Dafür & Dagegen
Vorlesen: wichtig oder überschätzt?
Von Redaktion
Vorlesen und Geschichten erzählen ist super und fördert die Fantasie, sagt Anita Zulauf. Ja, aber was, wenn man es nicht gerne tut, fragt sich Katja Fischer De Santi.
Dafür
Schon als Kind liebte ich Märchen und Abenteuergeschichten. Und genauso liebte ich es, sie meinen vier Kindern vorzulesen. Gespannt und zittrig schaudernd kuschelten sie sich ganz eng an mich. Während ich brüllte, wie Piraten brüllen, wenn sie mit blitzenden Goldzähnen und säbelschwingend das Prinzessinnenschiff entern, dunkel knurrte und sabberte, wie der Wolf es tut, wenn er dem Rotkäppchen durch das Unterholz nachschleicht, und irre kicherte wie die Hexe, wenn sie den Hänsel zum Braten mästen will. War dann die Hexe verbrannt, die Piraten versenkt und der Wolf erschossen, feierten wir das Happy End.
Irritiert war ich von Kind Nummer vier, welches in Tränen ausbrach, als dem Wolf der Bauch aufgeschnitten wurde. «Schatz, das muss sein, sonst verrotten das arme Rotkäppchen und die Grossmutter dort drin», sagte ich. «Das ist mir egal. Der arme Wolf!» Sie schlug sich immer auf die Seite der Bösewichte. Ich gewöhnte mich nie richtig daran. Aber alle Kinder liebten die Geschichten heiss. Ich plädiere nicht aus pädagogischen Gründen fürs Geschichtenerzählen. Mir ist ziemlich egal, ob meine Kinder dadurch schlauer geworden sind. Falls ja, super. Geschichten sind einfach unfassbar toll. Sie schaffen Abenteuer und Kino im Kopf, aufregendste Fantasien entstehen. Zudem sind diese Kuschelstunden schöne Inseln im stressigen Alltag. Oft bin ich in der Nacht in Kinderbetten aufgewacht, das Buch auf dem Gesicht, das Kind schlummernd im Arm. Bereut habe ich lediglich ab und an die verpassten, ruhigen Feierabende. Heute sind diese schönen Stunden längst Vergangenheit. Die Kinder sind Teenager und Erwachsene. Und nein, sie lesen keine Bücher. Alle vier. Hätte ich die frühkindliche Leseförderung im Fokus gehabt, müsste ich enttäuscht sein.
Anita Zulauf
Kann nicht verstehen, weshalb man Kinder vor «grausamen» Märchen schützen will. Grusel und Drama gehören für sie zu einem spannenden, fantasievollen Kinderleben.
Dagegen
Ich weiss es: Vorlesen bringts, Vorlesen ist wichtig. Kinder, denen vorgelesen wird, haben es im Leben einfach einfacher, das beweisen zig Studien. Die IQ-Punkte purzeln mit den liebevoll intonierten Worten der Eltern direkt in die kleinen Hirne. Jede Räuber-ZwackelzwickGeschichte ist ein Plus auf dem Bindungs- und Bildungskonto. Vorlesen ist unter bildungsbürgerlichen Familien so etwas wie der heilige Gral des Elternseins – pädagogisch wertvolle Schulterklopfer garantiert.
Ich habe es auch versucht, denn ich liebe Bücher, ich lese eigentlich dauernd und überall. Meine Kinder und ich besitzen zusammen mehr Bücher, als wir Gestelle dafür haben. Aber mit dem Vorlesen ist es so eine Sache: Kaum habe ich eine Seite geschafft, werde ich unfassbar müde. Die Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen, ich nicke weg. Der vermutete Grund: Ich lese (zu) schnell und ich mag Wiederholungen gar nicht. Ich kann ein Bilderbuch einmal vorlesen, zweimal geht auch noch. Doch dann ist fertig. Nichts macht mich abends um halb acht müder, als mit einem minderjährigen Sprachpolizisten («das steht da aber anders! Du hast einen Abschnitt ausgelassen!») neben mir Räuber Hotzenplotz vorzulesen. Mein Hirn geht sofort in den Ruhemodus. Da kuschle ich lieber einfach und wir reden über Gott und die Welt, aber bitte nicht über Räuber mit Rauschebärten.
Das Schöne an Büchern ist doch, dass man darin ganz allein versinken darf, in seinem Tempo die Geschichte vorantreiben oder zurückblättern kann. Nichts macht mich glücklicher, als mit meinen beiden Söhnen sonntags auf dem Sofa zu liegen, jeder in seinem Buch, Comic oder seiner Zeitung vertieft. Sie lieben es zu lesen und sie lesen kaum ein Buch zweimal.
Katja Fischer De Santi
Hat kürzlich Ottfried Preusslers «Krabat» gelesen und es danach dem Sohn diskret aufs Bett gelegt.