Fortpflanzungsmedizin
Das ist doch paradox
Auch wenn Kritiker stets warnen, dass wir auf eine Gesellschaft zusteuern, in der Menschen mit einer Behinderung immer mehr an den Rand gedrängt werden: Es besteht ein breiter gesellschaftlicher Konsens darüber, dass medizinische Fortschritte im Bereich der Pränataldiagnostik positiv sind. Denn sie erlauben es, immer mehr Chromosomenstörungen zu erkennen. Und dies – dank der mittlerweile zwei Bluttests zur vorgeburtlichen Erkennung von Trisomie 21 und anderen Schädigungen des Erbguts – erst noch nicht-invasiv. Das heisst: Die Tests können durchgeführt werden, ohne das ungeborene Kind zu gefährden. Ergibt der Test aber ein auffälliges Ergebnis für Trisomie 21, treiben Schätzungen zufolge in der Schweiz 90 Prozent der Schwangeren ihr Kind ab. Der medizinische Fortschritt ermöglicht es damit, vorgeburtlich behindertes Leben zu beseitigen.
Glossar
Die Pränataldiagnostik umfasst diejenigen Untersuchungen während der Schwangerschaft, die Chromosomenstörungen und bestimmte Erbkrankheiten beim Fötus aufdecken können, wie Nackentransparenzmessung, Chorionzottenbiopsie oder nicht-invasive Pränataltests (NIPT).
Die Präimplantationsdiagnostik (PID) bezeichnet die Untersuchung des im Reagenzglas gezeugten Embryos, bevor er in die Gebärmutter eingepflanzt wird, z. B. Aneuploidie-Screening.
Das Aneuploidie-Screening ist eine zytogenetische Untersuchung. Anzahl, Gestalt, Struktur und Funktion der Chromosomen werden geprüft. Liegt bei einem Embryo eine Aneuploidie vor, bedeutet dies, dass einzelne Chromosomen mehr als zweimal vorhanden sind, beim Down-Syndrom beispielsweise das 21. Chromosom. Aneuploidien können die Ursache für Fertilitätsstörungen sein. Ziel des Tests ist deshalb, Embryonen mit einem normalen Chromosomensatz für den Transfer auszuwählen. Man erhofft sich, so die Erfolgsrate der In-vitro-Fertilisation steigern zu können.
Das Fortpflanzungsmedizingesetz hat die Präimplantationsdiagnostik in der Schweiz bisher nicht erlaubt. Im Rahmen der Revision des Gesetzes wollen Bundesrat und Parlament das Verbot jedoch aufheben. In der Wintersession wird nun noch die Höchstzahl der Embryonen beraten, die in einem Behandlungszyklus hergestellt werden darf. Da für das Gesetz eine Verfassungsänderung nötig ist, wird die Bevölkerung darüber abstimmen müssen, voraussichtlich im Juni 2015.
Fortschritte macht die Medizin aber auch im Bereich der Neonatologie: Extrem früh geborene Kinder wären früher gestorben. Heute versucht man in der Schweiz Frühchen ab der vollendeten 24. Schwangerschaftswoche zu retten – und ermöglicht, ja schafft damit manchmal behindertes Leben. Denn viele der extrem Frühgeborenen, die überleben, können später an geistigen Behinderungen oder Lungenschäden leiden, sind blind oder taub.
Das ist paradox: Einerseits ermöglicht der medizinische Fortschritt das Vermeiden von Geburten auch leicht behinderter Kinder, andererseits entsteht erst durch die medizinischen Möglichkeiten ein Leben mit Behinderungen. Messen wir mit verschiedenen Ellen? Es scheint, dass Schwangerschaftsabbrüche von behinderten Kindern ebenso akzeptiert sind, wie der Fortschritt im Bereich der Neonatologie positiv konnotiert ist. Obwohl im ersteren Fall auch Kinder etwa mit einer Lippen-Gaumen-Spalte abgetrieben werden, die eine Chance auf ein normales Leben hätten. Und im zweiten Fall Kinder mit Intensivmassnahmen am Leben erhalten werden, die eigentlich sterben würden – und damit erst behindertes Leben geschaffen wird.
Der medizinische Fortschritt wird in den kommenden Jahren dazu führen, dass das beschriebene Paradoxon noch stärker wird: Die nicht-invasiven pränatalen Tests werden immer mehr Erbgutschädigungen erkennen; gleichzeitig ist absehbar, dass die heute geltenden Leitlinien in der Neonatologie liberaler werden. So dürfte hierzulande die Schwelle weiter gesenkt werden, ab welcher Schwangerschaftswoche eine extreme Frühgeburt intensivmedizinisch behandelt werden darf. Im Ausland liegt die Schwelle schon heute bei der 22. Woche. Unsere Gesellschaft, die Abtreibungen von leicht behinderten Babys kaum hinterfragt, wird sich mit dem Thema Behinderung noch verstärkt auseinandersetzen müssen. Denn die Frage stellt sich, welchen Platz die Gesellschaft den Kindern gibt, deren intensivmedizinische Rettung als medizinisches Wunder bejubelt wird.