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Entwicklungsstufen
Allein sein
Für sich spielen, selbstständig die Welt erkunden oder sich zurückziehen: Das ist für Kinder wichtig. Doch auch beim Alleinsein braucht es die Eltern – für sichere Räume und Bindung.
Clara hat eine Holzeisenbahn bekommen. In der Kita beschäftigt sie sich gerne mit Zügen und Schienen. Beim Spielen zu Hause ruft sie hingegen nach kurzer Zeit ihre Eltern. Allein spielen sei «blöd», findet die Dreijährige.
Für ihre Eltern mag es anstrengend sein, wenn Clara oft gemeinsam spielen möchte. Für Clara ist es jedoch ein Fortschritt. Fürs Verständnis hilft ein Blick in die Theorie: Schon mit wenigen Monaten spielen Kinder. Sie erkunden ihre Umgebung und Objekte. «Dieses sensorische Funktionsspiel ist die erste Phase der Spielentwicklung. Dabei spielen Kinder alleine», erklärt Catherine Lieger, Expertin für das Lernen von Kindern und Projektleiterin bei «Spielen Plus» der Pädagogischen Hochschule Zürich (PHZH). Ab zwei Jahren spielen Kinder nebeneinander, immer noch meist alleine. Zwischen drei und vier Jahren entdecken sie, dass es interessant ist, ein Gegenüber zu haben und mit jemandem zu spielen.
Clara hat also erst gerade bemerkt, wie toll zusammen spielen ist und möchte das ganz oft tun. Verständlich. Gleichzeitig ist es wichtig, dass sie sich alleine beschäftigen kann. Das selbstständige Spiel fördert Flexibilität, Planung und Impulskontrolle. Die Eltern können Clara mit Übergängen dabei unterstützen. Ihr Papa erklärt ihr: «Ich baue fünf Minuten an der Eisenbahn mit, dann hänge ich die Wäsche auf. Du baust weiter und ich komme, wenn ich fertig bin.» Tatsächlich gelingt es Clara, im Spiel zu bleiben, bis ihr Papa wiederkommt und fragt, was in der Zwischenzeit entstanden ist. Stolz zeigt sie ihm die Strecke, die sie gebaut hat. «Mit der Nachfrage signalisiert der Vater Interesse, das motiviert Clara und fördert die Selbstreflexion», erklärt Lieger. Und was, wenn es Clara nicht gelungen wäre, alleine weiterzuspielen? Dann hätte ihr Papa sie liebevoll motivieren können, indem er beispielsweise sagt, dass er ganz gespannt ist, was sie alles baut, bis er zurück ist.
Routinen wie wiederkehrende Spielzeiten am selben Ort fördern das selbstständige Spiel. Und – für die Expertin zentral – inspirierendes Material. Dieses muss weder teuer noch ausgefallen sein. Im Gegenteil: «Ich empfehle Material, das wenig vorgibt und anregt, auszuprobieren.» Dazu gehören etwa Tücher, Seile, Klammern, Schachteln oder Bälle. Mag sich Clara nicht mit der Eisenbahn beschäftigen, hilft vielleicht eine Kiste oder ein Becken mit Wasser, plus eine Portion Geduld: «Eltern dürfen darauf vertrauen, dass Kinder das Alleine-Spielen mit der Zeit lernen», so Lieger.
Zusammen macht es mehr Spass: Das entdecken Kinder ab drei Jahren. Ist Eltern dies bewusst, hilft es, das Bedürfnis der Kinder nach gemeinsamer Spielzeit besser zu verstehen.
Damit sich Kinder alleine wohlfühlen, brauchen sie Sicherheit. Dazu müssen Eltern nicht neben ihnen stehen, aber emotional verfügbar sein, indem sie sich beispielsweise dafür interessieren, was das Kind macht.
Weniger ist auch im Spiel mehr. Kinder brauchen nicht viele oder teure Spielsachen, sondern Dinge, die ihre Kreativität anregen. Oft sind es alltägliche Dinge wie Sand, Wasser, Stöcke, Tücher, Papier, Karton etc., mit denen sich Kinder gerne beschäftigen.
Ideen für Spiele gibt es im Projekt der PHZH unter: spielenplus.ch
Seit Sophie in der ersten Klasse ist, spielt sie mit Freund:innen in Nachbarsquartieren. Ihre Eltern will sie nicht dabeihaben. Sophies Eltern hätten sie gerne mehr im Blick und überlegen, ihr eine Smartwatch zu kaufen.
Mit Schulbeginn entwickeln Kinder vermehrt den Drang nach Selbstbestimmung. Sie wollen alleine zu Freund:innen, bei anderen übernachten oder, wie Sophie, ihren Radius erweitern – ohne Mama und Papa, versteht sich. Sophies Eltern sind im Clinch: Sie möchten nicht Spielverderber:innen sein, wollen aber auch nicht, dass Sophie ohne Aufsicht durch die Nachbarschaft zieht. Eine Smartwatch scheint ein idealer Kompromiss. Sophie kann ohne Erwachsene mit ihren Freund:innen draussen spielen, trotzdem wissen ihre Eltern, wo sie sich aufhält, und können sie jederzeit anrufen. Win-win, oder? Eher nicht, sagt Catherine Lieger: «Eltern signalisieren ihren Kindern mit dieser Art von Kontrolle, dass sie ihnen nicht zutrauen, bestimmte Situationen alleine zu schaffen, beispielsweise den Schulweg. Das schwächt das Selbstwertgefühl.» Wichtiger für Kinder in diesem Alter ist das Gegenteil von Kontrolle: unbeobachtete Zeit, und zwar nicht nur im Kinderzimmer, sondern auch draussen. «Kinder im Unterstufenalter sollten Gelegenheit haben, selbstständig Entscheidungen zu treffen und Risiken abzuschätzen. So erfahren sie Selbstwirksamkeit», betont Lieger. Dazu gehören auch negative Erfahrungen, wie ein offenes Knie oder ein Streit. «Kinder lernen so, ihre Fähigkeiten einzuschätzen, soziales Verhalten und Probleme zu lösen. All das stärkt die Selbstregulation und ihr Selbstvertrauen», erklärt Lieger.
Sophies Eltern ist es dennoch nicht wohl dabei, ihre Tochter einfach alleine losziehen zu lassen. Catherine Lieger hat dafür Verständnis. Ihr Rat: Schritt für Schritt Sicherheit gewinnen. Sophies Mutter kann sie beispielsweise in das Nachbarsquartier begleiten und nach einer gewissen Zeit gehen. Oder sie lässt Sophie schon mal vor und schaut nach einer vereinbarten Zeit vorbei. Ausserdem kann sie mit Sophie klare Abmachungen über räumliche oder zeitliche Grenzen treffen. «So gewinnen Eltern Sicherheit und können sich nach und nach zurückziehen», sagt Lieger. Wichtig: die vereinbarten Regeln einhalten. Das gilt sowohl für Sophie, die ihren Eltern damit zeigt, dass sie zuverlässig ist, als auch für die Eltern, die Sophie signalisieren, dass sie ihr diese Schritte zutrauen.
• Zutrauen und Ermutigen wirken nachhaltiger als Kontrolle. Auch wenn es verlockend ist, das Kind mit einer Smartwatch im Blick zu haben, unterstützen Eltern die Entwicklung ihres Kindes mehr, wenn sie ihm unbeobachtete Zeit mit Freund:innen ermöglichen.
• Wissen schafft Vertrauen. Um sein Kind mit einem guten Gefühl gehen zu lassen, hilft es, sich ein Bild der Umgebung und der Freund:innen zu machen. Mit Gesprächen nach dem Spielen bleibt man zudem am Ball und erfährt, was draussen läuft.
• Können Kinder bei der Gestaltung von Regeln und Freiräumen mitreden, stärkt das die Akzeptanz für die ausgehandelten Grenzen.
Catherine Lieger, Dozentin PHZH
Marlon hat gerne Zeit mit seiner Familie verbracht. Seit er in der Oberstufe ist, zieht er sich vermehrt in sein Zimmer zurück, schliesst die Tür und besteht auf Privatsphäre. Seine Eltern sind besorgt.
Von Familie zu Freunden: So lässt sich vereinfacht die Verschiebung des Interesses beschreiben, die in der Pubertät stattfindet. «Die Entwicklungsaufgabe von Teenagern ist, familiäre Beziehungen umzustrukturieren. Es braucht eine innere Distanz zu den Eltern, damit man einen kritischen Blick auf sie werfen kann», sagt Christina Häberlin Lanz, Kinder- und Jugendpsychologin der Fachstelle Pinocchio. Zu diesem Prozess gehört, dass Peers – also Gleichaltrige – wichtiger werden. Sie lösen die Eltern als Leitfiguren ab, zumindest temporär. «Um selbstständiger zu werden und ihre Identität zu finden, müssen Teenager die Verbundenheit zu ihren Eltern zurücknehmen. Sie orientieren sich vermehrt an ihren Peers», erklärt Häberlin.
Dieser Prozess ist für Teenager eine grosse Veränderung. Es ist darum laut der Expertin ganz normal, dass Marlon vermehrt das Bedürfnis nach Privatsphäre hat. Denn dieser Raum hilft bei der Identitätsfindung. Marlons Eltern sollten akzeptieren, dass ihr Sohn Zeit hinter verschlossener Zimmertür verbringen möchte – und seine Privatsphäre respektieren. Dazu gehört auch, dass sie vor dem Betreten des Zimmers anklopfen und dieses nicht heimlich durchforsten.
Gleichzeitig ist es wichtig, dass sie mit Marlon in Verbindung bleiben und sein Wohl im Blick behalten. So stellt sich etwa die Frage, was Marlon im Zimmer macht? Ist er wirklich alleine oder chattet er? Spielt er Onlinespiele? Oder konsumiert er in einer anderen Form digitale Medien? Diese Fragen können Eltern stellen und je nachdem auch eine Diskussion über das Thema Medienkonsum mit ihren Kindern führen. Und wann sollten sich Marlons Eltern über das Verhalten ihres Sohnes Sorgen machen? «Merken sie, dass er die Schule oder seine Hobbys vernachlässigt, sollten sie ein Auge darauf haben.» Alarmierend sei, wenn das Kind bedrückt wirke, isoliert sei oder nicht mehr mit Freunden rausgehe, sagt Häberli und ergänzt: «Eltern haben oft ein gutes Gespür dafür, wie es ihrem Kind geht, auch noch im Teenageralter.»
Christina Häberlin Lanz, Psychologin
• Dranbleiben: Dass sich Jugendliche von den Eltern zurückziehen und mehr Privatsphäre brauchen, ist Teil ihrer Entwicklung. Durch echtes Interesse kann man als Eltern versuchen, mit dem Kind in Verbindung zu bleiben.
• Auch wenn Teenager lieber Zeit alleine oder mit Freund:innen verbringen, sollte man an Familienritualen festhalten, beispielsweise am gemeinsamen Abendessen. Solche Fixpunkte geben Halt.
• Haben Eltern ein ungutes Bauchgefühl, lohnt es sich, darauf zu hören. Man sollte mit dem Kind ein Gespräch darüber führen oder eine Fachperson um Rat fragen.