
Martina Huber
Medizin
Migräne bei Kindern: Der Schatten im Alltag
Von Martina Huber
Alessandra Dall’Ara lebt seit ihrer Kindheit mit chronischer Migräne – und hat dem Thema ein Kinderbuch gewidmet. Sie und ein Kinderneurologe geben Einblick in ein Leiden, das den Alltag komplett dominieren kann.
Alessandra Dall'Ara war sieben Jahre alt, als sie an Neujahr 2013 ihre erste richtig starke Migräneattacke erlebte. Sie wachte müde und mit Übelkeit auf und musste sich übergeben. «Meine Mutter dachte erst, ich sei krank», erinnert sich die heute 19-Jährige. Doch dann setzten starke Kopfschmerzen ein, die den ganzen Tag nicht weggingen und auch am nächsten Tag noch da waren. In der Folgezeit häuften sich Attacken nach dem gleichen Muster: Müdigkeit und Erbrechen, gefolgt von starkem Kopfschmerz, der den ganzen Tag oder länger anhielt.
Ihre Mutter ging mit ihr zum Kinderneurologen, der die Diagnose stellte: Migräne ohne Aura. Laut der Internationalen Klassifikation von Kopfschmerzerkrankungen der Internationalen Kopfschmerzgesellschaft ( ICHD-3 ) liegt eine solche dann vor, wenn mindestens fünf Attacken aufgetreten sind, die unbehandelt oder erfolglos behandelt zwischen 4 und 72 Stunden dauern. Die Schmerzen müssen mindestens zwei der folgenden Merkmale aufweisen: einseitig; pulsierend; von mittlerer bis starker Intensität; verstärkt durch körperliche Aktivität. Hinzu kommen entweder Übelkeit und Erbrechen oder Licht- und Geräuschempfindlichkeit. Und: Der Kopfschmerz lässt sich nicht durch eine andere Diagnose erklären.
«Migräne ist eine Ausschlussdiagnose», sagt der Kinderneurologe Tobias Iff. «Wir haben keinen Labortest, der sie nachweisen kann.» Iff ist Vorstandsmitglied der Schweizerischen Kopfwehgesellschaft und begleitet in seiner Praxis in Zürich pro Monat rund 40 Kinder und Jugendliche mit Migräne. Bei einer Erstabklärung prüft er zunächst, ob eine organische Ursache wie zum Beispiel ein Hirntumor oder eine Entzündung vorliegt. Danach fragt er genau nach – zum Schmerz selbst, in welchen Situationen und wie häufig er auftritt, wie lange er anhält und ob die Symptome zwischen den Episoden vollständig verschwinden. Um all das über einen längeren Zeitraum zuverlässig zu erfassen, ist ein Kopfwehkalender oder -tagebuch ein wichtiges Hilfsmittel – auch um die individuellen Auslöser von Migräneattacken und später die richtige Behandlung zu finden. Bei Kindern kann sich Migräne auch allein in Form von Bauchschmerzen äussern, begleitet von Übelkeit, Erbrechen und Appetitlosigkeit. Und bei kleinen Kindern, die ihren Schmerz noch nicht gut beschreiben und in Worte fassen können, sind Beobachtungen der Eltern zum Verhalten wichtig: «Viele sagen nicht ‹Ich habe Kopfweh›, sondern sprechen von einem Druck im Kopf, klagen über Übelkeit oder Bauchweh, oder sie sind einfach müde, blass, schonen sich und legen sich hin», sagt Iff.
Da Migräne auch vererbt werden kann, fragt der Neurologe jeweils auch die Eltern, ob sie selbst darunter leiden. Und: In manchen Fällen haben Kinder nicht Migräne, sondern Spannungskopfschmerzen – etwa, wenn ein nicht entdecktes ADHS vorliegt und das Kind deshalb im Alltag ständig überfordert ist. «Dann braucht es auch eine Veränderung in der Alltagsstruktur, in der Schule oder zu Hause, und nicht nur ein Schmerzmittel», sagt Iff. Spannungskopfschmerzen von Migräne zu unterscheiden, sei nicht immer ganz einfach, da viele Betroffene an beidem leiden, erklärt er. Während die Intensität bei Migräne per Definition mittel bis stark ist, ist sie bei Spannungskopfschmerzen nur leicht bis mittelstark. Und meist fehlt beim Spannungskopfschmerz die für Migräne typische Lichtund Lärmempfindlichkeit. Auch werden Spannungskopfschmerzen durch körperliche Aktivität nicht verstärkt, im Gegenteil: Bewegung kann hier sogar hilfreich sein.
Damit die Migräne nicht chronisch wird, ist es wichtig, Migräneanfälle bei Kindern früh und wirksam zu behandeln. Im Akutfall können nicht rezeptpflichtige Schmerzmittel eingesetzt werden – bevorzugt Ibuprofen, da es entzündungshemmend ist und in der Regel besser wirkt als Paracetamol. Ab einem Alter von zwölf Jahren kann ein Triptan-Nasenspray verwendet werden – das einzige spezifische Migränemittel, das bereits für Kinder zugelassen ist. Wichtig ist jedoch, Schmerzmittel nicht an mehr als zehn Tagen pro Monat einzunehmen, denn ein Übergebrauch kann selbst Kopfschmerzen auslösen oder verstärken.
Treten drei bis vier schwere Anfälle pro Monat oder mehr auf, sollten eine Kinderärztin oder ein Kinderneurologe aufgesucht werden, um zusätzlich eine vorbeugende Behandlung zu finden, die passt. Laut Iff können bei rund der Hälfte der Betroffenen Magnesium und hoch dosiertes Vitamin B2 (Riboflavin) die Häufigkeit und Stärke von Migräneattacken verringern. Wichtig sind auch einfache Lifestyle-Massnahmen wie genügend trinken, regelmässig schlafen und essen, Ausdauersport treiben.
Wirkt das allein nicht, stehen verschiedene verschreibungspflichtige Medikamente zur Verfügung – darunter Betablocker oder Antiepileptika, die teilweise off-label eingesetzt werden und manchmal mit Nebenwirkungen wie Müdigkeit, Gewichtszunahme oder Konzentrationsstörungen verbunden sind. «Bis eine passende Behandlung gefunden ist, muss Verschiedenes ausprobiert werden, jeweils während mehrerer Monate. Für Betroffene und ihre Eltern kann das sehr belastend sein.» Laut Iff sind in der Schweiz rund 10 bis 12 Prozent der Kinder und Jugendlichen von episodischer Migräne betroffen. An der chronischen Form mit Kopfschmerzen an mindestens 15 Tagen im Monat leiden etwa ein bis zwei Prozent. Er betont: «Migräne ist nicht einfach ein bisschen Kopfweh, sondern eine neurologische Erkrankung, die den schulischen und sozialen Alltag eines jungen Menschen stark prägen und in manchen Fällen das ganze Leben überschatten kann. Man muss den Schmerz der Kinder immer ernst nehmen.»

Allesandra
Dass manche Leute den Schmerz nicht ernst nehmen, hat Alessandra Dall'Ara immer wieder erlebt. «Fast alle hatten schon einmal Kopfweh», sagt sie. «Aber wie stark der Schmerz bei Migräne sein kann, und wie belastend es ist, konstant auf die nächste Attacke zu warten – das kann sich niemand vorstellen, der das selbst nicht erlebt hat.» So hatte sie in der Primarschule eine Lehrerin, die ihr nicht glaubte. Dabei habe sie ihre Migräne nie als Ausrede eingesetzt, um in der Schule zu fehlen. Im Gegenteil: Wenn sie nicht schon am Morgen nach dem Aufstehen erbrechen musste, ging sie hin. Einmal habe sie sogar in der Schule eine schwere Attacke erlebt, sich mitten im Schulzimmer übergeben müssen – und die Lehrerin dann gebeten, ihre Mama bitte nicht anzurufen. Sie nahm ihr Schmerzmedikament und blieb wie die anderen Kinder bis zum Ende des Unterrichts, um dann nach Hause zu gehen und sich mit einem Coolpack auf der Stirn ins dunkle Zimmer zu legen und zu schlafen. «Viel später habe ich über Umwege erfahren, dass meine Lehrerin mir dennoch nie geglaubt hat, dass ich eine Krankheit habe. Sie dachte, meine Mutter habe mir nur eingeredet, dass ich ein Problem hätte.»
Um mehr Verständnis für die Krankheit zu schaffen und Einblick in den Alltag Betroffener zu geben, hat Dall'Ara im Rahmen ihrer Maturarbeit ein Kinderbuch zum Thema geschrieben und illustriert: «Der Schatten, der in Lunas Kopf lebt». Die Geschichte handelt von der elfjährigen Luna, die aufgrund einer Migräneattacke die eigene Geburtstagsparty absagen muss, und die darunter leidet, dass ihre Freundinnen und Freunde wenig Verständnis zeigen. Erst durch das Eingreifen eines Lehrers, der die Situation ernst nimmt und vermittelnd eingreift, lernen die anderen Kinder allmählich, Lunas Krankheit besser zu verstehen, und mit ihr zusammen einen besseren Umgang damit zu finden.
Zur Akutbehandlung des Kopfschmerzes:
• Ibuprofen oder Paracetamol
• Coolpack und kühlende Roll-ons
Unterstützende Mittel zur Migräneprophylaxe bei Kindern:
• Magnesium
• Hoch dosiertes Vitamin B2 (Riboflavin)
Wichtig:
Diese Mittel eignen sich nur ergänzend zur ärztlichen Behandlung – insbesondere bei häufigen oder starken Beschwerden sollte nicht selbst therapiert werden.
Geburtstagsfeiern oder andere wichtige Momente hat Dall'Ara zwar nicht verpasst. Aber sie hatte immer Angst, etwas zu versäumen oder die Wochenendpläne ihrer Familie mit ihrer Migräne negativ zu beeinflussen. Ihre ganze Kindheit und Jugend waren überschattet von chronischer Migräne. Trotz Behandlung hatte sie meist fünfzehn Schmerztage pro Monat oder mehr. Die Akutmedikamente halfen, den Schmerz auf ein erträgliches Mass zu reduzieren. Aber alle vorbeugenden Behandlungen, welche die Zahl der Schmerztage hätten reduzieren sollten, wirkten bei ihr nicht – oder die Nebenwirkungen waren zu stark.
«Meine Mutter hat alles mit mir ausprobiert», sagt Dall'Ara. «Manchmal war es für mich schwierig, durchzuhalten, noch eine weitere Therapie auszuprobieren, weil ich irgendwann das Gefühl hatte: Es hilft sowieso nichts. Mit der Zeit war ich an den Schmerz so gewohnt, dass es mir fast lieber gewesen wäre, einfach damit zu leben, als meine ganze Freizeit in Arztpraxen und mit Ausprobieren verschiedener Therapien zu verbringen.» Sie habe gelernt, auch mit Schmerzen kopflastige Arbeiten zu verrichten und ihre persönlichen Trigger so gut wie möglich zu vermeiden: zu wenig Schlaf, Hitze, Stress, Alkohol. Und, wenn eine Migräne schon begonnen hat, verschlimmert sie sich durch starke Gerüche wie Orangen, Mandarinen oder Parfüm.
Erst mit 18 fand sie eine vorbeugende Therapie, die für sie gut wirkt: eine monatliche Spritze mit einem monoklonalen Antikörper, speziell zur Vorbeugung von Migräne entwickelt. Das Medikament ist bisher nur für Erwachsene zugelassen und wird von der Krankenkasse nur dann übernommen, wenn mehrere andere Therapien nicht funktioniert haben.
Zum ersten Mal in ihrem Leben hat Dall'Ara nun Monate mit nur zwei bis vier MigräneTagen. Erbrechen müsse sie nur noch selten, und auch Tage, die sie komplett im abgedunkelten Zimmer verbringt, sind selten geworden. Seit letztem Sommer studiert sie Germanistik an der Universität Zürich. Zwar musste sie schon ein paarmal mit Schmerzmitteln an die Uni, aber sie hat bisher keinen einzigen Tag wegen Migräne gefehlt. Was sie sich von der Gesellschaft wünscht? «Dass man den Schmerz der anderen ernst nimmt, auch wenn man ihn selbst nicht nachvollziehen kann – und nie einer Person mit Migräne sagt, das sei doch nur ein bisschen Kopfweh.»
• Neu aufgetretener starker Kopfschmerz
• Alter unter fünf Jahren bei Erstauftreten der Schmerzen
• Nächtliches Erwachen wegen Schmerzen
• Erbrechen, Sehstörungen oder Bewusstseinsveränderungen
• Zunehmende oder häufige Kopfschmerzen, die sich mit rezeptfreien Schmerzmitteln nicht behandeln lassen
• Wirkverlust von Schmerzmitteln oder häufige Einnahme (>10 Tage/Monat)
Sind keine dieser «Red Flags» vorhanden, ist das Kind zwischen den Episoden völlig unauffällig und sind die rezeptfreien Schmerzmittel gut wirksam, kann eine symptomatische Behandlung versucht werden. Bei Unsicherheit sollte jedoch stets eine ärztliche Abklärung erfolgen
Kinderbuch «Der Schatten, der in Lunas Kopf lebt» ist auf Deutsch, Französisch und Italienisch erschienen und kann per Mail kostenlos bestellt werden bei der Schweizerischen Kopfwehgesellschaft: → kopfweh@imk.ch
Dieser Text erschien leicht verändert erstmals in der Juli-Ausgabe des Drogistenfachmagazins «Wirkstoff».