Eltern-Kind-Beziehung
Nach der Trennung vom Vater entfremdet
Zu oft verhindern Mütter nach dem Liebes-Aus, dass ihr Kind zum Vater weiterhin eine liebevolle Beziehung pflegt. Wie sie vorgehen und was das mit einem Kind macht, erzählt dieser Beitrag exemplarisch anhand von Noahs Geschichte. Er ist sechs Jahre alt. Er liebt seinen Vater. Doch er will ihn nicht mehr sehen. Die Geschichte einer Entfremdung.
Für die psychische Gesundheit der Kinder ist es dringend nötig, die Entfremdung zu unterbrechen und den Kontakt zum entfremdeten Elternteil wieder herzustellen. Das haben verschiedene Studien ergeben. Sei es durch vorgeschriebene Mediationen, Eltern-Kind-Wiedervereinigungs-Programme oder, im äussersten Fall, durch einen Wechsel des Sorgerechts. Die Studien zeigen, dass sich die Kinder sehr bald wieder emotional mit dem zurückgewiesenen Elternteil verbunden haben. Die wiedererweckte Eltern-Kind-Beziehung wurde von Betroffenen von «viel besser» bis «wieder sehr gut» beschrieben.
Noah schaut nicht auf, als sein Vater das Wohnzimmer betritt. Flink fliegen seine Finger weiter über die Konsole, Rennautos brausen über den Bildschirm. Es ist zwei Wochen her, seit der Vater das letzte Mal da war. Als er sich jetzt zu ihm setzt, rutscht Noah* ein Stück weg. Auf die Fragen, wie es ihm gehe und ob es schön sei im Kindergarten, antwortet er mit «gut» und «mhm». «Wir müssen gleich los», sagt die Mutter. «Ziehst du dich an? Oder willst du mit Papi mitgehen?» Das will Noah schon lange nicht mehr. Er steht auf und tut, worum ihn die Mutter gebeten hat. Der Vater sieht müde aus. Auf einer Kuscheldecke am Boden liegt Noahs Hund, er zerkaut mit den Zähnen ein Stofftier. Beides, Decke und Stofftier, waren Geschenke für Noah. Vom Vater.
Beim Abschied gibts keine Umarmung, keinen Kuss. Nicht einmal mehr ein kumpelhaftes Schulterklopfen. Noah weicht aus, vermeidet jeden Köperkontakt. Der Vater verlässt die Wohnung. «Bis bald», ruft er Noah zu. Keine Reaktion.
Noch vor einem Jahr war alles anders. Da fiel ihm Noah um den Hals, wenn er ihn abholen kam. Er hüpfte von einem Bein aufs andere. «Was machen wir heute?» An Papa-Tagen gings oft raus ins Freie. Sie machten Feuer, liefen durch Bäche, spielten Verstecken. Mit roten Wangen und verschwitzten Haaren hielt er die Hand seines Vaters. Zusammen gingen sie zu der kleinen «Männer-Bude», wie sie die Wohnung des Vaters nannten. Sie kochten Spaghetti und verbrachten den Abend mit Spielen oder Fernsehen gucken. «Bester Papa der Welt» schrieb Noah mit krakliger Schrift und Schreibfehlern auf eine Zeichnung. Darunter hat er einen grossen Mann gemalt, mit dunklen Haaren. «Papa» steht dort. «Noah» unter dem Jungen mit den blonden Wuschelhaaren. Die Zeichnung tacken sie mit Magneten an die Kühlschranktür. Dort hängt sie heute noch. Noah war schon lange nicht mehr hier. Was bleibt, ist Leere. Erinnerung. Schmerz. Trauer. Hilflosigkeit. Wut.
Pro Jahr werden 500 bis 700 Kinder von einem Elternteil entfremdet. Laut Kokes, der Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz, sind jedes Jahr rund 12400 Kinder von einer Scheidung oder Trennung betroffen. Etwa fünf Prozent davon verlaufen hochstrittig. In solchen Fällen findet oft Entfremdung statt, in rund 90 Prozent durch die Mutter.
Die Gründe, warum ein Kind sich von einem geliebten Elternteil abwendet, können laut der Kindesschutz Organisation Schweiz Kisos Schuldgefühle, Loyalitätskonflikte und Verlustängste sein. Das Kind steht im Mittelpunkt des Elternkonflikts, denkt, es sei der Anlass zum Streit und gibt sich die Schuld daran. Dabei erlebt es widersprüchliche Gefühle. Es möchte beide Eltern sehen. Spricht es aber seine Gefühle aus («Ich will zu Papa»), hat es Angst, die Mutter zu verletzen, traurig zu machen und/ oder sie zu verlieren. Das Kind übernimmt die Gefühle desjenigen Elternteils, bei dem es häufiger ist. Es spaltet sich, auch aus Selbstschutz, von dem ausserhalb lebenden Elternteil ab.
Noah war kein Wunschkind. Doch die Eltern lieben das Baby. Die Mutter geht voll in ihrer Aufgabe auf, der Vater geht zur Arbeit. Nichts traut sie dem Mann zu, beim Wickeln ist sie genauso dabei wie beim Spielen. Alle Bestrebungen, mit Noah allein etwas zu machen, laufen ins Leere. Bei Konflikten knallt sie die Tür. Nach der Trennung erlaubt sie nicht, dass er ihn zu sich nach Hause nimmt. Der Vater besucht das Kind bei ihr daheim.
Die Kesb entscheidet für Vater und Sohn, verfügt als Erstes einen mehrstündigen Aufenthalt, jeden zweiten Samstag. Ab dem Kindergartenalter verbringt Noah jedes zweite volle Wochenende beim Papa. Noah ist ein unkompliziertes Kind. Lachen, blödeln, auf Bäume klettern, der Vater meist voraus. Das gefällt dem Buben. «Nein, Mama, ich will nicht nach Hause, ich komme ja morgen wieder», sagt Noah. Die Mutter besteht auf die regelmässigen Anrufe an Papa-Wochenenden. «Ja, mir gefällts…wir spielen einfach… ich hab dich auch lieb…ja, wenn was ist, ruf ich an.» Wenn der Vater das Kind zurückbringt, gibts von der Mutter ein Geschenk.
Die Mutter bekommt ein zweites Kind. Noah soll zum neuen Partner auch Papi sagen. Schliesslich sind sie jetzt eine komplette Familie. Noah sieht, wie der Vater gekränkt ist, als ihm ein «Papi» rausrutscht und er den anderen Mann meint. Später wird die Kinderpsychologin sagen, dass Noah nicht weiss, zu wem er Papi sagen soll.
Bei der Eltern-Kind-Entfremdung kann unterschieden werden zwischen der induzierten Entfremdung, auch Parent Alienation (PA) genannt, und der Eltern-Kind-Entfremdung (EKE). Bei PA lassen sich bei den manipulierenden Bezugspersonen häufig psychische Auffälligkeiten identifizieren wie schwere narzisstische und/oder Borderline-Persönlichkeitsstörungen, traumatische Kindheitserfahrungen, paranoide Verarbeitung der Scheidungskrise und/oder Psychosen. PA wurde von der WHO im Juni 2018 offiziell anerkannt als psychische Störung des betreuenden Elternteils.
EKE ergibt sich oft aufgrund monate- und jahrelangen Streitigkeiten der Eltern um das Sorge- und Obhutsrecht. Eltern gelingt es nicht mehr, die Paarebene von der Elternebene zu trennen, oft spielen Frustrationen, Wut und Kränkungen eine Rolle. Wilfrid von Boch-Galhau, Psychiater und Psychotherapeut in Würzburg (D), bezeichnet Entfremdung und den Kontaktabbruch zu einem Elternteil grundsätzlich als «ernst zu nehmende Form psychischer Kindesmisshandlung»
Die Negativspirale dreht sich langsam, schleichend. Obwohl die Zeit, die sie miteinander verbringen, nach wie vor gut ist, will Noah nicht mehr beim Vater übernachten. Die Mutter holt ihn ab. «Ich zwinge mein Kind zu nichts, Noah kann selber entscheiden», sagt sie zum Ex-Mann. Und zu Noah: «Du kannst jederzeit nach Hause kommen.» Noah ist nicht mehr parat, wenn der Vater ihn abholen will. Manchmal ist er auch gar nicht zu Hause. Manchmal freut er sich riesig, wenn der Vater kommt. «Komm wir gehen packen», sagt die Mutter und geht mit ihm ins Zimmer. Dann kommt Noah weinend heraus: «Ich will nicht mitkommen.» Manchmal schmust die Mutter mit dem Baby, während Noah seine Sachen packt. Nie sagt die Mutter «geh nicht». Doch immer öfter geht der Vater allein nach Hause. «Noah kann entscheiden», sagt die Mutter wiederholt. Und: «Niemand darf dich zwingen.» Sie lege Wert auf die freie Entfaltung, sagt sie. Ihre Kinder sollen ohne Zwänge aufwachsen.
Bei der Stellungnahme für die Kesb erklärt die Mutter, dass sie immer positiv einwirke auf Noah, sie wisse auch nicht, warum er nicht mehr zum Vater wolle. Vielleicht sei da mal was vorgefallen?
Laut Psychiater Wilfrid von Boch-Galhau ist es ein typisches Merkmal, dass der Entfremdende auf den Willen des Kindes und auf dessen autonome Entscheidung verweist. «Ein Kind soll entscheiden, ob es den Vater besuchen will oder nicht. Eine absolute Überforderung. Solche Entscheidungen dürfen einem Kind nicht zugemutet werden», sagt Bruno Roelli, ehemaliger Familienrichter in Luzern (siehe Interview). Abgelehnt würden dabei meist ganz normale, oft kompetente Eltern und nicht etwa misshandelnde oder missbrauchende.
Dann kommt der Knall. Für den Vater jedenfalls fühlt es sich so an. Wie eine Explosion innen drin. Er war drei Wochen weg, in den Ferien mit seiner neuen Partnerin. Danach schaut Noah ihn nicht mehr an, meidet seinen Blick. Sucht den der Mutter. Kaum taucht der Vater auf, weint das Kind, ist sichtbar gestresst, will nicht mehr mit. Dem Begrüssungskuss weicht er aus. Er spricht nicht mehr mit dem Vater. Die Mutter streicht dem Kind tröstend über den Kopf. Einmal ist der Vater so fertig, dass er weint vor dem Kind. Die Mutter erwähnt den Zwischenfall bei ihrer Stellungnahme für die Kesb. Der Vater wird gemahnt, das zu unterlassen.
Durch das Verhalten hochstrittiger Eltern, durch den Kontaktverlust zu einem Elternteil sowie den wiederholten, traumatischen Erfahrungen können Kinder laut Kisos an folgenden Störungen leiden: Konzentrationsproblemen wie ADHS, Bindungs- und Vertrauensstörungen, vermindertem Selbstwertgefühl, Kopf- und Bauchschmerzen, Durchfall, Schlafstörungen, Angstzuständen, Schuldgefühlen, Gewissensnöten und im Erwachsenenalter an schweren psychischen und psychosomatischen Störungen, Essstörungen, Suchterkrankungen und Problemen in der Beziehung zu den eigenen Kindern.
Dieser Samstag wird zum Sinnbild des langsamen Sterbens einer liebevollen Vater-Sohn-Beziehung. Es ist, als wäre der Vater Luft für das Kind, das er liebt. Er hält es kaum aus. Doch er geht weiter hin an den Papa-Wochenenden. Um Noah zu sehen. Vielleicht kommt er heute mit? Obwohl er sich immer anmeldet, tun alle so, als wäre er nicht da. Ein ungebetener Gast, dieser Vater, dem man nichts anbietet, damit er bald wieder geht. Sowieso müssen sie gleich weg, einkaufen, Verwandtenbesuch. Etwas ist immer. Zweimal hat der Vater im vergangenen Jahr einen Samstag ausgelassen. Die Mutter schreibt dazu im Bericht an die Kesb: «Sein Interesse am Kind ist nicht konstant.»
Weder Noah noch die Mutter sind für ihn telefonisch erreichbar. Als er seinen Besuch zu Noahs Geburtstag per WhatsApp ankündigt, schickt Noah eine Sprachnachricht: «Papi, ich will nicht, dass du kommst.» Er geht trotzdem hin. Bekommt eine Viertelstunde, um gemeinsam mit dem Kind die Geschenke auszupacken. Noah lacht endlich mal wieder, freut sich über den Fussball. Dann gibts Kuchen. Der Vater muss gehen.
Die Kesb hat eine Beistandschaft errichtet. Man will, dass die Beziehung zum Vater wieder aufgebaut werden kann: «Im Zentrum steht das Kindeswohl.» Die Psychologin will eine Zusammenführung von Vater und Kind organisieren. Doch die Mutter lässt immer wieder einen vereinbarten Termin ausfallen. Noah ist krank, sagt sie. Ein anderes Mal ist ein anderer Termin dazwischen gekommen. Es vergehen Wochen, Monate. Zeit ohne Papa.