
iStock.com
Eltern-Kind-Beziehung
Entfremdung: Ein Familienrichter erzählt
Warum Bruno Roelli in seiner Zeit als Familienrichter im Kanton Luzern unkonventionelle Wege gegangen ist.

zvg
Bruno Roelli (63) war etwas über 30 Jahre lang Familienrichter in der Luzerner Justiz, die letzten Jahre am Obergericht. Seit seiner Pensionierung arbeitet er als juristischer Berater bei der Kescha, der Anlaufstelle Kindes- und Erwachsenenschutz der Guido Fluri Stiftung. Bruno Roelli lebt in fester Beziehung und hat zwei erwachsene Kinder.
«wir eltern»: Bruno Roelli, Sie waren über 30 Jahre Familienrichter im Kanton Luzern. Haben Sie viele Entfremdungsgeschichten erlebt?
Bruno Roelli: Leider ja. Es sind traurige Geschichten. Die Entfremdungsthematik begann in den 80er-Jahren. Als Kampfmittel wurden dann immer mehr Missbrauchsvorwürfe eingesetzt.
Sie sind unkonventionelle Wege gegangen. Welche waren das?
Mich hat vor allem interessiert, wie es den Kindern geht. Bereits 1987, als Kinderanhörungen noch kein Thema und gesetzlich nicht geregelt waren, habe ich den persönlichen Kontakt zu Kindern gesucht. Dazu habe ich sie zu Hause besucht, von der Schule abgeholt oder mit ihnen auf dem Spielplatz geredet. So erfährt man mehr als im Gerichtssaal.
Was haben Sie bei den Gesprächen erfahren?
Bei entfremdeten Kindern Stereotypen wie die vom bösen Papi und der lieben Mami. Im Extremfall: Ich will, dass Papi stirbt.
Sie haben in den letzten Jahren Zusammenführungen von Kindern mit Vätern organisiert. Was haben Sie erlebt?
Ein Fall ist sehr erfreulich verlaufen, da haben Vater und Tochter wieder zusammengefunden. Bei anderen Fällen sperrte sich die Mutter von Anfang an, oder ein anfänglicher Erfolg wurde durch die Eigenmächtigkeit des Vaters wieder zunichtegemacht. Interessant war zu beobachten, wie Mütter die Kinder verbal zum Besuchsrecht motivierten, mit der Körpersprache aber das Gegenteil ausgesagt haben. Die Kinder folgten Letzterem.
Warum haben Sie sich derart engagiert?
Weil ich der Meinung bin, dass Kinder beide Eltern brauchen. Deshalb lotete ich die mir gegebenen Möglichkeiten bis zum Rand aus.
Warum gehen Mütter im Sorgerechtsstreit so oft als Siegerinnen hervor? Warum wird nicht ein Konsens hergestellt, der allen gerecht wird?
Das wird zum Glück schon in vielen Fällen gemacht. Bei hochstrittigen Scheidungen kann es zu der erwähnten Entfremdung kommen. Manipulierte Kinder übernehmen die Sicht ihrer Mutter. Ein Besuchsrecht wird polizeilich jedoch nicht vollstreckt. Druck wird auf die Mutter mit Geldstrafen oder Haft ausgeübt. Doch es gibt Mütter, die gehen eher ins Gefängnis, als dass sie ihr Kind motivieren, zum Vater zu gehen.
Also sind Gerichten die Hände gebunden?
Tatsächlich ist man in letzter Konsequenz hilflos. Der Staat kommt beim Besuchsrecht an seine Grenzen.
Dann muss man einfach zuschauen?
Ich habe schon Müttern an der Verhandlung gesagt, dass ich im Urteil schriftlich festhalten werde, dass sie die Verantwortung für den Kontaktabbruch tragen und dass der Vater alles getan hat, was möglich war, er aber sein Recht nicht hat wahrnehmen können.
Aber die Väter haben das Nachsehen. Und die Kinder.
In solchen Fällen habe ich Vätern auch schon geraten, sich eine Weile zurückzuziehen und den Kontakt zum Kind in Form von Briefen oder Geschenken aufrechtzuerhalten. Die Erfahrung zeigt, dass Kinder später nach ihren Vätern fragen und sie aufsuchen. Übrigens habe ich in wenigen Fällen auch Männer erlebt, die ihre Kinder der Mutter entfremdeten.
Könnte man nicht dem Entfremdenden die Obhut entziehen und dem anderen Elternteil übergeben?
Dazu bräuchte man ein entsprechendes Gutachten, was schwierig zu erhalten ist.
Warum wendet man in der Schweiz nicht das Cochemer-Modell an?
Wäre ich noch Richter, könnte ich mir das sehr gut vorstellen. Pflicht-Mediationen sollten dort angeordnet werden, wo sich die Eltern nicht einigen können. Vom Gesetz her wäre das Modell durchaus möglich.
Worauf wartet man noch?
Es braucht Richter mit Herzblut und Mut zur Originalität. Dazu entsprechend ausgebildete Leute aller beteiligten Professionen. Dann könnte ein solches Experiment durchaus gelingen.
Sie haben sich vor zwei Jahren frühpensionieren lassen. Warum?
Die über 30 Jahre als Familienrichter haben mich sehr gefordert. Mein Wissen und meine Erfahrung gebe ich seit einem Jahr bei der Ombudsstelle Kescha weiter. Rund 60 Prozent der dortigen Anfragen betreffen den Kindesschutz. Entfremdungsprobleme beschäftigen uns wöchentlich.
Das Interview erschien in «wir eltern» 5/2019.