Die Hand geben: Ein Kind muss sich auf seine Bezugspersonen verlassen können.
Kinder lernen durch Erfahrung. Dabei spielen die «drei V’s» eine wichtige Rolle, sagt die Psychologin Heidi Simoni. Ein Interview.
wir eltern: Frau Simoni, es heisst, die Bezugspersonen eines Kindes müssten vertraut, verlässlich und verfügbar sein. Wie wichtig ist aber der Faktor Zeit etwa bei der Verfügbarkeit?
Heidi Simoni: Je kleiner ein Kind ist, desto mehr zählt die unmittelbare Erfahrung. Es lernt durch Erfahrungen und Wiederholungen, durch das, was ihm vertraut werden kann. Insofern spielt Zeit eine wichtige Rolle, und sie lässt sich auch nicht kompensieren durch etwas «einmalig Tolles». Verfügbarkeit heisst nicht, 24 Stunden an sieben Tagen pro Woche da sein zu müssen. Aber ein Kind muss sich ein Bild davon machen können, wer diese Person ist, die es zum Beispiel beim Einschlafen unterstützt, und sie auch in andern Situationen erleben.
Bindet sich das Kind hauptsächlich an die Mutter?
Früher ging man tatsächlich davon aus, dass das Kind nur eine Bindungsperson hat, die Mutter. Inzwischen wurde diese Annahme widerlegt. Auf den Schoss flüchten, sich ausheulen oder erholen, das kann ein Kind bei verschiedenen Personen, insbesondere auch beim Vater. Schon im ersten Lebensjahr sind Kinder imstande, zu Mutter und Vater unterschiedliche Bindungen aufzubauen. Es kann auch verschiedene Phasen geben: Eine Zeitlang genügt vielleicht nur die Mutter, um Trost zu spenden, dann ist wieder nur der Vater der einzig Richtige.
Immer mehr Eltern nehmen familienergänzende Betreuung in Anspruch. Was braucht es, damit dadurch die Bindungsbereitschaft eines Kindes nicht gestört wird?
Wie gesagt: Ein Kind kann zu mehreren Personen eine Bindung aufbauen, die ihm Sicherheit geben. Ob Krippenbetreuerin, Grossvater, Tagesmutter: Wichtig ist, dass das Kind mit dieser Person vertraut werden kann. Es muss spüren, was anders ist als bei den Eltern, und wie es sich damit arrangieren kann. Deshalb ist zum Beispiel in der Krippe eine sorgfältige Eingewöhnungszeit von grosser Bedeutung. Wenn die stattfindet und eine gewisse Konstanz gewährleistet ist, kann man davon ausgehen, dass ein Kind profitiert.
Welchen Stellenwert hat Bindung innerhalb der Entwicklung?
Der Haupteffekt einer guten, sicheren Bindung ist der, dass das Kind genügend Sicherheit erfährt, um sich mit seinem Hauptinteresse zu beschäftigen, nämlich die Welt zu erkunden, zu spielen, gehen zu lernen, mit Frust umzugehen usw. Wenn diese Grundsicherheit – früher sagte man Urvertrauen – beeinträchtigt ist, hat es weniger Energie, sich diesen spannenden Herausforderungen zu stellen.
Gibt es für eine sichere Mutter-Kind beziehungsweise Vater-Kind-Bindung ein Zeitfenster, das Eltern keinesfalls verpassen dürfen?
Tragfähige Bindungen aufzubauen ist auch später noch möglich. Aber: Was das Kind in den ersten Lebensjahren erlebt, ist prägend für bestimmte Beziehungserwartungen, die es für den Rest seines Lebens mitträgt. Im Hirn werden Muster und Bahnen gelegt, die zwar modifiziert, jedoch nicht mehr ausradiert werden. Zum Beispiel die Erfahrung von Fremdem: Lernt ein Kind, Unbekanntes als etwas Interessantes und Bereicherndes wahrzunehmen, weil die vertrauten Menschen es darin unterstützen, vorsichtig und neugierig zugleich zu sein? Und dabei mit verschiedenen Gefühlen umzugehen? Oder erlebt es nur das Bedrohliche daran, weil es überfordert ist und niemand es tröstet? Das sind Muster, die später immer wieder geweckt werden. Denn diese Erfahrung hat sich eingeschrieben und lässt sich kaum mehr rational auflösen.
Lassen sich frühkindliche Bindungsdefizite oder gar -störungen später wieder ausgleichen?
Eine Zeitlang hat man vielleicht zu stark betont, es sei alles verloren, wenn die Bindung nicht in den ersten zwei Jahren aufgebaut werde. Das wurde inzwischen relativiert. Handkehrum darf man nicht sagen, es spiele keine Rolle, was in den ersten beiden Jahren passiere. Man weiss von Pflegeeltern und -kindern, dass das Fehlen von «Drei-V-Personen» den Aufbau einer gemeinsamen Basis extrem schwierig macht. Häufig sind diese Kinder in ihrem Beziehungsverhalten unberechenbar. Sie können sich sehr nah auf jemanden einlassen, aber das kann wie auf Sand gebaut und am nächsten Tag wieder weg sein. Die frühe Bindungserfahrung ist aber nichts absolut Schicksalhaftes. Sicher gebundene Kinder sind später vor Schwierigkeiten nicht unbedingt gefeit, und unsicher gebundene Kinder müssen nicht zwangsläufig Probleme bekommen.
Zur Person
Heidi Simoni ist Psychologin und designierte Leiterin des Marie Meierhofer-Instituts Zürich.