Stephanie Künzler
Monatsgespräch
Anwältinnen der Kinder
Es gibt Situationen, da brauchen auch Kinder einen Anwalt oder eine Anwältin. Wann das der Fall ist, wie man Kindern eine Stimme gibt, und wie unser Rechtssystem mit ihnen umgeht, darüber sprechen Kinderanwältin Annegret Lautenbach und Irene Verdegaal vom Verein Kinderanwaltschaft Schweiz.
Warum brauchen Kinder eine Anwältin?
Annegret Lautenbach: Kinder brauchen nur in speziellen Situationen eine Anwältin – etwa wenn sich die Eltern uneinig sind und beide behaupten, im Namen des Kindes zu sprechen, sie aber gleichzeitig ganz unter schiedliche Ansichten vertreten. Da ist es wichtig, dass ein Kind eine eigene Stimme bekommt.
Bezieht sich Ihre Arbeit vor allem auf Streitigkeiten im familiären Kontext?
Annegret Lautenbach: Es geht um Sorgerechtsfragen, Fragen der Platzierung eines Kindes – auch um Fremdplatzierung – oder um Gefährdungen eines Kindes. Im Schweizer Gesetz ist seit 2008 verankert, dass Kinder im Familienkontext das Recht auf eine Vertretung in Verfahren haben.
Irene Verdegaal: Der Verein Kinderanwaltschaft setzt sich seit fast 20 Jahren dafür ein, dass die Rechte und Interessen von Kindern und Jugendlichen in behördlichen Verfahren mehr beachtet werden. Wünschenswert wäre, dass das auch ausserhalb des Familienkon texts geschieht – etwa in der Schule oder bei medizinischen Massnahmen.
Können Sie das etwas ausführen?
Irene Verdegaal: Bei den medizinischen Massnahmen geht es vor allem um die geschlechtliche Transformation. In dieser Frage sind sich Eltern und Kinder nicht einig. Das Thema betrifft in der Regel Kinder ab 14 Jahren. Es sind zwar wenige Fälle, aber für die Betroffenen sind es sehr wichtige Entscheidungen.
Und wann brauchen Kinder in der Schule einen Anwalt oder eine Anwältin?
Irene Verdegaal: Bei Schulverfahren, geht es oft um Kinder mit besonderen Bedürfnissen. Eltern möch ten häufig, dass ihr Kind in der Regelklasse bleibt, während die Schule ein Sondersetting vorschlägt. Da wäre es wichtig, dass auch das Kind eine Stimme und eine Vertretung hat, die seine Bedürfnisse einbringt. Will es in der Klasse bleiben oder wäre es ihm wohler in einem anderen Setting?
Wie kommen Kinder zu Ihnen
Annegret Lautenbach: Es sind in der Regel die Behörden, die unsere Einsetzung anfordern, konkret die Kindes und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) oder ein Gericht. Selten kommen auch Eltern direkt auf uns zu. Es gibt keine Pflicht, uns bei Verfahren dazuzuholen. Es hängt von der jeweiligen Behörde und ihrer Einstellung ab, wie oft wir zum Einsatz kommen.
Annegret Lautenbach, Kinderanwältin
Gibt es regionale Unterschiede?
Annegret Lautenbach: Es kommt sehr auf die Behörde an und darauf, wie sensibilisiert sie auf unsere Arbeit ist. Im Kanton Zürich werden wir sehr regelmässig dazugeholt, in anderen Regionen ist unser Einsatz seltener und wir sind weniger bekannt.
Wie viele Fälle gibt es schweizweit jährlich, in die Kinderanwält:innen involviert sind?
Irene Verdegaal: Dazu gibt es keine Statistik. Wir wissen, dass wir bei rund zwei Prozent der Kesb-Fälle dazugeholt werden. 2023 gab es knapp 50 000 Fälle, die Kinder und Jugendliche betrafen. Bei schätzungsweise 1000 Fällen waren Kinderanwält:innen involviert.
Annegret Lautenbach: Es braucht uns nicht in jedem Kesb-Verfahren. Unser Interesse ist auch nicht, dass wir bei 10 Prozent der Fälle zum Einsatz kommen. Wir wollen dort zum Zug kommen, wo es sinnvoll ist. Dazu müssen wir sowohl Behörden als auch Eltern oder Lehrpersonen sensibilisieren, dass sie zu diesem Mittel greifen. Und wir müssen aufzeigen, dass wir ein echter Mehrwert sind.
Wie realistisch und umsetzbar sind diese Wünsche?
Annegret Lautenbach: Das hängt unter anderem vom Alter ab. Ihre Ideen sind manchmal unrealistisch, spiegeln aber oft ein zentrales Bedürfnis.
Können Sie ein Beispiel geben?
Annegret Lautenbach: Ich hatte einen Fall von zerstrittenen Eltern in einem ländlichen Gebiet. Nach der Trennung wohnten sie zwar nicht weit weg voneinander, allerdings lag ein Berg zwischen den Wohnorten. Die Eltern wollten auch beim Sorgerecht ganz unterschiedliche Dinge. Beide wollten alles. Das Mädchen schlug mir als Lösung vor, einen Tunnel durch den Berg zu bauen, damit sie hin- und hergehen könnte. Natürlich ist das nicht möglich. Aber in der Tunnelidee steckte eine wichtige Botschaft: Das Mädchen wollte Zeit mit beiden Elternteilen verbringen.
Das eine ist der Wille des Kindes, das andere sein Wohl. Wie oft geraten Sie als Anwältin diesbezüglich in einen Konflikt?
Annegret Lautenbach: Das ist ein Konflikt, den wir unter Anwält:innen viel diskutieren. Aber eigentlich ist die Aufteilung klar: Wir Anwält:innen sind dem Kindswillen verpflichtet. Wir sind aufgefordert, an der Seite eines Kindes zu stehen und nur seine Sichtweise einzunehmen. Die Behörde, die Kesb oder das Gericht, ist dem Kindeswohl verpflichtet. Als Anwält:innen dürfen wir nicht zu sehr in die behördliche Sicht rutschen. Unsere Aufgabe ist es, durch die Übermittlung der Kindersicht Anhaltspunkte für das Kindswohl zu liefern.
Wie oft liegen Wille und Wohl weit aus einander?
Annegret Lautenbach: Das kommt schon vor. Je älter ein Kind ist, desto besser kann man mit ihm über diesen Konflikt sprechen. Ich erarbeite mit den Kindern häufig einen Plan B. Wenn ein Kind beispielsweise am liebsten 100 Prozent bei der Mutter sein möchte, das aber aufgrund ihrer psychischen Verfassung nicht möglich ist. Meine Aufgabe ist, gemeinsam mit dem Kind Alternativen zum Wunschszenario zu entwickeln. Die zweitbeste Variante – in Anwaltssprache den Eventualantrag – stelle ich dann im Verfahren.
Irene Verdegaal, Kinderanwältin
Und wie ist es bei kleinen Kindern?
Annegret Lautenbach: Mein jüngster Klient war ein ungeborenes Kind mit einer drogenabhängigen Mutter. Es ging um seine Unterbringung nach der Geburt.
Wie sind Sie vorgegangen?
Annegret Lautenbach: Ich ging davon aus, dass der Wille eines Neugeborenen sei, möglichst viel Zeit bei seiner Mutter zu sein. Das Kind musste nach der Geburt aber zuerst in einen Entzug und der Zustand der Mutter war ein wichtiger Faktor für seine Sicherheit. All diese Punkte wog ich gegeneinander ab. Je jünger das Kind ist, desto häufiger ist der Kindswille eng mit den Kindswohlüberlegungen verknüpft, auch bei mir. Meine Aufgabe ist dann sicherzustellen, dass Behörden in ihren Entscheidungen den Kindswillen nicht völlig ausblenden.
Welche Eigenschaften braucht man als Kinderanwältin?
Annegret Lautenbach: Es gibt fachliche Standards. Beruflich muss man, Anwalt oder Jurist sein oder einen psychosozialen Hintergrund haben. Ausserdem gibt es inzwischen drei Weiterbildungen (CAS) an den Hochschulen Luzern und der ZHAW in Winterthur sowie neu auch an der Universität Freiburg.
Und persönlich?
Irene Verdegaal: Empathie ist zentral. Das ist vermutlich der grösste Unterschied zur Arbeit mit Erwachsenen. Bei Erwachsenen kann man auf Augenhöhe reden und gemeinsam als Partei auftreten. Auch mit wilden Vorstellungen. Bei Kindern geht das nicht. Alles ist behutsamer. Die Kommunikation muss sehr bedacht sein. Es ist wichtig, sich gut zu überlegen, was man sagt und wie man es sagt. Damit es verständlich ist und nicht falsche Erwartungen geschürt werden.
Annegret Lautenbach: Ein zentraler Teil der Weiterbildung ist die Entwicklungspsychologie: Was kann ein 12-Jähriger, was eine 5-Jährige und wo steht ein Kind mit besonderen Bedürfnissen in diesem Alter? Ein weiterer Fokus ist die Gesprächsführung. Über diese Dinge weiss man als Anwalt oder Anwältin in der Regel nicht viel. Als Kinderanwält:in hat man eine ganz spezielle Rolle. Sie ist nahe an jener des «normalen» Anwalts, aber sie ist nicht ganz identisch. Das muss man immer im Hinterkopf haben.
Gibt unser Rechtssystem Kindern genügend Gehör? Also, reden wir genügend mit Kindern oder zu viel über sie?
Annegret Lautenbach: Wir reden leider noch immer sehr viel über Kinder und deutlich weniger mit ihnen. Das sieht man schon im Alltag. Viele Erwachsene reden mit Kindern nicht auf Augenhöhe. Darum glauben viele Erwachsene in Streitsituationen auch, dass das Kind ihre Meinung teile und dass sie den Willen des Kindes vertreten, obwohl das nicht der Fall ist.
Wie wichtig ist es, Kinder in rechtlichen Belangen vermehrt zu integrieren?
Irene Verdegaal: Das ist sehr wichtig. Die Frage ist: Wie gelingt das auf eine kindgerechte Art und Weise. Heute ist das Vorgehen nicht kindgerecht. Gerichte und Behörden machen zwar eine Anhörung. Aber wenn man sich vorstellt, dass ein Kind in einem grossen Saal vor Fremden seinen Standpunkt vertreten muss, kann man sich schon fragen, ob dies das richtige Setting ist. Kann ein Kind da wirklich sagen, was es möchte? Wir glauben, das ist schwierig. Kinderanwält:innen können das. Und durch die Gespräche mit den Kindern gelingt es ihnen, ein umfassenderes Bild des Kindswillens zu erhalten, die Aussagen in einen Kontext zu setzen und so ein nachhaltigeres Ergebnis zu erzielen.
Annegret Lautenbach-Koch, lic. Iur., ist Co-Präsidentin von Kinderanwaltschaft Schweiz und Rechtsanwältin in der Stadt Zürich. Sie ist spezialisiert auf Ehe- und Familienrecht sowie auf Kindes- und Erwachsenenschutzrecht. Sie verfügt zudem über eine Weiterbildung im Bereich Kindesvertretung und ist seit 2007 als Kinderanwältin tätig.
Irene Verdegaal, lic. phil I, leitet seit 2021 als Geschäftsführerin die Geschäftsstelle des Vereins Kinderanwaltschaft Schweiz. Sie führt die operativen Tätigkeiten des Vereins. In ihrer Funktion leitet sie unter anderem schweizweit Projekte, die die Förderung und Einhaltung der Partizipationsrechte von Kindern und Jugendlichen in Verfahren zum Ziel haben.
