Erziehungsratgeber
Was Sie über Ratgeber für Eltern nicht wussten
Mütter lesen viel Elternliteratur, Väter fast keine. Warum eigentlich? Setzen wir das Gelesene auch um? Und wann wurde Erziehung überhaupt zur Expertensache? Ein paar überraschende Erkenntnisse.
Braucht man fürs Erziehen eigentlich den Ratgeber auf dem Nachttischchen? Das könnte man jedenfalls meinen, wenn man sich die Fülle der Erziehungsbücher vor Augen führt: Etwa 1400 Titel gibt es derzeit auf dem deutschen Buchmarkt. Fast jede Woche kommt ein neuer hinzu. Selbst wer gar nicht vor hatte, Erziehungsliteratur zu lesen, wird damit konfrontiert.
So hat es jedenfalls der Münchner Christian Zeller erlebt. Er ist früh Vater geworden und wurde regelmässig gefragt, ob er denn schon entsprechende Ratgeber gelesen habe. Erziehung war offenbar etwas, das man sich mit Büchern erarbeiten musste. «Andernfalls geriet man schnell in den Verdacht, verantwortungslos zu handeln», erzählt der Soziologe. Das Thema beschäftigte den Wissenschaftler auch noch, als sein Studium zu Ende und sein Sohn grösser war. Zeller beschloss, dem erfolgreichen Buchgenre in seiner Dissertation auf den Grund zu gehen. Daraus stammen sechs Erkenntnisse:
Zum Ratgeber greifen heute vorwiegend gut ausgebildete und gut verdienende Mütter mittleren Alters. Das war nicht immer so: Im Mittelalter und der frühen Neuzeit hatten sich Erziehungstraktate explizit an die Väter gewandt – sie galten als zuständig für die seelische und geistige Entwicklung des Kindes. Ab dem 17. Jahrhundert begannen sich Schriften jedoch überwiegend an Mütter zu richten. Zu Beginn wurden sie von Priestern, Mönchen und Literaten verfasst, später von Medizinern und Pädagogen, Psychologen und Neurowissenschaftlern. Stets waren es hauptsächlich Männer, die Frauen Ratschläge erteilten. Daran hat sich bis heute wenig geändert.
♦ Erfolgreichster Ratgeberautor ist der Amerikaner Benjamin Spock: «The Common Sense Book of Baby and Child Care» (1946) verkaufte sich über 50 Millionen mal.
♦ Von Spanien bis China wird auch «Babyjahre» (1993) vom Schweizer Remo Largo gelesen.
♦ Europas berühmtester Familientherapeut ist der Däne Jesper Juul, der im Juli 2019 verstorben ist. Auf Deutsch sind 34 Titel von ihm erhältlich.
♦ Seit 2008 erzielt der deutsche Kinderpsychiater Michael Winterhoff hohe Verkaufszahlen – erntet aber auch viel Kritik aus der Fachwelt.
Im Gegensatz zu Beratungsstellen werden Ratgeberbücher auch ohne konkrete Krise im Familienleben konsultiert. Gelesen wird primär aus dem Wunsch, sich von der Erziehung der eigenen Eltern zu distanzieren. Der Ratgeber soll helfen, den eigenen Kindern feinfühliger und aufmerksamer zu begegnen, als es einst die eigenen Eltern taten. «Die Eltern-Kind-Beziehung wird zu einer Zone fortwährender pädagogischer Anregung», schreibt der Soziologe. Eingeschliffenen Abläufen und unreflektierten Routinen wird entsprechend misstraut: Sie werden zum eigentlichen Problem des gewöhnlichen Familienalltags.
Mütter greifen aber auch zum Ratgeber, wenn sie mit der Erziehung ihrer Eltern ganz zufrieden waren. Das Gelesene dient hier mehr der Rückbestätigung eines Erziehungswissens, das man bereits für gut befunden hat. Wie die anderen Mütter streben jedoch auch diese Leserinnen danach, die eigenen Kinder noch bewusster und einfühlsamer zu begleiten, als es die Generation davor tat. Ein Genug an Sensibilisierung gibt es offenbar nicht.
Für seine Dissertation suchte Christian Zeller Gesprächspartner beiden Geschlechts, doch auf seinen Aufruf meldeten sich nur Mütter. Ein Vater, der bei einem der Interviews dabei war, erklärte sein geringes Interesse an Erziehungsliteratur damit, dass er sich bei der Erziehung ganz auf seine Intuition verlasse. Schliesslich kenne er sein Kind besser als jedes Buch, das lediglich allgemeine Ratschläge formulieren könne.
Der Vater führt also in Erziehungsfragen selbstsicher sein Bauchgefühl an. Die Mutter hingegen «liest lieber nochmal nach», um reflektiert und informiert zu handeln.
Das sei geradezu eine Umkehr der polarisierten Geschlechterrollen, die im 19.Jahrhundert entstanden, stellt der Soziologe fest: Hier der Mann, dessen rationales Wesen ihn im Draussen der Geschäftswelt verortet. Da die Frau, deren naturgegebene Intuition sie für das Drinnen bei Familie und Kindern prädestiniert.
Selbst wenn Frauen in Ratgebern heute kaum mehr explizit diese Rolle zugewiesen werden dürfte – die vermeintlich allgemein gehaltene Erziehungsliteratur scheint sich doch weiterhin an Mütter zu richten. Dafür spricht laut Zeller auch, dass seit einiger Zeit ausdrücklich an Väter adressierte Ratgeber existieren. Sie fühlen sich offenbar von den anderen nicht angesprochen.
Obwohl die Bücher von Benjamin Spock, Jesper Juul und Remo Largo in vielen Familien allgegenwärtig sind, betonen die interviewten Mütter, die entsprechenden Ratschläge keineswegs blind in den Alltag zu übernehmen. Man müsse das Gelesene mit eigenen Erfahrungen und seiner Intuition abstimmen. Ratschläge werden als Anregungen verstanden, die übernommen werden können, aber nicht müssen.
Zu grosse Expertenhörigkeit verhindert nicht zuletzt das Leben selbst: Mit seinen Schichtplänen und Zahnarztterminen, müden Geschwistern und gefährlichen Bahnübergängen schafft es selten derart ideale Bedingungen, in denen sich sämtliche Ratschläge mühelos umsetzen liessen.
Die Geschichte des modernen Ratgebers beginnt im 17. Jahrhundert: In der Aufklärung soll Erziehung nicht mehr einfach geschehen, sondern auf der Grundlage von wissenschaftlichen Erkenntnissen gestaltet werden.
Ab dem 20. Jahrhundert wird Kritik an dieser starken Ausrichtung an der Wissenschaft laut. Nun treten die Autoren nicht mehr als unanzweifelbare Experten auf; sie relativieren den Geltungsanspruch ihrer Bücher gleich selbst und bringen sich damit in eine widersprüchliche Lage: Einerseits warnen sie vor zu grosser Expertengläubigkeit und legen ihren Leserinnen nahe, das Gelesene kritisch zu beurteilen.
Andererseits legitimiert ja genau ihr Expertenstatus überhaupt erst ein solches Urteil. Anders gesagt: Die Aufforderung, einem Ratschlag nicht blind zu folgen, ist eben genau das: ein Ratschlag.
Eltern erhoffen sich von Erziehungsbüchern nicht nur, ihr Kind besser zu verstehen. Manchmal sollen Ratgeber auch helfen, dessen Anlagen, Talente und Leidenschaften zu stärken.
Im Wunsch nach einem Ort, an dem die Dreijährige nach Herzenslust in Farbtöpfe greifen und ihrer Kreativität freien Lauf lassen kann, schwingt auch ein gewisses Unbehagen gegenüber einer kapitalistischen Gesellschaft mit, die nur fördert, was messbaren Nutzen bringt.
Nur geht laut Soziologe Zeller dabei oft vergessen: Der Kapitalismus hat genau diesen Wunsch nach Glück, Authentizität und Spontanität längst in sein heutiges Gewand integriert. Obwohl also die wenigsten Eltern mit der expliziten Absicht zum Ratgeber greifen, aus ihren Kindern ökonomisch nutzbringende, wettbewerbsfähige Bürger zu machen, bereiten sie sie doch letztlich genau darauf vor.
Gerade, indem sie in ihrer individuellen «Glückseligkeit» gefördert werden, sollen Kinder, gewissermassen hinter ihrem Rücken, zur ökonomischen Gesamtwohlfahrt beitragen.
Demokratischer Erziehungsstil
Was also tun angesichts all der Widersprüche, all der Vielfalt? Trotz unterschiedlichster Schwerpunkte vertreten die Elternratgeber der vergangenen Jahrzehnte fast durchgehend einen demokratischen, kindzentrierten Erziehungsstil, wie Christian Zeller in seiner Arbeit schreibt. Die Vermittlung von Selbstachtung und Einfühlungsvermögen, von Neugierde und Kreativität steht im Zentrum, und nicht zuletzt: die liebevolle Beziehung zwischen Eltern und Kindern.
So wenig Eltern verpflichtet sind, Erziehungsratgeber zu konsultieren, so wenig Grund gibt es, ihnen ganz abzuschwören. Vielleicht muss man sich beim Lesen einfach in Erinnerung rufen: Dass sich alles stets noch besser machen liesse, bedeutet keineswegs, dass nicht ausreicht, was tatsächlich ist. Aber auch das steht längst in einem Ratgeber.