Grossfamilie / Porträt
Villa Kunterbunt
Von Sibilla Semadeni (Text), Mara Truog (Fotos)
«Wir haben Nerven aus Stahl.» Rolf Specht sitzt neben seiner Frau in der Küche und öffnet eine Haselnuss mit den Zähnen. Es knackt laut. Antonia, eine zierliche Person mit langen dunklen Haaren und blasser Haut, schmunzelt. «Und wir haben einfach sehr viel Energie.» Auf dem grossen Esstisch vor ihr dampft ein «kleiner, starker», es ist ihr siebter Kaffee heute. Neben, hinter und auf ihr turnen abwechselnd Hannah, Mimi oder die Zwillinge. Vier der neun Kinder, die sie geboren hat. Es ist Samstagmorgen. In Richterswil am rechten Zürichseeufer kreischen die Möwen vom See herauf und vor dem Fenster schleifen alte Frauen ihre Einkaufswagen übers Trottoir. Das Haus der Familie Specht ist gross und alt und steht mitten im Städtchen. Auf dem Parkplatz steht ein Kleinbus, daneben ein abgerockter Doppelkinderwagen. Und überall dazwischen Trottinetts, Fahrräder, Rollbretter, Rollschuhe, Einräder. Es ist nicht zu übersehen: In diesem Haus geht was. Hier wohnen: Vater Rolf (61), Mutter Antonia (43) mit ihren Söhnen Pablo (25), Ruben (16), Nathanael (14), den Zwillingen Ezra und Joshua (11) und den Töchtern Hannah (8), Michal alias Mimi (6) und den kleinen Zwillingen Lilith und Rinah (4). Auf fünf Buben folgten vier Mädchen. Eigentlich wollten sie nach dem fünften gemeinsamen Kind aufhören. Aber schon ein paar Minuten nach Hannahs Geburt, es dampfte noch im Kreisssaal, sagte Rolf: «Dieses Mädchen können wir nicht alleine lassen.» Und so kam es – zu einer ganzen Horde Spechtkinder.
In 13 Zimmern auf 4 Stockwerken wildwuchert der Kosmos Specht. Still ist es hier nie. Es wuselt und rumort und irgendwo läuft meist das Radio. Antonia führt durchs Haus. Anarchische Kindertrakts wechseln sich ab mit wohldurchdachten Nischen. Im Wohnzimmer hängt ausgewählte Kunst und Hund Astor döst unter dem Flügel, in der Ecke ein Cheminée. Im ersten Stock überfliessen Spielsachen knöcheltief den Fussboden. Die Carrerabahn verschwindet unter einem Kleiderhaufen und Liliths Puppenspital liegt quer über Hannahs Zauberwald. Auf dem Klo neben dem Kinder-Pissoir («Ich habe es nicht mehr ausgehalten, diese ewige WC-Putzerei») steht ein riesiges Playmobil- Piratenschiff. Auf dem Lavabo ein dicker Strauss Zahnbürsten. Nathanael teilt sein Zimmer mit Hannah. Er will endlich ein eigenes haben. Mimi, Ruben und Pablo haben eines, ein eigenes. Die kleinen Zwillinge schlafen bei den Grossen im Bett. Lilith bei Joshua, Rinah bei Ezra. («Sie sollen soviel Nähe kriegen, wie sie brauchen.») Im Elternschlafzimmer ganz oben unterm Dach ist es ruhig und frisch wie in einer Klosterzelle. Ein paar chaosfreie Quadratmeter.
Der Kosmos Specht
«Als wir das Haus kauften, sagten wir uns: Das füllen wir jetzt.» Wenn Antonia redet – und sie redet viel –, dann sprühen die Funken. Dann fetzen die Sätze. «Die Kinder gehen ins Bett, wenn sie müde sind.» Oder: «Frühförderung ist unnötig. Kinder sollen einfach aufwachsen, das Leben selbst fordert genug.» Sätze, die sitzen. Aber auch wenn sie von schweren Zeiten erzählt, bleibt ihre Stimme stark und klar. «Ich wollte schon immer viele Kinder und ahnte nicht, dass der Weg dorthin nicht einfach werden würde.»
Die Beziehung: ein Skandal
In der Küche macht Hannah Hausaufgaben. Sie hat die zweite Klasse übersprungen. Seit sie im Kindergarten ist, liest sie Bücher. Auch Mimi liest. Sie hat es von Hannah gelernt. Antonia macht wieder Kaffee. «Wir gehen davon aus, dass der Tag 17 Stunden hat, und in diese Zeit geht viel rein.» Rinah schreit. Mimi hat sie geboxt. Lilith klettert über Hannah, will zeichnen. Jetzt wütet Mimi, Rinah hat sie gebissen. Die Eltern Specht schauen ruhig. «Meine Frau ist eine Stoikerin», sagt Rolf und stopft sich eine Pfeife. Er trägt ein Gilet über dem weissen Hemd und ist sichtlich stolz auf seine Sippe. Sie hält ihn jung.
Rolf Specht ist fast 20 Jahre älter als Antonia. Sie kennen sich von der Kantonsschule. Antonia war 19 und alleinerziehende Mutter eines Sohnes. Rolf war 40, geschieden und Antonias Lehrer. Natürlich war ihre Beziehung ein Skandal, doch die beiden trotzten allen Zweiflern und Argwöhnern. Nach der Matura kauften sie das Haus mit den 13 Zimmern, Antonia begann ein Studium und Rolf machte sich selbstständig als Unternehmensberater. Alles lief gut, nur: Das Haus blieb leer. Antonia lebte gesund und immer gesünder, machte schwangerschaftsfördernde Homöopathiekuren und Akupunkturtherapien und verkrampfte sich zunehmend. Dann kam die Wende. Ein Arzt sprach Klartext: Herr Specht, sagte der Urologe, sie sind jetzt 44, es kann sein, dass sie irgendwann Vater werden, aber die Chancen stehen nicht gut. Und dann nuschelte er etwas von medizinischen Eingriffen. Zwei Monate später fuhren sie nach Bregenz in die Klinik von Doktor Zech.
Rolf arbeitet viel im Ausland. Bonn, Berlin, Bochum, Wien. Er berät, er coacht und verdient gutes Geld. Antonia managt den Rest. Die Tage sind lang, und es gibt viel zu tun. Die klassische Rollenverteilung stimmt für beide. Zwischen vier und fünf Uhr in der Früh steigen sie in den Tag. Rolf fährt zum Flughafen oder verschwindet in sein Büro im Nebenhaus. Antonia trinkt viel Kaffee, füllt die erste der vier täglichen Waschtrommeln, bügelt und geniesst die Ruhe. Der frühe Morgen, das ist ihre Zeit. Wenn andere Mütter von ihrem Waschtag erzählen, schweigt sie. Für sie ist jeder Tag ein Waschtag. Und jeder Tag ein Einkaufstag. Und jeder Tag ist Putztag.
Später weckt Antonia die Kinder, legt Kleider bereit, streicht Znünibrote, koordiniert Termine und lässt den Hund raus. Eine Agenda führt sie keine. Den Alltag abhaken, nein, das will sie nicht. Die meisten Termine der Kinder hat sie im Kopf. Und die Stundenpläne irgendwann auch. «Aber immer, wenn ich sie auswendig kenne, wechseln sie wieder.» Antonia lacht. Das sind die kleinen Absurditäten ihres Vielkinderalltags. Sie schmeisst das Familienunternehmen und lässt sich nicht gerne reinfunken. Die Spitex hat sie wieder fortgeschickt und das Au-pair- Mädchen war ein zusätzliches Kind. Antonia will es alleine machen. Rückenmassage braucht sie keine.
Strategische Tisch-Ordnung
Die Eckbank füllt sich. Antonia platziert die einen oder anderen Streithähne strategisch. Teller werden geschoben, Gabeln trommeln auf den Tisch. Die Mädchenstimmen überschlagen sich, die Buben trompeten wie eine Horde junger Elefanten. Nathanael nimmt Ezra in den Schwitzkasten. Pablo schöpft Pasta, mahnt die Brüder und schneidet Liliths Fleisch. Ezra möchte ins Fussballlager nach Italien, Pablo erwähnt, dass er sich ein zweites Tattoo stechen lassen will und plötzlich reden alle über Kim Jong-un, den Führer von Nordkorea. Nein, das ist nicht der von «Gangnam Style», erklärt Antonia und steckt Mimi eine Gabel Pasta in den Mund. Es strotzt nur so von Bubenkraft und Mädchencharme in dieser Runde.
«40 Prozent der Wachzeit verbringen Geschwisterkinder mit Streiten.» Antonia hat es gelesen und sagt es, als würde es sie beruhigen. Bei ihnen streitet immer irgendjemand. «Beim Streiten kann man sehr viel lernen», übernimmt jetzt Rolf. Wenn er Unternehmen berät, staunt er, wie schlecht die Menschen streiten können. «Meine Kinder können das oftmals viel besser als meine Kunden.» Darum lassen sie die Kinder ihre Kämpfe austragen. Sie wollen kompetente Kinder, die sich durchsetzen können. Und ja, die Eltern streiten auch. Grund zum Streiten gibts genug. Nur häufig fehlt die Zeit; Antonia und Rolf sind dauereingespannt. Ausser freitagabends. Da gehen sie aus. Für die Kinder heisst es dann Fertigpizza und Film. Die Grossen schauen auf ihre kleinen Geschwister, und die vielen Kinder werden zum Selbstläufer. Das gibt den Eltern Luft als Paar.
Antonia stellt einen Teller Kekse auf den Tisch. Ein Schwarm Kinderhände stürzt sich darauf, wie die Möwen auf ein Stück Brot. Mimi weint. Rolf seufzt. Antonia putzt die Krümel weg.
Als Grenzgänger zur Familie
Intrazytoplasmatische Spermieninjektion. ICSI. Doktor Zech aus Bregenz gehört zu den Pionieren der Fortpflanzungsmedizin. Seit über 30 Jahren behandelt er kinderlose Paare. In seinem kleinen Imperium der Reproduktionsmedizin bietet er alles an, was medizinisch möglich und gesetzlich erlaubt ist. Viele Schweizer Paare lassen sich in Bregenz behandeln, weil dort aussichtsreichere Prozedere angeboten werden. Die Spechts sind eines davon. Vor fast 20 Jahren sind sie zum ersten Mal hingefahren.
Bei ihrem ersten Kind lief alles noch sehr zäh. Erst beim fünften Versuch klappte es endlich, Antonia wurde schwanger, der Bann war gebrochen. Ruben ist heute 16. «Und von da an ging es einfach.» Jetzt fallen sich die beiden ICSI-Erfahrenen ins Wort. «Jetzt erst recht, sagten wir uns.» «Wir wussten, dass wir nicht einfach zuwarten können, und wir wollten unsere Kinder zusammen aufwachsen lassen.» «Wir machten kein Tamtam. Wir fuhren einfach hin, und es klappte oder klappte nicht.»
Rinah ist müde. Sie legt sich ins Kinder-Schlafkörbchen. Von draussen dringt fröhliches Geschrei in die Küche. Kinder toben auf dem Trampolin. Es überspannt eine ganze Ecke des Gartens, ein Netz gibt es nicht. «Wir wollten ein Trampolin, keine Bäbistube.» Antonia hat Spass an ihrem entspannten Erziehungsstil. Und sie hat die Werkzeuge dafür drauf: Sie kann gleichzeitig zupacken und loslassen. «Ich könnte meine ganze Energie dafür aufwenden, aufzupassen, dass den Kindern nichts geschieht, aber die schlimmsten Dinge passieren sowieso dann, wenn man denkt, man hat es im Griff.»
Antonia ist unermüdlich. Sie redet und streichelt und lacht und mahnt und entscheidet im selben Atemzug und zwischendurch schält sie Äpfel und schickt Nathanael zum Brotkaufen fürs Abendessen. Für eine Mutter einer Kleinfamilie, die zwei nölende Kleinkinder beim Einkaufen an den Rand einer Nervenkrise bringen, wirkt der Besuch bei den Spechts wie eine Kur. Eine Läuterung gewissermassen.
Es liegt viel drin
Nein, die Spechts sind keine Durchschnittsfamilie. In verschiedener Hinsicht. Von Armutsrisiko bei Mehrkindfamilien ist in diesem Haus nichts zu spüren. Das Budget scheint nach oben offen. «Andere reisen zum Mond oder zehn Mal um die Welt, wir investieren das Geld in die Kinder. Wir geben es mit ihnen aus.» Und es liegt viel drin bei den Spechts. Essen im Restaurant, gute Kleider, Zoo- und Museumsbesuche, Bücher, und Ferien. Jeden Herbst fahren sie, ihren Kleinbus vollgepackt, in die Toscana, und auch der Besuch einer Grossstadt schreckt sie nicht. Natürlich, räumt Antonia ein, gleicht eine Flugreise nach London mit neun Kindern einem Ritt auf einem wilden Araberhengst. Aber «es nicht zu tun, ist für uns auch keine Option.»
Die Frage nach dem Warum («Warum habt ihr bloss so viele Kinder?») quittieren die Spechteltern mit einem knappen: «Wir haben Kinder einfach gern». Und einem: «Vor 100 Jahren waren Vielkindfamilien noch eine Selbstverständlichkeit.» Und auch auf die Frage nach den hohen Kosten für die medizinischen Behandlungen antworten sie prompt: «Kinder kosten im Laufe der Jahre ein Vielfaches davon. Dagegen ist diese Investition eine kleine.»
Antonia und Rolf sind pragmatisch und machen keinen Hehl aus ihrer Geschichte. Von den moralischen Tabus, die die Reproduktionsmedizin umwabern, lassen sie sich nicht verunsichern. Den Kindern erzählen sie offen von Bregenz und Doktor Zech. «Aber wir betonen nicht das Spezielle daran. Es soll eine Normalität haben.»
Jetzt steht Antonia mit einem Ruck auf. Drei Stunden sitzen und reden, das gibt es für sie nie. Eine Frage noch: Kann eine Vollblutmutter wie sie überhaupt ohne Kinder sein? Was passiert, wenn der Nachwuchs ausfliegt? «Dann kommen vielleicht schon die ersten Enkelkinder», pariert sie mit keckem Flackern in den Augen und streckt sich. Und Rolf schiebt gelassen und gewandt das Schlusswort nach: «Wer redet hier von Enkeln? Antonia ist schliesslich erst 43. Und ich 61. Wenn unser 10. Kind die Matura macht, bin ich erst 80.»