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Elternkolumne
Warum werden Kinder immer verglichen?
Von Ines Rütten
Vergleichen ist menschlich. Und trotzdem nervt es, wenn Erwachsene Kinder immer wieder gegeneinander antreten lassen, findet die Journalistin Ines Rütten.
«Und? Sind sie denn unterschiedlich?», fragt irgendjemand, wenn er meine Zwillinge betrachtet. Ständig. Immer wieder. Wohlgemerkt zweieiige Zwillinge, ein Junge und ein Mädchen. «Ähm, jaaaa? So unterschiedlich, wie zwei verschiedene Menschen halt sind», antworte ich dann jeweils.
Und schon gehts weiter: «Oh, sie ist aber viel grösser als er! Er ist eher der Wildere, sie ist die Schüchterne, er ist ruhig, sie ist vorwitzig, er hat dunklere Haare, sie blondere.» Und dann lassen sich beliebige Adjektive hinzufügen. Meistens ist es sogar so, dass diese Menschen meine Kinder erst wenige Minuten gesehen haben, sie gar nicht kennen und darum fern der Realität irgendwelche Aussagen machen.
Wahrscheinlich geht das den meisten Eltern mit mehreren Kindern so. Bei Zwillingen verschärft sich die Thematik noch, weil sie ja gleich alt sind und darum in der Vorstellung vieler irgendwie auch gleich sein müssen. Ich möchte gar nicht wissen, wie sich diese fanatische Suche nach Unterschieden bei eineiigen Zwillingen gestaltet, die sich äusserlich nur wenig unterscheiden.
Es scheint Menschen zu geben, die in ihrem Kopf nur Schubladen haben, die sie füllen möchten. Es muss in ihnen aussehen, wie in einer Apotheke. Schränke bis zur Decke voller Schubladen. Alles kleine Fächer, sortiert und beschriftet nach Alphabet. Und da muss die Welt dann reinpassen, auch ein Kind, dem sie soeben zum ersten Mal begegnet sind.
Dabei könnte man die Welt der Kinder doch wie eine Blumenwiese betrachten. Beim Laufen geniessen wir den Anblick einzelner Blüten, bewundern ihre Farbe oder Grösse, ganz egal, wie die Blume daneben aussieht. Man kann eine Aussage über die Blume machen, ohne sie in Konkurrenz zur anderen zu betrachten.
Ich weiss, vergleichen ist menschlich. Wir möchten einordnen und die Welt verstehen. Und trotzdem: Es nervt! Ich finde es als Mutter ermüdend, dass ich meine Kinder ständig für andere schubladisieren soll. Denn die Aussenstehenden möchten ja dann von mir eine Bestätigung für ihre Beobachtung haben. «Oder nicht?», fragen sie dann, um wenigstens zu erfahren, wie es sich wirklich verhält mit diesen Zwillingen. Wer jetzt wirklich der grössere, bessere, schlauere, frechere, stärkere oder was auch immer ist.
Und bei all den Eigenschaften und Rollen, die wir den Kindern andichten, fragen sich die Erwachsenen dann, warum sich die Kinder immer in einer Konkurrenz sehen. Natürlich sind Geschwister immer auch Konkurrenten. Das liegt wohl in der Natur der Sache. Sie buhlen um Aufmerksamkeit, Anerkennung und möchten sich messen. Doch ich bin überzeugt, dass wir Erwachsenen dieses Verhalten mit unseren ständigen Vergleichen verstärken.
Denn die Kinder hören, was wir über sie reden und wie wir über sie urteilen. Das fördert Eifersucht, Neid und Konkurrenzdenken unter Geschwistern. Und wer weiss? Vielleicht müssten viele Machtmenschen dieser Welt ihre Überlegenheit weniger demonstrieren, wenn man ihnen nicht als Kind immer gesagt hätte, dass sie schwächer, kleiner und erfolgloser sind als ihre Geschwister.
Kinder merken selbst, dass sie sich von anderen unterscheiden. Schliesslich sehen sie selbst, wie andere Kinder auf verschiedene Situationen reagieren. Dass andere keine Angst haben, forsch sind, oder still. Und auch wenn wir gerne Vergleiche anstellen, plädiere ich dafür, sich doch einfach mal zurückzuhalten und sein «Urteil» über die Kinder für sich zu behalten.
Ganz besonders dann, wenn man sie gar nicht kennt. Und wer etwas Nettes sagen möchte, könnte es ja positiv auf das einzelne Kind formulieren. «Ui, du flitzt ja mit deinem Laufrad schon richtig um die Kurve.» Und nicht: «Oh, er fährt aber schon viel schneller als seine Schwester.» So entsteht ein Kompliment an das eine Kind, welches das andere nicht abwertet.
Betrachtet doch jedes Kind wie die Blumen auf der Wiese und versucht, nicht immer gleich nach der Schublade zu suchen. Kinder sind Unikate, jedes ist anders, ein Individuum und alle sind gut, so wie sie sind.
Ines Rütten (36) ist freischaffende Journalistin und Texterin. Im Alltag mit ihren knapp vierjährigen Zwillingen ist sie zudem regelmässig als Zirkusdirektorin und Dompteurin im Einsatz.