungener Erziehungsmassnahme hat das Angebot nichts zu tun. Früherzieherinnen wie Anne Steudler begleiten und fördern Kinder im Vorschulalter, die in ihrer Entwicklung beeinträchtigt, verzögert oder gefährdet sind. Das Ziel ist es, die vorhandenen Ressourcen des Kindes auszuschöpfen, seine Entwicklung anzuregen und es zu einem möglichst selbstständigen und selbstbestimmten Leben zu befähigen.
Das Kind steht zwar im Mittelpunkt, die Eltern werden aber stark miteinbezogen. Denn letztlich sind sie es, die es am besten kennen. Kira hat mittlerweile begonnen, Duplos in den gelben Lader des Lastautos zu türmen. Anne Steudler steckt die farbigen Bausteine zusammen und überreicht diese Jason mit der Aufforderung, diese wieder auseinanderzuklauben. Anstrengende Arbeit für den Kleinen – aber er bleibt hartnäckig dran. Und überreicht jeden erfolgreich gelösten Farbstein seiner Mama. Im Spiel lernt der Mensch, erst recht der kleine.
Anne Steudler war lange Ergotherapeutin, bevor sie den Master in Heilpädagogischer Früherziehung anhängte und nun seit einigen Jahren beim Früherziehungsdienst des Kantons Bern arbeitet. Eine Herausforderung und zugleich die schönste Seite des Berufes sind die unterschiedlichen Menschen und ihre Lebenswelt: «Ich besuche jede Familie ohne Vorurteile und versuche mit ihr einen Weg zu gehen, den sie selbstständig fortführen kann.»
Manchmal leben Familien sehr isoliert, gehen kaum nach draussen. Stattdessen sitzen selbst Kleinkinder über Stunden vor dem Fernseher oder fingern übers iPad. Meldet ein Kinderarzt, der Kinderpsychiatrische Dienst oder die Mütter- und Väterberatung ein Kind zur Abklärung an, ist nicht immer klar, ob eine Erkrankung oder eine Behinderung hinter der verzögerten Entwicklung steht, oder ob die Auffälligkeiten mit dem Umfeld zu tun haben.
Bei Schneiders ist die Sachlage klar: Jason wurde mit einer Beeinträchtigung geboren, mit «schwierigem Umfeld» haben die Entwicklungsverzögerungen bei ihm nichts zu tun. Im Gegenteil: Die Eltern engagieren sich stark für ihr Kind und stützen sich gegenseitig. «Schlimm wäre für mich», sagt Kira einmal während des Gesprächs, «wenn Jason in die Sonderschule müsste.» «Ach was», wendet Mathias ermunternd ein, «das wäre doch nicht tragisch!» Die zuversichtliche Haltung ihres Mannes beruhigt Kira.
Als die Eltern kurz nach Jasons Geburt auf Empfehlung des Inselspitals eine Psychologin aufsuchten, schickte diese das Paar nach zwei Sitzungen wieder weg mit der Bemerkung, sie kämen auch ohne sie zurecht. «Was stimmte!», ruft Kira und lacht. «Mathias und ich sind ein gutes Team – wenn ich weine, tröstet er mich, wenn er weint, bin ich diejenige, die ihn aufmuntert.»
Im Glück und Unglück verbunden, tragen beide ein Tattoo mit Jasons Geburtsdatum am Oberarm.
Trotz Verbundenheit und Lebenskraft sind die Eltern aber froh um den wöchentlichen Besuch von Anne Steudler: «Jasons Zustand hat sich deutlich verbessert», schwärmt Kira, «wir lernen jedes Mal dazu.» Auch der Spassfaktor ist nicht zu unterschätzen. Als Jason das Plastikfläschchen sieht, das Anne Steudler aus ihrer Zaubertasche gezogen hat, stösst er fröhliche Quietscher aus. Er weiss, was folgt. Seine mittlerweile so vertraute Anne pustet Seifenblasen ins Wohnzimmer, er darf danach greifen und sie zerplatzen lassen. Alle um Jason herum klatschen.
Fortschritt und Erfolg hängen eben nicht an einer universalen Messlatte. Sie beglücken dort, wo sich Eltern über die Entwicklungsschritte ihres Kindes freuen.