Das therapierte Kind
Was ist heute noch normal?
wir eltern: Herr Professor Lanfranchi, wie geht es den heutigen Kindern?
Andrea Lanfranchi: Es geht ihnen im Allgemeinen gut. Kinder sind heute weder kränker noch irgendwie leistungsschwächer als früher. Allerdings: Einem nicht geringen Teil der Kinder geht es nicht so gut: Kinder aus armen Familien, Kinder aus Migrantenfamilien, die schlecht integriert sind. Sie können der Geschwindigkeit und dem Leistungsdruck der heutigen Zeit oft nicht standhalten. Sie wissen genau, dass sie in der Schule gewisse Ziele nicht erreichen können und merken, dass dies mit ihrer Familiensituation zu tun hat. Das ist für sie belastend.
Jedes zweite Schulkind wird heute abgeklärt, mit sonderpädagogischen Massnahmen beglückt oder therapiert, besagt eine Studie der Universität Zürich. Woher kommt dieser Trend, Kinder zu pathologisieren?
Aus dem wohlgemeinten Bemühen heraus, jedem Kind das zu geben, was es braucht. Die Sonderpädagogik wurde in den letzten Jahren enorm ausgebaut. Es wurden mehr Mittel gesprochen, und dadurch entstanden neue sonderpädagogische Gefässe und Spezialisierungen. Dieses Angebot steuert auch
die Nutzung.
Kann man von einer Betreuungsmaschinerie reden?
Eher von einem Mechanismus, der mit perfektionistischem Denken zusammenhängt: Man will im Umgang mit Kindern nichts verpassen, dadurch aktiviert man sehr viel. Viele sonderpädagogische Massnahmen sind sehr nützlich, Deutsch für Fremdsprachige zum Beispiel oder Logopädie. Wenn ein Kind einen S-Fehler hat, dann lässt sich dieser mit 10 Stunden Logopädie wegtrainieren, das Kind schleppt ihn nicht sein ganzes Erwachsenenleben lang mit. Anderseits sind die meisten Massnahmen sehr schlecht kontrolliert. Manche dauern über Jahre, und man weiss praktisch nichts über ihre Wirksamkeit. Ergotherapie ist so ein Beispiel. Das soll sich jetzt ändern: Künftig will man periodisch wissen, wo das Kind steht und wie viel eine Massnahme bringt.
Gibt es zu viele Abklärungen?
Der Punkt ist, dass zu viele Abklärungen zu Massnahmen führen. Beispiel ADHS: Der Anteil der Kinder im Kanton Zürich, die vom KJPD (Kinder- und Jugendpsychiatrischer Dienst) abgeklärt werden und die Diagnose einer hyperkinetischen Störung bekommen, liegt seit Jahren stabil bei 18 Prozent. Fakt ist aber, dass immer mehr Ritalin verschrieben wird – weil es noch andere Beteiligte gibt; Kinder- und Hausärzte vor allem, die ebenfalls Diagnosen stellen.
Sind nicht auch die Eltern sehr verunsichert?
Ja sicher. Der gesellschaftliche Druck, die Mittel, die Massnahmen – alles ist vorhanden, und jeder Anbieter achtet darauf, dass er sein Angebot platzieren kann mit Argumenten wie der «beschleunigten Gesellschaft». Das setzt auch bei differenzierten Eltern ein Gedankenkarussell in Gang. Deswegen müssen Abklärungen von neutralen Fachpersonen vorgenommen werden, von Profis, die ein Problem systemisch anschauen und es verstehen wollen, ohne sofort von «Massnahmen» zu sprechen. Es gibt auch Lösungen ohne Therapie. Eltern und Lehrpersonen könnten ins Gespräch kommen, erst einmal Luft holen und mit den gegebenen Mitteln etwas abmachen, wer einen Beitrag leisten kann, bevor man die Unterstützung an Spezialisten delegiert. (Lesen Sie: «Und welche Macke hast du?»)
Aber manchmal ist das schwierig. Das Kind ist verhaltensauffällig, hat in der Schule Schwierigkeiten und der Kinderarzt kommt zum Schluss: ADHS. Sind solche Diagnosen nicht auch eine Erleichterung? Weil das Problem dann einen Namen hat?
Eine Diagnose kann jene Eltern entlasten, die denken, sie seien in der Erziehung gescheitert. Die Frage lautet: Wie definieren wir Normalität und was liegt ausserhalb der Norm? Eine gute Referenz ist Remo Largo mit seinen Büchern über die kindliche Entwicklung. Largos wichtigste Aussage: Es gibt eine grosse Variabilität. Und in dieser grossen Bandbreite haben sehr viele unterschiedliche Kinder Platz, auch solche, denen wir unter Umständen ein Etikett wie ADHS anheften.
Was raten Sie Eltern, die den Verdacht haben, ihr Kind habe ADHS?
Solche Eltern frage ich in der Beratung: «Inwiefern denken Sie, dass Ihnen oder Ihrem Kind diese Diagnose nützen wird?» Bevor man den Test macht, muss man über diese Frage reden. Den Eltern sage ich jeweils: «Ich kann Ihnen drei Fachleute angeben, die Ihrem Kind ziemlich sicher ein positives Testresultat ausstellen werden –, und ich kann Ihnen drei andere nennen, die Ihrem Kind mit grosser Sicherheit kein ADHS attestieren werden. Was ist Ihnen lieber?»
Oft sind es Kindergärtnerinnen oder Lehrerinnen, die auf eine Abklärung drängen.
In der Schule schärfen die Lehrkräfte ihre Wahrnehmung, sie beobachten die Kinder anhand genau festgelegter Kategorien – Sprache, Motorik, Sozialverhalten und mehr. Sie tun dies zum Wohl der Kinder, aber dann fallen eben Dinge auf. Der Punkt ist: Was soll man tun? Aussondern oder integrieren? Mauro Martinoni, der «Vater» der schulischen Integration im Kanton Tessin, hat einmal folgende rhetorische Frage formuliert: «Wie viele Klassenletzte muss man entfernen, damit es keinen Klassenletzten mehr gibt?» Das ist kein mathematisches, sondern ein schulpolitisches Problem.
In der Schweiz gibt es immer mehr Sonderschüler. Im Kanton Zürich beispielsweise ist ihre Zahl innert zehn Jahren um 40 Prozent gestiegen, von 2614 im Jahre 2000 auf 3805 im Jahre 2010. Ist die schulische Integration gescheitert?
Diese Entwicklung ist Besorgnis erregend, von einem Scheitern der schulischen Integration würde ich trotzdem nicht reden. Bis zur Trendumkehr braucht es einige Jahre, in denen Lehrerinnen und Lehrer lernen, ihre pädagogischen Möglichkeiten voll auszunutzen. In den vergangenen Jahren haben sie sich daran gewöhnt, Schwierigkeiten im Klassenzimmer zu delegieren, sie konnten «Problemkinder» an Spezialisten abgeben. Doch damit gaben sie auch einen Teil ihres Know-hows ab. Jetzt müssen sie sich dieses wieder zurückholen, indem sie sich weiterbilden.
Wie kann schulische Integration gelingen?
Indem man sie macht und nicht immer nur darüber redet. Ausser Zeit braucht es den Willen und Ehrgeiz einer Schule, auf dieses Ziel hinzuarbeiten. Ein gutes Beispiel ist das Schulhaus Nordstrasse der Stadt Zürich: Dort ist ein Team von Leuten am Werk, das zwar im Moment überdurchschnittlich belastet, aber auch ausserordentlich engagiert ist. Ihm gelingt es, unterstützt von schulischen Heilpädagoginnen, «auffällige» Schüler zu integrieren und die Schule insgesamt vorwärts zu bringen. Eine solche Entwicklung hat ihren Preis – wenn man ein Kind aus der Sonderschule zurückholt, wird man Störungen haben und Momente des Verdrusses erleben. Doch Schulen können das lernen.
Sollte Integration nicht schon im Kleinkindalter beginnen?
Damit es zu solch ausgeprägten Schwierigkeiten gar nicht erst kommt? Absolut. In der frühkindlichen Bildung und Integration liegen grosse Chancen. Im Moment werden die für die Sonderpädagogik bereitstehenden Mittel für Kinder zwischen 4 und 10 Jahren ausgegeben. Aber Kinder, die aus unterprivilegierten Verhältnissen stammen und in der Schule sehr schlecht starten, holen ihre Lücken nie mehr ganz auf, wie Studien gezeigt haben. Deshalb sollten wir einen Teil der Mittel viel früher investieren. Am besten gleich nach der Geburt.
Der Psychologe FSP Andrea Lanfranchi (55) ist Dozent und Forscher an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH) in Zürich sowie Lehrtherapeut und Supervisor beim Ausbildungsinstitut Meilen, Systemische Therapie und Beratung.
Buchtipps
Andrea Lanfranchi/Waltraud Sempert: Wirkung frühkindlicher Betreuung
auf den Schulerfolg. 193 Seiten. Zürich 2012Andrea Lanfranchi/Josef Steppacher (Hrsg.): Schulische Integration gelingt. Gute Praxis wahrnehmen, Neues entwickeln. 344 Seiten. Zürich 2012