Jungen und Pubertät
Wie Eltern Jungs durch die Pubertät begleiten
Von Ava Sommer*
Entwickelt sich ein Sohn, der eine emanzipierte Mutter hat, automatisch zu einem Mann, der für eine gleichberechtigte Gesellschaft einsteht? So einfach ist es nicht, stellt unsere Autorin fest.
Er wird jetzt wirklich ein Mann, denke ich, wenn er vor mir steht, nachdem er den ganzen Nachmittag unterwegs war, bevor er sich gleich wieder in sein Zimmer verschanzt. Mittlerweile kann er fast auf mich herabschauen. Seine Stimme ist tief geworden, seine Füsse sind grösser als meine. Wir streiten viel. Er macht mich wütend. So wütend, wie ich gar nicht wusste, dass ich wütend sein kann. Meine Ansprüche und Forderungen hingegen lösen bei ihm meist nur noch ein Augenrollen aus.
Doch was heisst es für meinen 16-jährigen Sohn, plötzlich kein Kind mehr zu sein und seinen eigenen Weg zu suchen? Was heisst es überhaupt heute für Buben, ein Mann zu werden, ihre Identität zu finden?
Toxische Männlichkeit?
In einer Zeit, in der das Bild des klassischen Mannes in der Öffentlichkeit, das Patriarchat, (zu Recht) ins Wanken gerät? In der wir Erwachsenen von toxischer Männlichkeit reden, von der Männlichkeit in der Krise. Von alten weissen Männern, die Unrecht tun auf der Welt. Wir die Männer aber immer noch als das starke Geschlecht bezeichnen und den Buben nahelegen, einen Beruf zu erlernen, mit dem sie eine Familie ernähren können, «schwul» das primäre Schimpfwort auf dem Schulhof ist und dort Buben, die Gefühle zeigen, «Muttersöhnchen» oder «Pussy» genannt werden.
Hilferuf, nicht Renitenz
«Die Offenheit und die Möglichkeiten des Männlichen sind grösser geworden», sagt der Pädagoge, Jungenexperte und Autor Reinhard Winter am Telefon, «die rigiden Einengungen der Buben haben sich glücklicherweise für die meisten von ihnen entspannt.»
Trotzdem erleben die jungen Männer eine Diskrepanz durch die vielen unterschiedlichen Botschaften. So müssen sie heute einerseits männlich sein, und das mit wenig Unterstützung – auf der anderen Seite betrachten wir das Männliche in unserer Gesellschaft immer kritischer. «Natürlich zu Recht», sagt Winter, «doch in dieser Spannung können nicht alle Buben Orientierung finden.»
Buben gelten in unserer Gesellschaft generell als schwierig, als Querschläger. Als Bildungsverlierer, schwerer erziehbar als Mädchen. Statistiken zeigen zudem: Jungen brechen häufiger die Schule ab als Mädchen, erkranken häufiger an Depressionen, begehen vier- bis fünfmal mehr Suizid, werden öfter straf- und gewalttätig und sind häufiger süchtig.
Buben von allein erziehenden Müttern, wie mein Sohn, gelten dabei als besonders gefährdet. Und wenn ich das durch meine eigenen Beobachtungen ergänze – Buben stören mehr den Unterricht in der Schule und werden in der Folge oftmals problematisiert oder pathologisiert, sie erhalten immer mehr Ritalin und Therapien – besänftigt das kaum meine Sorgen um sie.
Es verstärkt hingegen meinen Wunsch, Jungen würden von Lehrpersonen und anderen Bezugspersonen mehr Anerkennung oder positive Bestärkung erhalten, ihr Verhalten würde mehr als Hilferuf, denn als Renitenz eingeordnet.
Korsett von Männlichkeit
Walter Hollstein, Basler Soziologe, Geschlechterforscher und Autor, macht seit 40 Jahren darauf aufmerksam, den Problemen der Männer und Buben würde in unserer Gesellschaft zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Er sieht kaum Fortschritte.
«Jungen presst man noch immer in ein gesellschaftliches Korsett von Männlichkeit», sagt er, «unerbittlich trimmt man sie auf Leistung und Erfolg.» Körperkontakte und Zärtlichkeit hingegen trainiere man auch heute noch ab, und man halte Buben dazu an, ihre Probleme selbst zu lösen, auch schon in einem Alter, in dem sie dazu noch gar nicht fähig seien.
«Prinzessinnen-Jungs»
Auch jüngere Stimmen, wie die des Feministen und Autoren Nils Pickert beschäftigen sich mit den Buben. In seinem neuen Buch «Prinzessinnen-Jungs» schreibt er: «Ich bin bei Weitem nicht der Erste, dem auffällt, dass es um unsere Jungen schlecht bestellt ist.»
Dabei ginge es ihm aber weniger um die Frage, ob ein Junge heute noch ein Junge sein dürfe, als darum, ob ein Junge wirklich er selbst sein dürfe. Und stellt in seinen Recherchen fest: Buben tragen oftmals eine Maske, sprechen nicht über ihre Gefühle wie Schmerz oder Wut. «So als würden ihnen Hilfe, Nähe und Trost nicht zustehen», schreibt er.
Der männliche Körper, die männliche Gesundheit, scheine in unserer Kultur sogar so unwichtig zu sein, dass die medizinische Versorgung von seinen Söhnen an der Schwelle zur Pubertät einfach aufhöre. Währenddessen für die Töchter der nächste logische Schritt sei, die Frauenärztin zu besuchen. Auch deshalb trügen später Männer zu wenig Sorge zu sich: «Wir müssen damit aufhören, Buben vorzuleben, dass Männlichkeit heisse, sich selbst und andere schlecht zu behandeln.»
Sorgen um den Sohn
Doch unkonventionelle Männer ecken an. Homosexuelle junge Männer in meinem Umfeld erzählen mir davon, wie sie im Ausgang von anderen jungen Männern beschimpft oder geschlagen würden. Söhne von Freunden schildern, dass sie im Ausgang schon Gewalt erlebten, im Bus oder auf öffentlichen Plätzen auf den Boden schauten, da Blickkontakt andere Jungs provoziere.
Ob mein Sohn eher zu den Opfern oder den Tätern gehört? Oder ob er sich aus allem raushält? Er sei schon von einer Gruppe junger aggressiver Männer davongerannt. Er nahm sich schon einmal ein Messer mit in den Ausgang, erfuhr ich später.
Das ist halt die Pubertät
Niemals hätte ich gedacht, wie aktiv ich mir als Mutter zureden muss, als spräche ich ein Mantra: Er findet seinen Weg. Er macht das gut. Das ist halt die Pubertät. Ich kann ihm vertrauen. Ich muss mich zurücknehmen. Ich muss mich ablösen.
Manchmal bin ich die Gedanken so leid, dass ich mir wünschte, er wäre bereits im Erwachsenenalter angekommen. Hauptsache, er stürzt nicht in die Drogen ab, wird nicht gewalttätig, nimmt sich nicht das Leben. Alles andere schaffen wir. Doch aus Scham behalte ich diese Gedanken für mich.
Dabei halten nicht nur mich die Sorgen um meinen pubertierenden Sohn nachts wach: In meinem Bekanntenkreis machen sich viele Eltern Sorgen um ihre Jungen. Einige kommen nicht mehr mit ihnen klar, brauchen den Elternnotruf oder den kinder- und jugendpsychiatrischen Notfalldienst. Sie erzählen von Teenagern, die mit Wutausbrüchen die ganze Familie terrorisieren, die spätnachts von der Polizei nach Hause gebracht werden, die gamesüchtig sind, sich ins Koma trinken.
Beziehungen wichtig für eine gesunde Entwicklung
«In jedem sozialen Milieu, in jedem Alter, in jeder Kultur gibt es solche Fälle», sagt Reinhard Winter. Man könne nicht sagen, dass ein Junge aus einer Schweizer Mittelschichtsfamilie es grundsätzlich einfacher oder schwerer habe. Und auch Jungen seien individuell.
Er findet aber: «Die Hauptfaktoren für eine gesunde Entwicklung von Kindern sind auf jeden Fall Beziehungen. Beziehungen zu Eltern, Betreuungspersonen und im Freundeskreis, in der Peergruppe.» Die Peergruppe sei für Buben meist wichtiger als für Mädchen, davon gehe ein sehr grosser Einfluss aus.
Ein fotografischer Entwicklungsroman: Die französisch-amerikanische Fotografin Martine Fougeron hat die Entwicklung ihrer Söhne jahrelang mit der Kamera dokumentiert. Das Buch dazu «Nicolas & Adrien - A World with Two Sons», eine Art fotografischer Entwicklungsroman, aus dem die hier gezeigten Bilder stammen, ist 2020 im Steidl Verlag erschienen.
Und es sei schwierig geworden, männliche Bezugs- und Betreuungspersonen zu finden, so Winter. In der Grundschule in Deutschland habe sich die Zahl der männlichen Lehrkräfte von 2006–2016 halbiert. In der Schweiz sieht es ähnlich aus. «Buben müssen jedoch in Dialoge, in Beziehungen, auch in Konflikte gehen können mit anderen Männern, um zu erleben, was ‹männlich sein› heisst. Um herauszufinden, wie sie später als Mann einmal sein wollen – und wie eben nicht.»
Buben müssten also mehr in Frauenberufe finden, damit sie später andere Buben erziehen können? Die Berufswahl werde stark durch das Denken der Eltern beeinflusst, sagt Winter. «Eltern sollten unbedingt stützend und bejahend unterwegs sein, wenn der Sohn einen klassischen Frauenberuf wählen will. Sonst beisst sich die Katze doch ewig in den Schwanz.»
Väter in der Verantwortung
Nicht nur in den Schulen fehlt es den Buben an männlichen Bezugspersonen, jüngste Zahlen zeigen: In der Schweiz leben nach einer Scheidung kleine Kinder fünfmal öfter bei der Mutter und auch wenn die Ehe hält, arbeiten in Schweizer Familien 85 Prozent der Väter Vollzeit, übernehmen die Mütter den Grossteil der Erziehung.
Dabei wollen Schweizer Väter ihre Kinder beim Aufwachsen begleiten und im Haushalt ihren Teil übernehmen, sagen zumindest Umfragen. Trotzdem nehmen bei einer Trennung Väter häufig nicht einmal mehr das Besuchsrecht für ihre Söhne wahr und auch in intakten Familien verrichten Männer, wie andere Studien zeigen, nur einen Bruchteil der Erziehungsarbeit.
Sind die Väter sich ihrer Verantwortung bewusst? Ist ihnen klar, wie sehr sie ihren Söhnen fehlen, wenn sie diese nicht begleiten? Oder haben viele Männer einfach nie gelernt, wie man es anders macht, als die Generation der eigenen Väter? Oder liegt es an uns Müttern? Müssten wir den Vätern mehr Platz einräumen?
Mein Handy klingelt. Mein Sohn ruft mich an, während ich an diesem Text schreibe. Er wolle zu einem Freund bis nach Mitternacht. Ich lehne ab. Er wird morgen wieder früh raus müssen. «Du behandelst mich wie einen Vierjährigen», sagt er. «Alle dürfen mehr.» Er wird laut, wirkt aggressiv. Er gehe trotzdem zu seinem Freund, ich könne nichts machen dagegen. Er legt auf.
Jungen fordern Autorität ein
Warum nur scheint es mir so viel schwerer, einen Jungen zu erziehen als ein Mädchen? Reinhard Winter sagt: «In unserer westlichen Kultur haben wir grosse Schwierigkeiten mit dem Männlichen. Gerade männliche Pubertierende fordern uns heraus, wollen Grenzen spüren, reflektieren uns, das ist nichts Schlechtes.» Sie hätten ein unglaubliches Sensorium dafür, wo und wie sie uns Eltern treffen können.
Das habe auch seinen Grund: Jugendliche wollen, dass wir uns positionieren, und hätten wir als Eltern nicht die Fähigkeit, eindeutige Grenzen zu setzen, würden die Jungen die Autorität einfach einfordern. Er fügt an: «Wir Eltern denken oftmals, Bindung passiere dann, wenn wir es friedlich haben, doch auch mal im Konflikt zu sein, ist Beziehung.»
Manchmal ist nicht alles schwer. Manchmal, da sind wir uns auch einig, mein Sohn und ich. Kürzlich sagte er mir, er kenne keinen Film, in dem eine Frau mal einem Mann etwas beibringe, das fände er sexistisch. Oder er fände es diskriminierend und unfair, dass Jungen sich nicht umarmen und küssen dürften so wie die Mädchen, ohne als schwul zu gelten. Als ich ihm dann sagte, er solle es doch einfach trotzdem tun, wehrte er vehement ab. Wir mussten beide lachen.
Buben ernst nehmen
«Buben sind in unserer Gesellschaft auf einem besseren Weg, als wir denken», sagt Winter. Er ist optimistisch, auch aus eigener Erfahrung mit seinem Sohn. «Es bestätigt sich eigentlich immer wieder», sagt er, «auch wenn man in der Phase der Pubertät ist und alles hoch dramatisch und problematisch wirkt – schliesslich wendet es sich oft zum Guten.»
Ob er noch einen Rat habe, frage ich den Bubenexperten zum Schluss unseres langen, fast schon freundschaftlichen Gesprächs. «Ziehen Sie die Buben nicht ins Lächerliche, nehmen Sie sie als Gesprächspartner ernst, geben Sie nicht nur Befehle und holen Sie sich lieber einmal mehr Hilfe von Fachpersonen», antwortet er. Und er fügt an: «Das Wichtigste noch: Nie aufgeben!»
Ich klopfe bei meinem Sohn an die Zimmertür, er ruft wie immer «Ja». Wie immer liegt er auf dem Bett und schaut in sein Tablet. Wie immer öffne ich erst einmal das Fenster, weil es mufft. Und dann setze ich mich zu ihm aufs Bett: «Magst du eine Umarmung?», frage ich ihn. Nicht wie immer. «Jo», sagt er und wir halten uns kurz in den Armen, dafür aber fest. «Gute Nacht», sage ich. «Okay», sagt er.
- Um die Privatsphäre ihres Sohns zu schützen, schreibt die Autorin unter einem Pseudonym.