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Vereinbarkeit
Dürfen Kinder noch richtig krank sein?
Kaum ist der Herbst da, husten und fiebern die Kleinen wieder. Das bringt berufstätige Eltern ganz schön ins Schwitzen. Über das Kranksein in einer Gesellschaft, die keine Zeit dafür hat.
Eigentlich wollte ich diesen Text an einem Vormittag schreiben. Dann, wenn unsere beiden Töchter im Kindergarten und in der Spielgruppe sind. Doch nun sitze ich spätabends vor dem Computer. Denn die beiden haben Fieber, Husten und Schnupfen. Wie passend für einen Artikel, der von kranken Kindern handelt. Und davon, wie die fiebrigen Kleinen den Grossen den Schweiss auf die Stirn treiben.
Denn ein krankes Kind bringt heutzutage viele Familien in die Bredouille. Vor allem dann, wenn beide Elternteile berufstätig sind. Kranke Kinder sind in diesem System nicht vorgesehen. Die Krux daran: Besuchen die Kinder eine Kita, sind sie tendenziell häufiger krank als privat betreute Gleichaltrige. Während des ersten Kita-Winters ist schon so manch frischgebackenes Elternpaar erneut auf die Welt gekommen. Gerade alles so schön organisiert und dann wird jedes Hüsteln des Kinds zum Problem. «Es ist gut möglich, dass ein Kind in dieser Zeit jede zweite Woche krank ist» erklärt der pensionierte Kinderarzt Heinrich Haldi. Er ist Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie.
«Ja, durch den ersten Kita-Winter müssen sie einfach durch», sagt auch Kinderarzt Stefan Roth, Vorstandsmitglied von Kinderärzte Schweiz. Er spricht von bis zu zwölf «banalen Infekten» pro Jahr, die durchaus als normal gelten. Zwölf Tage oder eher mehr, in denen ein Elternteil nicht arbeiten kann.
Noch immer Mamis Sache
Eltern dürfen auch bei ihrem kranken Kind bleiben – das ist gesetzlich geregelt: Bis zu drei Tagen pro Krankheitsfall während maximal zehn Tagen pro Jahr. Doch Arbeitgeber können vom ersten Fehltag an ein Arztzeugnis verlangen. Und das ist für die Kinderarztpraxen zunehmend ein Problem, wie beide befragten Ärzte erzählen. «Kinder, die nur kommen müssen, weil ihre Eltern ein Arztzeugnis benötigen, nehmen anderen kranken Kindern den Termin weg», sagt Stefan Roth. Und Heinrich Haldi ergänzt: «Diese Mütter sind meist sehr fordernd, haben kaum Zeit und wollen sofort einen Termin.»
Ja, Mütter. Beide Ärzte sind sich einig: Kranke Kinder sind noch immer mehrheitlich Sache der Mütter. Sollte es aber nicht sein! Beide Elternteile haben per Gesetz das Recht, beim kranken Kind zu bleiben. Roth, selbst Arbeitgeber in seiner Praxis, sieht das genauso: «Während der Coronapandemie musste ich meinen Mitarbeiterinnen teilweise klarmachen, dass doch der Vater, der nicht in einer systemrelevanten Branche arbeitet, das kranke Kind betreuen soll.» Und genauso ärgern ihn Unternehmen, die bei einer kurzen Absenz eines Elternteils ein Arztzeugnis verlangen. «Das ist kein medizinisches Problem, sondern zeugt von fehlendem Vertrauen.»
Firmen sollen kulant sein
Dies sieht der Schweizerische Arbeitgeberverband ebenso. «Besteht der Verdacht des Missbrauchs, ist es als Arbeitgeber ratsam, ein Arztzeugnis zu verlangen», erklärt Andy Müller, Kommunikationsverantwortlicher. «Wir empfehlen den Betrieben jedoch möglichst kulante, unbürokratische Lösungen.» Er ist überzeugt, dass sehr viele Unternehmen diesbezüglich pragmatische Regeln aufgestellt haben. Oft würde ein Anruf oder ein E-Mail genügen.
Einen ebenso kulanten Umgang empfiehlt der Arbeitgeberverband, falls die Kinderbetreuung krankheitshalber ausfällt – sei es eine Tagesmutter, eine Nanny oder die Grosseltern. «Rechtlich besteht jedoch kaum ein Lohnanspruch bei einer Abwesenheit über mehrere Tage», sagt Andy Müller. In der Praxis spiele dabei auch das Alter der Kinder eine Rolle. «Für Kleinkinder ist es schwierig bis unmöglich, auf die Schnelle eine Ersatzbetreuung zu finden. Dafür werden auch Arbeitgeber Verständnis haben.» Etwas ältere Kinder könnten über eine begrenzte Zeit jedoch auch mal von Nachbarn oder Freundinnen betreut werden.
Das gilt rechtlich, wenn ein Kind krank ist
Ist ein Kind krank, haben Angestellte gemäss Obligationenrecht Anspruch auf bezahlten Urlaub von drei Tagen pro Krankheitsfall während maximal zehn Tagen pro Jahr. Der oder die Arbeitgeberin kann ab dem ersten Fehltag ein ärztliches Zeugnis verlangen. Ist ein Kind schwer erkrankt, können die Eltern seit 2021 einen bezahlten Betreuungsurlaub von maximal 14 Wochen in Anspruch nehmen.
Gesundheitskompetenz fehlt
Berufstätige Eltern müssen also einen Plan B entwickeln, brauchen das sprichwörtliche Dorf, um ihre Kinder grosszuziehen. Genau dieses fehle heute zunehmend, findet Kinderarzt Roth. Das führe unter anderem dazu, dass Eltern heute viel schneller zu ihm kämen als früher. Eine Entwicklung, die auch Heinrich Haldi in seiner 30-jährigen Praxistätigkeit festgestellt hat. «Ich schätze, dass 60 bis 75 Prozent aller Konsultationen in der Kinderpraxis nicht wirklich nötig wären.» Roth zitiert dazu die Redewendung: «Ein grippaler Infekt dauert ohne Behandlung sieben Tage, wenn man in die Praxis kommt, eine Woche.»
Das Fehlen von Grosseltern in der Nähe beispielsweise, die Vertrauen und Wissen über Hausmittel weitergeben, ist ein Teil, der zu dieser Entwicklung beiträgt. «Viele Eltern sind heute total verunsichert», sagt Haldi. Den Hauptgrund dafür sieht er im Internet. Auch Stefan Roth verortet diese Problematik bei Dr. Google: «Es gibt Eltern, die geben Kopfschmerzen und Übelkeit ein, und landen dann direkt beim Hirntumor.»
Einen weiteren Faktor sehen die Befragten in der schwindenden gesellschaftlichen Akzeptanz des Krankseins. «Wir haben keine Zeit dafür», findet Stefan Roth. Dem stimmt auch Medizinhistorikerin Iris Ritzmann zu. Sie hat als Professorin an der Universität Zürich unter anderem zum Thema Kinder und Kranksein geforscht. Heute ist sie selbstständig und führt eine Beratungsfirma. «Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, die sich in den letzten Jahrzehnten massiv beschleunigt hat», sagt sie. Die Menschen in der westlichen Welt seien heute vermutlich nicht weniger krank als früher. Doch das Spektrum habe sich weg von Infektionskrankheiten hin zu Krebs, Kreislauferkrankungen und psychischen Krankheiten verschoben. «Immer mehr medizinisches Wissen fliesst in unseren Alltag und unser Denken ein.» Gesundheit gelte als sehr hohes Gut, dem extrem viel untergeordnet werde. Vor diesem Hintergrund sei es beispielsweise in der Coronapandemie möglich gewesen, dass das staatliche Gesundheitswesen in intimen Bereichen in das menschliche Verhalten eingreifen konnte, sagt Iris Ritzmann.
Trotz dieser Aspekte sieht Stefan Roth die Coronapandemie als «Riesenchance, die wir als Gesellschaft verpasst oder nicht begriffen haben». Im Frühling 2020 sei klar gewesen: Wer krank ist, bleibt zu Hause. «Heute sind wir wieder im gleichen Tramp wie vorher – Kranksein liegt nicht drin», sagt auch Heinrich Haldi. Die Pandemie hat eine abstruse Zweiteilung mit sich gebracht: Wer Covid hat, bleibt zu Hause. Wer anderweitig hustet und niest, nicht. «Doch gerade Kinder brauchen Zeit, um krank zu sein und in Ruhe wieder gesund zu werden», sagt Roth. Sie würden das Kranksein in der Regel gut aushalten – viele Eltern allerdings nicht. Er rät ihnen: «Hört auf eure Kinder und habt Vertrauen, dass sie wieder gesund werden.»
Interview mit Kinderarzt Stefan Roth: «Fieber muss man nur behandeln, wenn das Kind darunter leidet»
Stefan Roth ist Facharzt FMH für Kinder- und Jugendmedizin mit eigener Praxis in Liebefeld (BE) und Vorstandsmitglied von Kinderärzte Schweiz.
wir eltern: Wann ist der Besuch beim Kinderarzt wirklich angebracht?
Stefan Roth: Ein grundsätzlich gesundes Kind, das Fieber hat, aber trinkt und immer mal wieder spielt, benötigt keine ärztliche Behandlung. Dass ein krankes Kind nichts oder nur wenig isst, sollte Eltern nicht beunruhigen. Wenn wir krank sind, haben wir auch keinen Appetit. Fieber sollte nur behandelt werden, wenn das Kind darunter leidet, denn es kann zur Genesung beitragen.
Was können Eltern tun, wenn sie unsicher sind?
Sich erst mal telefonisch beraten lassen. Dafür gibt es verschiedene Anlaufstellen: die Kinderärztin oder der Kinderarzt, eine Beratungshotline der Krankenkasse oder Notfalltelefone (ausserhalb der Bürozeiten). Der direkte Gang in die Notfallaufnahme ist bei erkrankten Kindern zum Glück praktisch nie nötig: Eigentlich nur dann, wenn man eine Ambulanz rufen würde.
Wie lange sollte ein Kind zu Hause bleiben, wenn es krank ist?
Als Faustregel gilt: Das Kind sollte 24 Stunden fieberfrei sein, sich fit fühlen und in einem guten Allgemeinzustand sein.
Soll man Kinder auf das Coronavirus testen lassen?
Dafür sehe ich medizinisch kaum mehr einen Grund.
Doch was, wenn ein Kind Kontakt mit einer Person aus der Risikogruppe hat?
Ist ein Kind krank, geht es die Oma nicht ins Altersheim besuchen, egal, was es hat. Zudem ist der Begriff Risikogruppe in den letzten Jahren teilweise inflationär verwendet worden. Ein erhöhtes Risiko erheblicher Gefahr gibt es lediglich für schwer kranke und schwer immunsupprimierte Personen. Für diese bestand schon immer ein Risiko, im Rahmen von Infekten jeglicher Art schwer zu erkranken.
Dürfen Kinder in die Kita oder die Schule, wenn ein anderes Familienmitglied Covid hat?
Sind sie selbst fit und symptomlos, besteht kein Grund, Kinder zu Hause zu behalten.
Sibille Moor hat Anglistik studiert und mehrere Jahre als Redaktorin für Zürcher Tageszeitungen gearbeitet. Heute unterrichtet sie Englisch und Deutsch und textet als Social Media Managerin. Seit sie Mutter ist treiben sie die Herausforderungen im Familienalltag um. Und genau darüber schreibt sie für «wir eltern».