Neonatizid
Eine Mutter tötet ihr Kind
Die Minuten nach der Geburt eines Kindes sind für die meisten Mütter und Väter Momente höchsten Glücks und grösster Elternliebe. Schlagzeilen wie «Neugeborenes auf Abfalldeponie tot aufgefunden» erschüttern deshalb bis ins Mark, Abgründe tun sich auf. «In der Schweiz werden jedes Jahr ein bis zwei Fälle von Neugeborenentötungen bekannt», sagt Paula Krüger, Dozentin am Institut für Sozialarbeit und Recht der Hochschule Luzern. Die Psychologin hat Häufigkeit und Deliktsphänomenologie von Neugeborenentötungen, auch Neonatizid genannt, untersucht und die Akten von elf Fällen zwischen 1980 und 2010 genauer angeschaut. Grundlagenforschung dazu gab es in der Schweiz bisher kaum. Insgesamt existieren nur wenige Untersuchungen des Phänomens.
Der Neonatizid bezeichnet die Tötung des Neugeborenen unmittelbar nach der Geburt. «Das Kind wird in der Regel nicht versorgt», sagt Paula Krüger. In den Gerichtsakten wird die Tat nicht als ein Versehen beschrieben. Eine isolierbare Einzelursache oder ein einzelnes erklärbares Motiv gibt es jedoch meist nicht. Krüger: «Für den Zeitpunkt der Geburt wird bei einigen Frauen eine akute Belastungsreaktion diagnostiziert, aber keine Wochenbettpsychose und auch selten andere psychische Krankheiten.» Gemein ist den allermeisten Frauen, dass sie ihre Schwangerschaft in der Familie und bei Freunden verheimlichen oder verdrängen. Die Schwangerschaft darf nicht sein, kann nicht sein. Die Tötung des Neugeborenen ist eine unverständliche, aber logische Folge davon.
Michael Soyka, Direktor der Psychiatrischen Privatklinik Meiringen, bestätigt, dass das Verheimlichen oder Verdrängen der Schwangerschaft ein Risikofaktor für Neonatizid ist. «Die Täterinnen kommen oft aus schwierigen sozialen Milieus mit Alkoholmissbrauch und Gewalt; sie haben psychosoziale Probleme, es ist eine Verzweiflungstat», sagt Soyka, der sich im Rahmen von psychiatrischen Gutachten mit Frauen befasst hat, die ihre Neugeborenen getötet haben. Er beschreibt in seinem Buch «Wenn Frauen töten » den Fall der 23-jährigen Sonja, die weder zur Schwangerschaftskontrolle geht noch ihre Familie informiert, bei der sie wohnt. Sonja gebärt das Kind um fünf Uhr morgens sitzend auf der Toilette – und lässt es in der WC-Schüssel ertrinken. Die gerichtsmedizinische Untersuchung ergibt, dass das Mädchen bei der Geburt 49 cm gross und 2742 Gramm schwer war und gelebt hat. In seiner Funktion als forensischer Psychiater beleuchtet Soyka die Hintergründe dieser grauenhaften Tat:
Sonja arbeitet als Schwesternhelferin in einem Altersheim und wohnt bei den Eltern in einer Kleinstadt. Die Mutter ist Hausfrau, der Vater bildet Soldaten aus. In ihrer Freizeit besucht Sonja vor allem Lokale, in denen viele Wehrpflichtige anzutreffen sind und hat immer wieder wechselnde, kurzfristige Männerbekanntschaften. Sonja verliebt sich in einen jungen Soldaten und wird schwanger. Doch der Mann reist nach wenigen Wochen zurück in seine Heimat und reagiert nicht auf Sonjas Anrufe bei seiner Familie. Einer Freundin und am Arbeitsplatz erzählt Sonja, dass sie schwanger ist. Zu Hause sagt sie nichts. Die Mutter spricht die Tochter mehrmals auf ihre Gewichtszunahme an. Sonja verneint. Als die Mutter den Hausarzt auf Sonjas Gewicht hinweist, beruhigt dieser, das sei normal, Sonja sei ja schwanger. «Im Anschluss daran habe ich mehrfach durch die Blume mit Sonja darüber geredet, dass sie früher zu Bett gehen soll und dass sie vor allen Dingen nicht mehr so viel rauchen soll», sagt die Mutter vor Gericht. Konkreter sei sie jedoch nicht geworden. «Sonja wollte es mir offensichtlich nicht sagen und ich habe ihre Entscheidung respektiert.» Die Mutter unternimmt nichts, obwohl ihr auffällt, dass Sonja keine Vorbereitungen für die Geburt trifft, keine Windeln, keine Babywäsche kauft.
Grosse Sprachlosigkeit, sagt Michael Soyka, sei häufig feststellbar im Umfeld von Neonatizid: «Die Frau hat nicht gelernt, über schwierige Themen zu reden, sie kann ihre Gefühle und Handlungen nicht reflektieren. Auf der Persönlichkeitsebene ist sie unreif.» Auch die Familie oder nahe Personen spielen das Verdrängungsspiel mit. Hat die Frau einen Partner, merkt er nicht, dass sie schwanger ist – oder er glaubt ihr, wenn sie sagt, die körperliche Veränderung sei auf Krankheit oder Medikamente zurückzuführen. «In diesen Familien geht man Konflikten lieber aus dem Weg, spricht nicht über Unangenehmes – häufig aus Angst, verlassen zu werden», sagt die Psychologin Paula Krüger. «Es fehlen die Problemlösungsstrategien.» So ist auch zu erklären, wieso das Kind nicht abgetrieben wird, obwohl die Schwangerschaft unerwünscht ist. Innerlich wird das Thema beiseite geschoben. «Oft hätte das Drama mit gesundem Menschenverstand vermieden werden können», sagt Soyka.
Auch bei Sonja bleibt das Umfeld seltsam stumm und passiv. Sonjas Vater lebt seit seiner Frühpensionierung immer wieder für mehrere Monate in der Wildnis in Kanada, auch jetzt. Die Tochter beschreibt ihn als streng, trotzdem sei ihr Verhältnis zu ihm gut. Sie sagt, sie habe Angst gehabt, dass er von der Schwangerschaft erfahre, weil sie wusste, er würde das Kind nicht akzeptieren, wenn kein Mann dabei sei.
Man muss nur wenige Generationen zurückgehen, und schon trifft man auf Frauen, die verstossen, sozial geächtet und stigmatisiert wurden, wenn sie unehelich ein Kind bekamen. «Vor 200 Jahren waren die Zuchthäuser voll von Frauen, die ihre Kinder getötet haben, weil sie sich und ihren Kindern dieses Schicksal ersparen wollten», sagt Michael Soyka. In der Regel handelte es sich nicht um Frauen aus dem Bürgertum, sondern um Mägde oder Dienstboten, die ihre Tat aus purer Not begingen. Armut war das Hauptmotiv bei Kindstötungen. Dazu kam, dass es damals für Gehilfen, Gesinde und Gesellen ohne ausreichende finanzielle Mittel kaum möglich war zu heiraten. Oder eine Heirat war unvorstellbar – nicht selten war der Kindsvater gleichzeitig ihr Vorgesetzter.
Die Kindsmörderinnen, dingfest gemacht, wurden noch Ende des 18. Jahrhunderts an den Pranger gestellt, öffentlich gegeisselt, gehenkt oder auf Lebzeiten ins Zuchthaus gesperrt. Vor 150 Jahren wurde die Zahl der Neugeborenentötungen in Deutschland auf mehrere Tausend jährlich geschätzt. 1950 gab es noch 300 Opfer, heute etwa noch 30. Der Rückgang wird mit der besseren Beratungssituation in Zusammenhang gebracht. In unseren Breitengraden ist ein uneheliches Kind keine Schande mehr. Trotzdem gibt es Frauen, die mit einer Schwangerschaft nicht klar kommen.
Schwangere Frauen sollen von Familie, Staat oder kirchlichen Einrichtungen Unterstützung erhalten. Ärzte müssen mit der Schwangeren in Kontakt bleiben und dafür sorgen, dass sie zu den Vorsorgeuntersuchungen kommt. Die Frau sollte die Möglichkeit erhalten, ihre Gefühle und ihr Unbehagen zu äussern. Die Ärztin oder die Hebamme kann mit ihr die Geburt durchsprechen, nach Kindernamen fragen, die ihr gefallen.
Kontrovers diskutiert wird, ob die anonyme Geburt oder Babyklappen Neonatizid verhindern können. Laut Experten verfügen Frauen, die solche Angebote beanspruchen, über einen einigermassen normalen Mutterinstinkt und sind fähig, eine Lösung für ihr Problem, das Kind, zu suchen. – Anders als Frauen, die ihr Neugeborenes unmittelbar nach der Geburt töten. In Österreich hat sich jedoch die Zahl der Neonatizide seit der Einführung der anonymen Geburt halbiert. Fachleute können aber andere Einflussfaktoren auf die Fallzahlen nicht ausschliessen. In der Schweiz ist die anonyme Geburt nicht erlaubt. Möglich ist jedoch die diskrete Geburt: Nur Arzt und Hebamme kennen den richtigen Namen der Frau; das Kind kann gleich nach der Geburt zur Adoption freigegeben werden.
An einem Sommermorgen sucht Sonja zusammen mit ihrer Mutter deren Frauenarzt auf. Sie berichtet von einer Totgeburt. Dem Arzt erscheinen die Begleitumstände mysteriös; er informiert die Polizei, die am Nachmittag am Wohnort der Familie eintrifft. Das tote Kind liegt in einer Plastikschüssel, zugedeckt mit Zeitungsblättern. Die Obduktion des Säuglings ergibt, dass das Kind nach der Geburt lebensfähig war und zumindest mehrere Minuten geatmet hat. Erst bei der späteren Gerichtsverhandlung gibt Sonja zu, das Kind schreien gehört zu haben. Doch Sonja lässt es Kopf voran in der Kloschüssel liegen. Die Mutter gibt zu Protokoll, Sonja mit blutigem Nachthemd im Gang vor dem Badezimmer angetroffen zu haben. Sie glaubt, Sonja hätte eine Totgeburt gehabt und macht das Bad sauber. «Ich muss allerdings sagen, dass ich erschrak, als ich das tote Kind aus der Kloschüssel geholt habe, weil es schon so gross war.»
Eine Frau, die ihr Neugeborenes tötet, ist bei der Geburt meist allein. Sie gebärt schnell, hat häufig eine Sturzgeburt. Die Gerichtsakten, die Paula Krüger gesichtet hat, beschreiben folgende Szenarien: Aus Angst, dass das Kind schreien könnte und den Partner oder die Familie weckt, legt die Frau ihm zum Beispiel ein Tuch aufs Gesicht oder hält ihm die Hand auf den Mund, bis es ruhig ist. Jetzt legt sie es in einen Plastiksack und bringt es auf den Balkon, wo es der Partner wenige Tage später wegen des Geruchs entdeckt. Oder die Frau versteckt den Sack in ihrem Kleiderschrank oder in einem Gebüsch in der Nähe des Hauses.
Die Tötung eines Neugeborenen wird vergleichsweise mild bestraft, da von einer klassischen Notsituation ausgegangen wird. In Paragraf 116 des Strafgesetzbuchs steht: «Tötet eine Mutter ihr Kind während der Geburt oder solange sie unter dem Einfluss des Geburtsvorgangs steht, so wird sie mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.» Das Gericht kann eine Therapie anordnen, dies ist jedoch nicht zwingend. Soyka: «Die Schuldgefühle sind jedoch enorm.»