
iStock.com
Muttergefühle
Was Mutterschaft mit dem Gehirn macht
Den Mummy Brain gibt es tatsächlich, sagt Hirnforscher Lutz Jäncke. Denn das Gehirn einer Mutter ist sehr stark auf ihr Kind fokussiert, so dass in Ausnahmesituationen kaum etwas anderes mehr Platz hat. Ein Gespräch mit dem Zürcher Professor über die Förderung von Kindern, die Ängste von Babys, Liebe und Sex.
wir eltern: Herr Jäncke, gibt es eigentlich den sogenannten Mummy Brain tatsächlich?
Lutz Jäncke: Natürlich. Das Gehirn einer Mutter ist sehr stark auf ihren Nachwuchs fokussiert. Zeigt man Müttern Fotos von ihren Babys, sind die Hirngebiete besonders stark aktiv, die in die Kontrolle von Emotionen und Empathie eingebunden sind. Bricht sich das eigene Kind etwa ein Bein, hat im Hirn der Mutter nichts anderes mehr Platz. Der Frontalkortex hat keine Chance.
Ein bisschen schwierig, wenn Mütter arbeiten…
Ach herrje. Sie locken mich auf dünnes Eis. Ich will mich aber nicht zu Äusserungen hinreissen lassen, aus denen mir später ein Strick gedreht werden könnte. Ich formuliere es mal so. Wenn eine junge berufstätige Mutter aus der Kita einen Anruf bekommt, das Kind sei krank, sähe das Gehirn, würde man es anschauen, so aus: 80 Prozent Brutpflege, Alarmstufe rot. Aber vielleicht findet sie ja trotzdem eine erträgliche Lösung, falls sie nicht sofort nach Hause gehen kann…
Und beim Vater ist das nicht so?
Jein. Auch der Vater kann natürlich die innigste Beziehung zu seinem Kind haben. Doch diese Beziehung entsteht als Folge von miteinander verbrachter Zeit, Intensität, Anwesenheit bei der Geburt, Liebe zur Partnerin. Bei der Mutter wird das Gehirn vor allem hormonell geflutet.
Wenn meine Tochter, als sie noch klein war, nachts geweint hat, war ich schlagartig klatschnass geschwitzt. Ich hätte sie gar nicht weinen lassen können, wie das ja zeitweilig empfohlen worden ist.
Gut so! Hoffentlich haben Sie nicht auf diese dummen Bücher gehört und sind hingegangen! Babys haben einfach enorme Angst. Sie wissen noch nicht, dass sie nicht wirklich allein sind. Ihr Gehirn besteht nur noch aus Angst. Hingehen, aufnehmen, trösten – nur so entsteht Urvertrauen, das den Grundstein für alle weiteren Lernvorgänge im Gehirn legt.
Und was ist in meinem Gehirn passiert in dieser Weinen-Schwitzen-Hingehen-Trösten-Schleife?
Kind weint. Die mütterliche Amygdala, der Mandelkern, signalisiert eine Notsituation und feuert, der Frontalkortex hält dagegen, grübelt nach einer Lösung. Purer Stress im Hirn, deshalb wohl auch das Schwitzen. Sie gehen zum Baby, heben es auf, das Kind hört auf zu weinen, im Gehirn der Mutter geht die Aktivität der Amygdala runter, der Präfrontalkortex wird runtergefahren, das Lustzentrum wird aktiv, im Gehirn des Babys auch. Belohnung auf beiden Seiten. Perfekt.
Jetzt soll dieses Wichtigste, das Baby, natürlich gefördert werden…
Über die Art und Weise kann man diskutieren… Aber ja, das wichtigste für ein kindliches Gehirn ist Förderung im Sinne von Anregung. Bleiben die aus, das sehen wir an den tragischen «Kaspar Hauser»-Geschichten oder an den schlimmen Schicksalen der rumänischen Waisenkinder, verkümmert das Gehirn. Ein Kind braucht neben Zuwendung vor allem Stimulation. Der Mensch ist zur Lernmaschine geschaffen.
Sie haben gesagt, dass Förderung unbedingt positiv ist, aber wie weit geht das? Vor ein paar Jahren wurde ein Buch von Amy Chua heftig diskutiert…
Die Tiger Mom! Diese Harvard Professorin hat an ihren Töchtern gezeigt, dass durch konsequente – und harte – Förderung aus einem Kind Bemerkenswertes herauszuholen ist. Eine ist brillant geworden, eine hat alles hingeworfen und sich von der Mutter abgewandt. Man kann also nicht genau berechnen, wie die Förderung sich auswirken wird. Es ist möglicherweise der Unterschied zwischen Förderung und Überforderung.
Was passiert denn bei Überforderung im Gehirn?
Bei Überforderung regt der Hypothalamus die Produktion der Stresshormone Cortisol und Adrenalin an. Diese aktivieren alte archaische Verhaltensweisen. Differenziertes Denken ist dann nicht möglich. Zirkulieren zu lange zu grosse Mengen an Cortisol und Adrenalin, können Organschäden entstehen. Was ich aber sagen wollte: Ohne starke Förderung und exzessives Üben werden keine herausragenden Leistungen entstehen. Sehen Sie sich die grossen Talente an, die jetzt alle Millionäre sind: Steffi Graf, Tiger Woods, Lang Lang... Ohne Fördern und Fordern gehts halt einfach nicht. Deshalb bin ich ein grosser Freund von Kunst und Sport. Der Sport beispielsweise fördert wichtige Hirnfunktionen.
Welche denn?
Ich selber bin Leistungssportler gewesen. Ich war in der deutschen Nationalmannschaft im Wasserball. Deshalb kenn ich das aus eigener Erfahrung. Sport – oder eben das Erlernen eines Instruments – fördern vielleicht nicht direkt die Schulleistungen, indirekt aber sehr wohl. Beides schult den Präfrontalkortex. Die Hirnregion, die für Selbstdisziplin und Selbstkontrolle verantwortlich ist, wird dadurch gestärkt. Etwa wenn man sich überwindet, zum Training zu gehen, auch wenn man so absolut gar keine Lust darauf hat. Aber das zu können, hilft sehr oft im Leben.
Lutz Jäncke ist Ordinarius für Neuropsychologie an der Universität Zürich.
Caren Battaglia hat Germanistik, Pädagogik und Publizistik studiert. Und genau das interessiert sie bis heute: Literatur, Geschichten, wie Menschen und Gesellschaften funktionieren – und wie man am besten davon erzählt. Für «wir eltern» schreibt sie über Partnerschaft und Patchwork, Bildung, Bindung, Erziehung, Erziehungsversuche und alles andere, was mit Familie zu tun hat. Mit ihrer eigenen lebt sie in der Nähe von Zürich.