Sexuelle Idenität
Queer: «Es vor mir selbst einzugestehen war das Schlimmste»
Lara ist lesbisch, Luc ist trans, River ist non-binär und Leona liebt Frauen und Männer. Vier junge Menschen, die zwischen den gängigen Geschlechternormen ihren Weg suchen.
Lara, 20, lesbisch, besucht die Kantonale Maturitätsschule für Erwachsene
Ich bin in einem Umfeld aufgewachsen, das dominiert war von Heterosexualität und checkte lange nicht, dass meine Gefühle für manche Mädchen und Frauen mehr bedeuteten als reine Zuneigung oder Freundschaft. Mit 15 verliebte ich mich in eine Schulfreundin, glaubte aber, das würde wieder weggehen. Bis dahin hatte ich mir vorgestellt, später mal mit Mann, Kind und Hund im eigenen Haus zu leben. Mein Self-Coming-out war deshalb für mich viel schwieriger als das Coming-out in der Familie oder unter Freunden.
Der Moment, als ich mir selber eingestand, nicht hetero zu sein, sondern auf Frauen zu stehen, war schlimm, ich musste mega weinen. Zum Glück konnte ich mit meiner Mutter darüber reden, sie ist meine engste Vertraute. Eine Weile lang hielt ich noch am Label bisexuell fest. Heute denke ich, dass ich mir die Möglichkeit offenhalten wollte, doch noch etwas mehr der Norm zu entsprechen. Obwohl mich Frauen körperlich anzogen, fühlte es sich für mich am Anfang nicht natürlich an, lesbisch zu sein.
Kein Wunder, denn in meiner gesamten Schulzeit war queer-sexuelle Liebe nie ein Thema, bis heute nicht. Unsere Schulbücher sind voll von heterosexuellen Menschen und nicht einmal in meiner reinen Mädchenklasse an der Fachmittelschule sprachen wir im Sexualunterricht über lesbischen Sex; einzig als es um den Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten ging, wurde er erwähnt. Der Bildungsteil zum Thema Geschlecht müsste in der Schule eindeutig grösser sein und queere Themen einschliessen. Denn es ist für alle nicht ganz einfach, sich mit der Vielfalt zurechtzufinden, nicht nur für die ältere Generation.
Luc, 19, trans, lernt Forstwart
In meiner Erinnerung war ich ein komplett normales Kind. Ich bin gerne auf Bäume geklettert und habe viel gezeichnet. Ich fand, ich hätte auch ein Bub sein können, doch, Buben haben keine langen Haare, sagte man mir. Genauso wenig wie Brüste. Später, in der Pubertät, verrieten sie mich, auch wenn ich einen viel zu engen Sport-BH trug, um sie zu verstecken.
Dass ich trans bin, war mir lange nicht klar. Ich hatte zwar im Internet viel darüber gelesen, weil ich eine Person kannte, die sehr androgyn war und mich faszinierte. Doch das gängige Narrativ in den Medien ist, dass es Trans-Menschen vor dem Wechsel sehr schlecht geht und danach sehr gut. Mir selbst ging es ganz o.k. Erst als ich jemanden kennenlernte, der trans war und psychisch ebenso normal wie ich, wusste ich, das bin ich auch. Bald schon nannte ich mich Luc. Im Gymi war das kein Problem. Meine Mutter tat sich etwas schwerer damit und ich musste sie ein paarmal ignorieren, bis sie mich beim neuen Namen nannte.
Doch grundsätzlich standen meine Eltern schnell hinter mir. Dass ich von einer Psychologin ein Gutachten brauchte, um meine Brüste entfernen lassen zu können, fand ich sinnvoll. Es tat mir gut, darüber zu reden und eine gewisse Absicherung zu haben. Umgehauen hat mich, als die Krankenkasse die Kostenübernahme für die OP ablehnte, weil ich vorerst keine Hormontherapie machen wollte. Vor einem Jahr willigte ich schliesslich ein, Testosteron zu nehmen. Meine Stimme wurde tief und darüber bin ich mittlerweile sehr froh. Auch dass die Krankenkasse endlich das OK für die OP gab.
Seit ich fast nur noch männlich gelesen werde, spiele ich viel lieber mit den Geschlechterstereotypen. Ich fühle mich wohler, die Kleider zu tragen, die mir gefallen, auch wenn sie als feminin wahrgenommen werden; ich lackiere mir sogar manchmal meine Fingernägel. Ich kann jetzt endlich ich selbst sein und muss mich nicht mehr verstellen, um männlich gelesen zu werden. Seit einem Jahr mache ich eine Lehre als Forstwart und fühle mich im Job sehr akzeptiert. Kürzlich dachte ich, eigentlich ist es schade, dass ich keine Frau bin, hätte ich doch die Frauenquote im Beruf anheben können.
River, 14, non-binär, besucht die Sekundarschule
So richtig wissen tue ich es seit einem dreiviertel Jahr. Schon als Kind hat es mich verwirrt, dass meine Eltern mit mir beim Kleiderkaufen nur in die Jungsabteilung gingen, und wenn wir in der Schule in Mädchen- und Jungsgruppen aufgeteilt wurden, hatte ich immer ein komisches Gefühl. Gehöre ich wirklich dazu, fragte ich mich? Als ich in die Pubertät kam, merkte ich, dass ich nicht wirklich ein Mann sein wollte. Aber auch keine Frau. Etwas dazwischen. Oder darüber.
Ich habe dann ausprobiert, wie mich die Leute ansprechen sollen und fühlte mich am wohlsten, wenn man mich nicht gendert. Im Internet suchte ich nach einem Namen und nenne mich seither River, ausser in der Schule. Dort getraue ich mich noch nicht, es zu sagen, aber ich überlege es mir die ganze Zeit. Meine schlimmste Befürchtung ist, dass mir Transe nachgerufen wird, das würde mich sehr verletzen. Ich bezeichne mich als bi- oder pansexuell, denn ich stehe auf Buben und auf Mädchen.
Seit ich meine non-binäre Identität gefunden habe, weiss ich viel genauer, wer ich bin, was ich gerne mache und wohin ich im Leben will. Ich bin jetzt viel glücklicher als vorher. Etwas schwierig ist, dass kürzlich mein Bartwuchs begonnen hat; der Bart ist ein typisches Erkennungsmerkmal eines Mannes. Meine tiefe Stimme stört mich aber nicht. Vielleicht sollte ich anfangen, mich zu schminken, um den männlichen Gender-Ausdruck zu verwischen. Bis jetzt bin ich noch nicht dazu gekommen, schminken braucht viel Zeit.
Ich wünsche mir, dass es mehr Platz gibt zwischen den Klischees von männlich und weiblich. Dass es neben den Toiletten und Umkleidekabinen für Frauen und Männer auch solche für alle gibt. Und dass man die Leute fragt, mit welchem Pronomen sie angesprochen werden wollen. Ich selbst möchte keine Pronomen, muss aber noch herausfinden, wie das am besten geht. Gender-queer zu sein, ist zwar noch nicht richtig akzeptiert, aber wir müssen uns nicht mehr so verstecken. Deshalb bin ich sehr froh, in der heutigen Zeit geboren zu sein.
Leona, 19, bisexuell, Reisebüro-Kauffrau
Es gab nicht den einen Moment, du checkst erst im Nachhinein, dass du nicht der Hetero-Norm entsprichst. In der vierten Klasse kannte ich einen Bub, mit dem ich mich besonders gut verstand und der mein Kinder-Freund wurde. Später war ich in einen Jungen verknallt, der wie ich auch Fussball spielte. In der Sek wurden die Jungs dann ein bisschen schwierig. Der Schulsozialarbeiter war in unserer Klasse dauer-präsent und von da an war ich fast nur noch mit Mädchen zusammen, auch in der Freizeit.
Als ich etwa 16 war, merkte ich, dass ich mich von einem Mädchen körperlich angezogen fühlte und sie sich von mir. Das verwirrte mich und es dauerte ein Weilchen, bis ich darüber reden konnte. Ich musste mir selber zuerst klar werden, was die Gefühle bedeuteten. Seit einem Jahr habe ich eine Freundin. Wir wurden zuerst beste Kolleginnen und sind einfach mega gern zusammen. Am Anfang getrauten wir uns noch nicht, uns überall als Paar zu zeigen, gerade auch bei Leuten, die wir kannten. Darüber redeten wir viel miteinander und heute verstecken wir uns kaum mehr.
Wenn wir aber demnächst mit Interrail durch Europa reisen, werden wir Länder meiden, wo nicht-heterosexuelle Paare weniger toleriert sind. Ich schliesse nicht aus, dass ich irgendwann später einen Freund haben werde. Sicher weiss ich, dass ich mal Kinder möchte. Schwierig finde ich, dass immer nur gefragt wird, hast du einen Freund? Immer öfter getraue ich mich nun zu antworten: «Nein, aber eine Freundin.» Wenn das Gegenüber darauf nichts sagt, fühle ich mich unwohl; wäre ich hetero, kämen bestimmt weitere Fragen.
Am liebsten würde ich gefragt: Bist du in einer Beziehung? Oder: Hast du einen Freund oder eine Freundin? Es würde Offenheit signalisieren. Ich finde, dass alle Menschen viel freier sich selbst sein können sollten, so wie an queeren Partys und Festivals. Da ist so viel Liebe in der Luft!
Die Sonderausstellung «Queer – Vielfalt ist unsere Natur» des naturhistorischen Museums Bern gibt Einblick in die Vielfalt der Geschlechter und sexuellen Ausrichtungen bei Tieren und Menschen. Bis 19.3.2023. ➺ nmbe.ch/queer
Die Milchjugend ist die grösste Jugendorganisation für queere Menschen in der Schweiz und feiert im Juli ihr 10-jähriges Bestehen. Die Community liest das Milchbüechli, feiert an der Milchbar oder geht gemeinsam auf Milchreise. ➺ milchjugend.ch
Du-bist-du ist eine Beratungsplattform von jungen Menschen für junge Menschen und wurde von Sexuelle Gesundheit Zürich und dem Checkpoint Zürich ins Leben gerufen. ➺ du-bist-du.ch
Veronica Bonilla wollte früher Fallschirmspringerin werden. Seit sie den freien Fall bei der Geburt ihrer Kinder erlebt hat, hat sich dieser Wunsch in Luft aufgelöst. Übergänge und Grenzerfahrungen faszinieren sie bis heute. Dabei liebt sie es, um die Ecke zu denken und sich davon überraschen zu lassen, was dort auftaucht. Und stellt immer wieder fest, dass ihr Herz ganz laut für die Kinder schlägt. Sie war bis 2022 auf der Redaktion fest angestellt, seither als Freie für das Magazin tätig.