Erziehung
In 5 Schritten besser durch Trotzanfälle
Was passiert eigentlich mit einem Kind, wenn es sich vor Wut auf dem Boden wälzt? Nicht mehr ansprechbar ist? Die Gehirnforschung liefert Antworten, die Eltern helfen, ihre Kinder durch einen Wutanfall zu begleiten.
Irgendwann passiert es den besten Eltern: Das zornige Kleinkind hat sich auf den Boden geschmissen, schreit, strampelt, wütet, ist nicht mehr ansprechbar. Der Auslöser? Könnte meist trivialer nicht sein: ein falsch geschnittenes Brot etwa oder eine Hose, die angezogen werden soll.
Zugegeben: Für ein ausgereiftes Gehirn ist das Pipifax. Für ein sich entwickelndes durchaus ein Grund, einfach mal abzuschalten. Nicht grad total, aber die linke Hälfte – vereinfacht gesagt zuständig für das logische Denken, das Sprechen, das Analysieren – verabschiedet sich. Die rechte Gehirnhälfte übernimmt. Und dort – oh, Wunder – sitzen die Emotionen, das Kreative. Bei Kleinkindern sei ohnehin die rechte Gehirnhälfte dominant, wie die Autorinnen von «Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn», Danielle Graf und Katja Seide, schreiben. Deshalb leben sie total im Moment, sind impulsiv und leicht ablenkbar.
Passiert nun noch etwas, das beim Kind Stress auslöst, zum Beispiel eben ein falsch geschnittenes Brot, dann schaltet sich die linke Gehirnhälfte mehr oder weniger aus. Deshalb nützt alles gute Zureden nichts. Aber was hilft dann?
5 Schritte, jeder ein Meilenstein
Das Ernüchternde zuerst: Ein Rezept, das immer funktioniert, gibt es nicht. Manchmal sind die Kleinen einfach zu müde, zu hungrig, zu überreizt. Doch nach dem Lesen verschiedener Ratgeber, Gesprächen mit Expertinnen und einigen Jahren Erfahrung als Mutter hat sich ein Ablauf herauskristallisiert: Grob lässt er sich in fünf Schritte einteilen. Jeder ist für sich schon ein kleiner Meilenstein. Wer alle schafft, kann sich gerne Expertin oder Experte nennen. Doch beginnen wir von vorne.
Dem Kind für Übergänge genügend Zeit lassen und es rechtzeitig auf Ortswechsel vorbereiten.
Zeit verlieren, um Zeit zu gewinnen. Zum Beispiel: Das Kind lieber noch 5 Minuten spielen lassen und dann in Ruhe gehen, als durch einen Wutanfall 15 Minuten zu verlieren, weil man sofort gehen wollte.
Vor dem Einkaufen absprechen, was gekauft und was nicht gekauft wird.
Dem Kind eine Auswahl lassen, zum Beispiel bei den Kleidern.
Selbst gelassen zu bleiben, tönt einfach, ist aber mitunter das Schwierigste. Denn unsere Kleinen geraten oft dann in Rage, wenn es überhaupt nicht passt. Fünf Minuten, bevor der Bus fährt, wenn das Mittagessen auf dem Herd steht oder das Geschwister gestillt werden will. «Möge ein Buddha sein, wer in solchen Situationen immer ruhig bleibt. Im Alltag ist es oft nicht leicht, auf jeden Wutanfall ideal zu reagieren», sagt Melanie Otto. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen Ulm und forscht mit Schwerpunkt Selbstregulation.
Auch Entwicklungspsychologin Brigida Lorenz meint: «Hat man nicht die Möglichkeit, auf das Kind einzugehen, ist es wichtig, nachher darüber zu sprechen und dem Kind zu erklären, weshalb man so reagiert hat.» Sie berät als Brain-Coach Eltern in Sachen Gehirngesundheit und hat ein Workbook herausgegeben, wie Eltern gelassen mit Wutanfällen umgehen können. Darin beschreibt sie, dass man sich mit seinen eigenen Gefühlen auseinandersetzen soll, wenn das Kind tobt. Sie empfiehlt, diese laut auszusprechen, zum Beispiel: «Oh Mann, ich fühle mich so gestresst. Ich würde am liebsten laut schreien.» Auch das tönt gut – in der Theorie. Und in der Praxis? Gar nicht so einfach, wenn man zur Generation der emotionalen Analphabeten gehört. Viele heutige Eltern haben nicht oder nur wenig gelernt, ihre Gefühle wahrzunehmen und darüber zu sprechen. Das braucht also etwas Übung in ruhigen Momenten.
Doch weshalb ist es so wichtig, selbst ruhig zu bleiben? Hier kommt wieder die Hirnforschung ins Spiel. Es geht um die Spiegelneuronen. Das sind spezielle Nervenzellen im Gehirn, die dafür sorgen, dass wir Stimmungen und Gefühle anderer Menschen wahrnehmen können. «Sie sorgen dafür, dass das Kind das elterliche Verhalten kopiert», erklärt Brigida Lorenz. Das Kind spüre die Emotionen der Eltern anhand der Körperhaltung, Stimme, Mimik und Gestik.
Brigida Lorenz empfiehlt, sich neben das tobende Kind zu knien, ganz langsam auszuatmen und im Kopf von 90 rückwärts zu zählen. So lange dauere es etwa, bis die Stresshormone die Nieren erreicht hätten und dort herausgefiltert werden. Und: «Wenn man sich auf seinen eigenen Zustand fokussiert, geht die Zeit schneller rum.» In dieser ersten Phase soll man das Kind toben lassen und darauf achten, dass es sich nicht verletzt. Es gilt also, die starken Gefühle des Kindes auszuhalten.
Wobei wir bereits beim nächsten Schritt wären: das Kind nicht alleine lassen. «Kleine Kinder brauchen Co-Regulation, das heisst, Hilfe beim Regulieren ihrer Gefühle», sagt Melanie Otto. Zwar lernten Kinder von Geburt an Strategien, wie sie sich selbst beruhigen könnten. Doch bis sie etwa sechs Jahre alt seien und in herausfordernden Situationen auch später noch, bräuchten sie dabei Hilfe.
Schreit das Kind nicht mehr so laut, sollten Eltern die Emotionen des Kindes benennen. Zum Beispiel so: «Du bist richtig wütend / frustriert / enttäuscht, weil dein Turm aus Bauklötzen schon wieder umgestürzt ist.» Somit lernt das Kind seine Gefühle kennen und vergrössert seinen emotionalen Wortschatz. Die beiden Bestseller-Autorinnen Danielle Graf und Katja Seide empfehlen, die Emotionen zu spiegeln. Das bedeutet, «mit etwas aufgeregter Stimme und empathischer Mimik und Gestik» zu sprechen. Wichtig sei dabei, den richtigen emotionalen Ton zu treffen. Die Gefühle nicht zu stark, aber auch nicht halbherzig zu spiegeln.
Merken Kinder, dass die Eltern ihre Gefühle ernst nehmen und verstanden haben, beruhigen sie sich oft. Manchmal hilft es auch, die Quelle des Ärgers ausser Sichtweite zu bringen oder sich davon zu entfernen. Den Laden zu verlassen, zum Beispiel.
Ist der Wutanfall abgeflacht, lassen sich die Kinder meistens trösten und in den Arm nehmen. Auch hier ist Fingerspitzengefühl gefragt: Wer zu früh ist, wird häufig weggestossen, «weil die Stresshormone noch nicht ganz herausgefiltert sind», wie Brigida Lorenz sagt. Eltern sollten dem Kind mit Worten oder offenen Armen signalisieren, dass es zu einem kommen kann. Hat sich das Kind beruhigt, ist die Zeit gekommen, um etwas zu erklären, falls dies nötig ist.
Zum Beispiel, weshalb es nun keine Schokolade gibt oder es Zeit ist, nach Hause zu gehen. Manchmal flammt der Wutanfall dann nochmals auf. «Er ist aber in der Regel schwächer», schreiben Danielle Graf und Katja Seide. Dann heisst es, zurück zu Schritt 1. Das ist natürlich anstrengend. Doch ein Kind liebevoll durch einen Wutanfall zu begleiten, heisst nicht, ihm alle seine Wünsche zu erfüllen.
Manchmal gilt es, einen Kompromiss zu finden, wie «Du kannst die Hausschuhe nicht für draussen anziehen, doch wir nehmen sie mit, damit du sie bei Oma und Opa tragen kannst» oder «Wir haben zu Hause noch Schokolade. Du darfst nach dem Mittagessen ein Stück essen» oder «Wir müssen nun nach Hause, weil Papa wartet und ich Hunger habe. Möchtest du noch ein- oder zweimal rutschen?». Einen solchen Kompromiss zu finden, ist nicht immer einfach oder möglich. Lässt sich der Wunsch in der Realität nicht umsetzen, raten die Expert*innen, Verständnis für den Wunsch zu zeigen und ihn in der Fantasie zu erfüllen. Also so zu tun, als ob man jetzt eine grosse Glace essen würde.
Ist das Kind nach einem Wutanfall wieder gut gelaunt, empfiehlt Brigida Lorenz, über das Geschehene zu sprechen. Zum Beispiel so: «Hey, du warst vorher super wütend, weil du noch länger auf dem Spielplatz bleiben wolltest, oder?» Nun soll man das Kind erzählen lassen und keine Ratschläge liefern – ausser, es frage danach. Zu Beginn benötige das Kind etwas Zeit, um Erklärungen zu finden. «Dadurch wachsen Verbindungen im kindlichen Gehirn, welche die Funktionen der rechten mit derjenigen der linken Hälfte verbinden», erklärt Brigida Lorenz.
Die Expert*innen sind sich einig: Kinder, deren Eltern sie regelmässig in dieser Art und Weise durch ihre Wutanfälle begleiten, beruhigen sich nach einer Weile schneller, weil sich in ihren Gehirnen wichtige Verbindungen für die Selbstregulation aufgebaut haben. Melanie Otto meint: «Der Ablauf ritualisiert sich und die Zeit, die Eltern investieren, lohnt sich.» Und Brigida Lorenz ist überzeugt: «Wer seine Emotionen einmal regulieren kann, ist ab da im Vorteil. Wer etwa unter Stress freundlich bleibt, kann besser mit anderen zusammenarbeiten.»
Daniel J. Siegel/Tina Payne Bryson: «Achtsame Kommunikation mit Kindern». arbor 2016. 208 Seiten, Fr. 34.–.
Danielle Graf/Katja Seide: «Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn». Beltz 2016. 292 Seiten, Fr. 26.–
Brigida Lorenz: «5 Tipps, wie du gelassen auf Wutanfälle reagieren kannst», kostenloses Workbook auf ➺ www.brigida-lorenz.org
Doch ich frage mich, wie viel Einfluss haben die Eltern oder das Umfeld auf die Entwicklung der Selbstregulation und der Impulskontrolle tatsächlich? Wie viel ist genetisch bedingt oder hängt vom Temperament ab? Entwickelt sich dieser Bereich des Gehirns nicht einfach von selbst mit zunehmendem Alter? «Das kann man so nicht sagen, denn zwischen Genen und Umwelt bestehen komplexe Zusammenhänge», meint Melanie Otto. Aufgrund von Zwillingsstudien und anderen Experimenten tendiert die Forschung heute jedoch dazu, den Einfluss des Umfelds höher zu gewichten als früher.
Sind das gute oder schlechte Nachrichten für uns Eltern? Ich bin mir nicht sicher. Einerseits haben wir viel Einfluss, andererseits entsteht Druck. Und davon gibt es in der heutigen Gesellschaft bereits genug. Deshalb erscheint es mir umso wichtiger, sich das Sprichwort «Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen» zu Herzen zu nehmen. Sich ein Netzwerk aufzubauen und Unterstützung zu holen. Dadurch lässt sich Stress reduzieren. Und es entsteht Zeit, sich um die eigenen Bedürfnisse zu kümmern.
Sibille Moor hat Anglistik studiert und mehrere Jahre als Redaktorin für Zürcher Tageszeitungen gearbeitet. Heute unterrichtet sie Englisch und Deutsch und textet als Social Media Managerin. Seit sie Mutter ist treiben sie die Herausforderungen im Familienalltag um. Und genau darüber schreibt sie für «wir eltern».