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Tagebuch einer Mutter
20 Jahre Muttersein - 20 Jahre Loslassen
Von Anita Zulauf und Martina Schnelli
Es beginnt bei der Geburt und es endet – nie! Unsere Autorin Sarah Coppola-Weber schildert, wie sie die Loslassen-Etappen ihrer mittlerweile erwachsenen Tochter erlebte: Vom ersten Schritt bis zum Führerschein und dem leeren Zimmer zu Hause.
20. März 2002:Geburt
Loslassen, es beginnt mit der Geburt – frau kann nicht gebären, wenn sie nicht loslässt, sich einlässt – auch darauf, dass nun alles, alles anders werden wird. Es wäre schön gewesen, diese Erkenntnis bereits vor zwanzig Jahren gehabt zu haben. Doch damals ging es darum, wo das Baby zur Welt kommen soll, im italienischen Veltlin oder in der Ostschweiz? Errechneter Geburtstermin war der 24. März. Der Deal: Kommt es vor meinem Geburtstag am 16. März, wird es in Italien sein, danach in der Schweiz. Am 16. März ist die letzte Untersuchung bei meiner Schweizer Frauenärztin. Alles ist ruhig. Am Abend des 19. März ein rhythmisches Ziehen. Ich sitze auf dem Bett und lese. Kann kein Auge zu tun. Dann bringt mich meine Mutter ins Spital, es heisst, der Muttermund sei vier Zentimeter offen.
Wow, sie kommt noch vor Termin! Der werdende Papi macht sich auf den Weg, 400 Kilometer Reise hat er vor sich. Er kommt am 20. März morgens um 7 Uhr in der Frauenklinik an, bis dahin hatte ich die ganze Nacht auf einem Sessel ausgeharrt, damit die Geburt nicht allzu schnell vorangeht. Mein Plan geht auf – kaum ist er da, lasse ich los. Nina Angela Maria erblickt um 10.09 Uhr das Licht der Welt.

September 2002: Wieder arbeiten
Wir haben einen Umzug vom Veltlin nach Ligurien hinter und die kirchliche Trauung mit Taufe vor uns. Als freie Medienschaffende arbeite ich auch als junge Mutter weiter und so stehe ich bei der Wahl der Miss Italia nel mondo in Salsomaggiore Terme im Einsatz, um darüber zu berichten. Mit dabei Ninas Taufpatin – für mich das erste Mal, dass ich sie fremden Händen anvertraue. Es zerrt an meinem Herz. Nichts ist wie früher, meine Gedanken sind bei meiner kleinen Tochter. In meinem Beruf als Journalistin zu arbeiten, ist nun plötzlich auch Loslassen auf Zeit von meiner Rolle als Mutter. Loslassen auch von traditionellen Vorstellungen, wie eine Mutter zu sein hat, was sie zu tun und wo sie zu sein hat. Ein Prozess, der dauert…
Juni 2003: Die ersten Schritte
Nie wird einem so deutlich vor Augen geführt, was es wirklich heisst, loszulassen, als wenn sich das eigene Kind, dass wir monatelang getragen, gewiegt, geschoben haben, sich plötzlich von uns wegbewegt. Uns gar zuwinkt und hinter der Zimmertür verschwindet. Mit vor Stolz funkelnden Augen. Mamas Herz blutet, doch es gibt keinen Schritt zurück. Ein neuer Lebensabschnitt beginnt für Nina, aber auch für mich. Ihr Bewegungsradius erweitert sich, bald schon rennt sie weg von mir, um die Welt zu entdecken. Die Welt wird gefährlicher für sie, sie wird stolpern, fallen. Nicht immer werde ich rechtzeitig da sein, nicht alle Ecken abpolstern können, aber sie trösten und ihr beim Aufstehen helfen.

September 2005: 1. Chindsgitag
Erst gerade ist Nina grosse Schwester geworden und gleichzeitig steht ihr erster Chindsgitag vor der Tür. Ich schwörs, ich hab das mit der Familienplanung nicht absichtlich gemacht. Nina scheint es nicht viel auszumachen, sie freut sich auf die neue Erfahrung. Mir ist wind und weh, nicht nur wegen der familiären Situation, sondern auch wegen des Kindergartens. Wird sie das schaffen mit den vielen Kindern, solange weg von zu Hause? Wer wird sie trösten? Der blätternde Putz und die spartanische Einrichtung im Kindergartenzimmer scheinen nur mich zu stören, ihre Begeisterung ist ungebrochen. Ich lerne zu vertrauen in die Stärken meiner kleinen Tochter, die schon sehr viel mehr kann, als mir manchmal zu sehen möglich ist. Loslassen kann nur, wer auch vertraut, dass es schon gut kommt.

Juni 2013: das erste Lager
Es sind vor allem die ersten und letzten Schultage, die mich als Mami daran erinnern, loszulassen. Von Jahr zu Jahr wird Nina selbstständiger und reifer, ihre Entwicklung schreitet in grossen Schritten voran. Im Juni 2013 lässt sie auch die Primarschulzeit hinter sich und wechselt in die Sekundarschule. In jenem Sommer fährt sie erstmals sechs Tage in ein Lager; ich bringe sie hin, begutachte mit ihr zusammen das Mehrbettzimmer und lasse sie dann beruhigt zurück. Eine Cousine und eine Freundin sind ebenfalls dort, das erleichtert mich. Da es nur abends Zeitfenster zum Telefonieren gibt, erwarten wir jeweils sehnlichst Ninas Anruf. Sie tönt begeistert; wir freuen uns mit ihr. Ihre Abwesenheit zu Hause ist greifbar, aber sie ist ja nicht so weit weg, trotzdem fehlt sie uns. Uns ist bewusst, dass sie eine wichtige Erfahrung macht, das tröstet. Als wir sie als Familie abholen, erscheint sie uns ganz anders, viel reifer. Nun beginnt die Zeit, wo sie ihre Entwicklungsschritte allein macht, wir werden immer mehr zu wohlwollenden Zuschauern, Unterstützerinnen am Rand. Nicht immer einfach, dieser Rollenwechsel – früher war ich das Zentrum ihres (Über-)Lebens.
Juni 2016: Abschlussprüfungen
Die erste offizielle Prüfung steht an – die Sekundarschul-Abschlussprüfung. Nina ist die Einzige, die möchte, dass ihre Mami beim mündlichen Teil mit dabei ist; alle ihre Mitschülerinnen und Mitschüler wollen ihre Eltern vor der Tür und nicht im Raum dabei haben. Mein Herz rast – es ist ihre erste Prüfung, und ich kann sie ihr nicht abnehmen, sondern nur still auf meinem Stuhl sitzen, händeschwitzend und daumendrückend. Sie hats geschafft – ihr Glück ist meine Riesenfreude!
Mai 2017: Rückschläge
Nina tanzt, seit sie acht Jahre alt ist. Nun will sie ihr Können auf die Probe stellen und an einem Tanzwettbewerb mitmachen. Die Jury ist bereit – und Nina gibt ihr Bestes. Ich weiss, sie muss da durch und ich kann ihr nur gut zureden und von der Tribüne aus mitfiebern. Die Feuertaufe gelingt. Aber sie steigt nur innerhalb einer Kategorie auf und beschliesst, keine weiteren Wettbewerbe mehr zu machen. Loslassen von Träumen und Vorstellungen – auch unsere Kinder müssen es lernen. Und ich als Mutter muss aufpassen, ihre Enttäuschung und Entscheidungen nicht zu meinen zu machen. Die Welt da draussen wird es nicht immer nur gut meinen mit meiner Tochter. Das Einzige, was ich machen kann: Ihr das Rüstzeug mitgeben, auch allein mit Rückschlägen umgehen zu können, und die Sicherheit, dass egal, was sie tut, ich nicht alles verstehen werde, aber trotzdem immer da bin für sie.

Juli 2019: Zwei Monate getrennt
Nina reist weg, weit weg. Für mein Mutterherz viel zu weit weg. Erst wenige Monate zuvor hat sie an einem Training für Tourismusanimation mitgemacht und ist das erste Mal allein mit dem Zug gereist. Nach Rimini. Sie war mit 17 Jahren die jüngste Teilnehmerin. Nachdem sie dort in die vorderen Ränge gekommen ist, kann sie vermittelt werden, innerhalb Italiens. Sie entscheidet sich für eine Feriensiedlung in Kalabrien und steigt Mitte Juli morgens um 6 Uhr in den Zug. Schluchzend stehe ich halb wach am Bahngleis und winke dem sich langsam in Bewegung setzenden Zug zu, in der Gewissheit, meine Tochter erst in zwei Monaten zu sehen. Die Fahrt dauert zwölf Stunden, Nina muss zweimal umsteigen. Ich habe veranlasst, dass eine Freundin sie in Neapel am Bahngleis erreicht, um ihr Verpflegung zu bringen. Wenigstens verhungern soll das arme Kind nicht. Nina arbeitet viel, es macht ihr Spass, sie tritt vor 400 Feriengästen auf die Bühne, Abend für Abend. Sie schläft jeweils nur ein paar Stunden. Mitte August dann die Hiobsbotschaft: Nina hat Fieber, sie muss das Bett hüten. Ich wäre am liebsten in den nächsten Zug gesprungen, doch über 1000 Kilometer trennen uns. Schrecklich. Wenige Tage später die Entwarnung – sie war wohl nur übermüdet und brauchte ein wenig Erholung. Mir fällt ein Stein vom Herzen.

November 2020: Allein auf der Strasse
Nina macht den Führerschein! Seit Monaten bereitet sie sich darauf vor, für mich ist es eine Qual, auf dem Beifahrersitz auszuharren, dennoch überwinde ich meine Angst. Ich muss ihr vertrauen, mal wieder, sie beruhigt mich, sie wisse schon, was sie machen müsse. Sie macht es gut. Die Autoprüfung besteht sie auf Anhieb. Doch erst langsam gewöhne ich mich daran, auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen. Mittlerweile lasse ich mich gern herumchauffieren, ermahne sie aber immer noch häufig. Sie nimmt es gelassen. Für mich ist die bestandene Fahrprüfung der eigenen Tochter ein grosser Schritt des Loslassens. Denn fortan ist sie motorisiert unterwegs und nicht mehr auf unsere Fahrdienste angewiesen. Ich muss mich überwinden, nicht überall Gefahren zu sehen. Gezwungenermassen. Auch ich war damals als 19-Jährige auf den Strassen unterwegs, fuhr allein ins Tessin und nach Italien.
Juni 2021: Maturabschluss
Die Maturaprüfung steht an. Ich weile berufshalber im Ausland und kann ihr nur alles Gute für ihre Matura wünschen. Es tut weh, nicht vor Ort zu sein, Mutterschuldgefühle machen sich breit, aber ich kann es nicht ändern. Vater und Freundinnen sind für sie da.
Dezember 2021: Das leere Zimmer
Dass Nina an die Universität will, war schon länger klar. Dass sie nicht pendeln wird, ebenfalls. Bologna war eine Option, doch es zieht sie nach Rom. Mit ihrem Vater hat sie im Herbst mögliche Zimmer begutachtet, nun ist es so weit, sie steigt einmal mehr in den Zug. Ich habe Bahnhöfe schon immer verabscheut und schlucke tapfer die Tränen hinunter, bis sie ausser Sichtweite ist. Dann aber kann ich nicht anders, es weint einfach. Nur wenige Tage später reisen wir ihr mit dem Auto nach, um ein paar volle Umzugsschachteln zu bringen. Der wiederholte Abschied in Rom ist weniger schlimm. Ein grosser Schritt des Loslassens ist gemacht, nichts wird mehr so sein wie früher. Das leere Bett im Mädchenzimmer ist anfänglich ein trauriger Anblick und sehr seltsam, doch die Tage und Wochen vergehen und ich gewöhne mich an die Leere, die äusserliche und innerliche. Ninas quirliges Wesen, das unser Haus so lebendig macht, fehlt. Das Familiengefüge verschiebt sich, ihre beiden kleineren Geschwister nehmen mehr Raum ein. Loslassen öffnet immer auch neue Optionen, neue Kapazitäten. Wie es sein wird, wenn mein jüngstes Kind das Haus verlässt, mag ich mir noch nicht vorstellen. Diese Leere wird eine andere sein.

20. März 2022: Der erste Freund
Nina wird 20! Ich bin seit zwanzig Jahren Mutter. Bin ich nun alt? Nina kommt aus Rom zurück, um ihren Geburtstag im Kreis der Familie zu feiern. Ihr fast 80-jähriger Grossvater aus der Schweiz reist an, wir verbringen ein paar Tage beim Skifahren, erstmals mietet sie selber ein Zimmer zusammen mit ihrem Freund. Das Loslassen diesbezüglich fühlt sich natürlich an, vielleicht, weil ich sie in guten Händen weiss. Es ist nicht ihr erster, aber ihr erster «richtiger» Freund. Dass sie erst im 20. Lebensjahr eine Beziehung einging, hat die Sache für mich zugegeben sehr vereinfacht. Ich kann ihr vertrauen, sie weiss genau, was sie will. Nina wird wohl nie mehr ganz in unser Haus zurückkehren. Sie hat nun ihr eigenes Leben, Freunde, die ich nicht kenne, tut Dinge, von denen ich nicht oder erst irgendwann erfahre, und das alles ist gut und richtig so. Trotzdem: So automatisch wie die Zug Türen bei jeder ihrer Wegfahrten schliessen, so reflexartig kullern bei mir die Tränen. Mir hilft, mich abzulenken und Dinge zu tun, die mich erfüllen. Auch beruflich tätig zu sein, nicht nur Mutter zu sein, hilft über Loslass-Phasen hinweg, und zwei kleinere Kinder, bei denen ich das Loslassen gerade wieder übe, ebenfalls. Denn während ich diese Zeilen schreibe, sitzt meine zweite Tochter gerade im Zug Richtung Rom, um ihre grosse Schwester zu besuchen.