Erziehung
Wie funktioniert «Unerzogen»?
Von Veronica Bonilla Gurzeler
Ist Erziehung Manipulation? Ja, sagt die Soziologin Ruth Abraham und erklärt, wieso sie ihre drei Kinder unerzogen lässt.
Ruth Abraham, Bloggerin, Soziologin, Kulturwissenschaftlerin, Unternehmerin, ist in Deutschland aufgewachsen und lebt mit ihrer Familie in Portugal. Ihr Mann ist ebenfalls selbstständig und die gemeinsamen Kinder (9, 7, 4 Jahre) wachsen ohne Erziehung und ohne Schule auf. Die Spirale der Gewalt in der Erziehung zu unterbrechen, ist für Ruth Abraham die grosse Aufgabe unserer Zeit und gleichzeitig der Schlüssel zur Lösung der Probleme auf unserer Welt. Ihr Wissen und ihre Erfahrungen gibt sie in Eltern-Coachings, an Vorträgen und Seminaren weiter. ➺ derkompass.org
«wir eltern»: Die Mehrheit der Bevölkerung findet Erziehung in Ordnung und notwendig. Was ist falsch an Erziehung?
Ruth Abraham: Erziehung bedeutet, dass ich einen jungen Menschen verändern soll und darf. Dass es nötig ist, ihn zu etwas zu machen. Dahinter steckt ein Manipulationsgedanke. Manche würden das vehement verneinen, implizit ist es aber überall spürbar, in allen Institutionen, die sich um Kinder kümmern. Das ist deswegen problematisch, weil wir heute einen philosophischen und psychologischen Einblick haben in den Umgang mit jungen Menschen, der zeigt, dass Erziehung nicht nur nicht zielführend, sondern sogar schädlich ist.
Bereits in der Antipädagogik der 1970er-Jahre ging es darum, Kinder durch Erziehung nicht zu entmündigen und zu manipulieren. Ist «unerzogen» alter Wein in neuen Schläuchen?
Ein Stück weit ja. Die Antipädagogik war eine Reaktion auf die Erschütterungen durch die Weltkriege im vergangenen
Jahrhundert, man fragte sich: Wie entsteht eigentlich Gewalt? Wie kann man verhindern, dass noch einmal passiert, was damals passiert ist? Man erkannte, dass wir Kinder nicht schlagen oder diskriminieren dürfen, dass Kinder Rechte haben. «Unerzogen» ist eine Weiterentwicklung der Antipädagogik. Heute fragen wir uns: Wie wollen wir miteinander umgehen und was ist eigentlich Gewalt? Ich bin der Ansicht, dass es sich um Gewalt handelt, wenn wir andere Menschen verändern wollen.
Können Sie das erklären?
In dem Moment, wo ich eine Idee vom Kind oder von einer anderen Person habe und sie auf irgendeine Art anders machen will, hat diese Person keine Subjektqualität mehr. Sie ist ein Objekt. Ich will die Person von A nach B bringen, unabhängig davon, was sie fühlt, was sie braucht. Sie verliert ihre menschlichen Qualitäten.
Gewalt scheint in diesem Zusammenhang ein starkes Wort zu sein.
Heute machen wir etwas, was mein Sohn «leise gemein» nennen würde. Weder schlagen wir Kinder noch sperren wir sie ein – zumindest in den Institutionen. Zuhause macht es ein Grossteil weiterhin. In der modernen Schule und Elternschaft geht es grundsätzlich darum, nett zu sein zum Kind. Trotzdem werden von ihm Dinge verlangt, zu denen es noch nicht parat ist. Zum Beispiel Bitte und Danke sagen, sich höflich zu verhalten. Gehorcht es nicht, wird insistiert oder man gibt ihm nicht, wonach es verlangt.
Ist es nicht Aufgabe der Eltern, dem Kind beizubringen, Bitte und Danke zu sagen?
Wenn ich glaube, dass ich einem Kind beibringen muss, sich sozial zu verhalten, habe ich die Sozialwissenschaften der letzten hundert Jahre verschlafen, denn Menschen sind von Natur aus soziale Wesen. Zudem unterstelle ich dem jungen Menschen, dass er es nicht machen könnte, würde ich ihn nicht dazu zwingen. Das ist schlicht falsch.
Wenn Ihre Kinder nicht Bitte oder Danke sagen, reagieren Sie nicht?
Genau. Die Frage lautet, ist mir Gehorsam wichtiger als die Integrität meines Kindes? Wenn ja, muss mir Folgendes klar sein: Zwinge ich das Kind, Danke zu sagen, ist es nicht dankbar, sondern es gehorcht. Dankbarkeit kann ich nicht erzeugen, sie ist ein Gefühl. Weil das Kind existenziell abhängig ist von mir, kann ich es zwingen – von nett bis brutal. Doch ist es mir das wert? Ich für mich sage: Nein, natürlich nicht! Das will ich mir aufheben für Situationen, in denen es um Leben und Tod geht. Oder wenn ich wirklich nicht mehr kann. – Damit wir uns richtig verstehen: Ich finde es völlig in Ordnung, Bitte oder Danke zu sagen, wenn ich es wirklich meine.
Die Oma könnte enttäuscht sein, wenn sie fürs Geburtstagsgeschenk vom Enkel kein Dankeschön bekommt.
Das ist schade für die Oma, aber dafür bin ich nicht verantwortlich. Mein Kind zum Gehorsam zu zwingen, gefährdet nicht nur meine Beziehung zum Kind – und die ist deutlich wichtiger als die zur Oma, weil ich die primäre Bezugsperson meines Kindes bin und es fürs Leben präge – es gefährdet auch die psychische Gesundheit meines Kindes. Natürlich kann ich mit der Oma ins Gespräch kommen, ihr meine Haltung erklären, empathisch sein und selber Danke sagen fürs Geschenk.
Was, wenn die Oma androht, dass sie nichts mehr schenkt, wenn das Danke ausbleibt?
Ich kann nicht bestimmen, wer gemein ist zu meinem Kind. Mein Job ist zu erkennen, wann mein Kind Hilfe braucht und ich kann es fragen, wie es ihm gerade geht.
Was hat Sie dazu bewogen, überhaupt nicht mehr zu erziehen?
Begonnen hat alles mit meinem ältesten Sohn. Er war drei, als er in die Kita kam und es ging ihm dort nicht gut. Er litt und wollte nicht mehr hingehen. Mit der Kita war aber alles in Ordnung. Ich habe ein paar Wochen gebraucht, um zu verstehen, dass ich die Gefühle meines Kindes völlig ausgeblendet hatte – «mein Gott, da muss man halt durch» waren meine Gedanken. Bis ich merkte, dass wir in einer Welt leben, in der die Wahrnehmung der Kinder nicht relevant ist! Ich realisierte, wenn ich meine Kinder ernst nehmen will, muss ich mein Leben ein Stück weit verändern.
Was ist dann passiert?
Ich habe angefangen, mich selbst ernst zu nehmen und stellte fest, dass ich komplett hilflos bin. Und deswegen erziehe, manipuliere, erpresse. Es war ein wichtiger Schritt, den Schmerz anzuerkennen, dass wir mit unseren Kindern Sachen machen, von denen wir annehmen, dass sie nötig sind, was aber gar nicht stimmt.
Wenn ich bis jetzt meine Kinder erzogen habe und aufhören will damit, wie beginne ich?
Langsam. Ganz langsam. Es gibt Leute, die schmeissen alles hin und sagen: «Ab heute gibts hier keine Regeln mehr!» Das ist eine schlechte Idee. Denn du musst es schaffen, hinter deine hartnäckigen und schmerzhaften Glaubenssätze zu blicken. Schau also, wo du gut loslassen kannst. Ist es nötig, im Eiltempo zum Einkaufen zu gehen oder darf das Kind auf dem Weg dahin jeden Stein umdrehen? Schaffe eine Umgebung, in der sich das Kind frei bewegen kann, ohne dass du die ganze Zeit «Nein!» und «Lass das!» sagen musst. Das Schwierige kannst du dir für später aufheben.
Wo wird es erfahrungsgemäss besonders schwierig?
Bei Medien und Süssigkeiten. Hier müssen wir sehr ehrlich sein. Wenn ich glaube, dass Zucker reines Gift ist und Medienkonsum viereckige Augen macht, darf ich dem Kind nicht freie Hand lassen. Kinder spüren, wenn wir manipulativ sind, dann verlieren sie die innere Freiheit und verhalten sich oft gegenteilig. Wenn ich wirklich loslasse, erziele ich paradoxerweise meistens das Ergebnis, das ich haben wollte.
Bei Ihnen gibt es keine Regeln für Süssigkeiten- oder Bildschirmkonsum?
Nein, wir essen dreimal täglich zusammen eine Mahlzeit und Medien werden unterschiedlich eingesetzt. Zum Spielen, Recherchieren, Serien gucken. Manchmal mehr, manchmal weniger. Hochproblematisch finde ich diese Doppelmoral, die vielerorts herrscht: Die Eltern hängen ständig selber vor dem Bildschirm und essen Zucker, sobald die Kinder schlafen. Von den Kindern erwarten sie jedoch, dass sie die besseren Menschen werden.
Hat Erziehung nicht auch gute Seiten? Beispielsweise wenn ich meinem Kind beibringe, im Zug nicht mit den Schuhen auf den Sitz zu steigen?
Ich höre in dieser Frage vor allem das Misstrauen gegenüber den sozialen Fähigkeiten der Kinder. Kinder sind nicht doof! Sie sind hochsoziale Wesen und kooperieren die ganze Zeit mit ihrem Umfeld. Es ist trotzdem ein gutes Beispiel, denn nicht erziehen bedeutet natürlich nicht, dass sich mein Kind anderen gegenüber saumässig verhalten kann, während ich lächelnd dasitze und mich freue, wie selbstbestimmt es ist. Natürlich bitte ich meine Kinder, ihre Schuhe nicht auf den Sitz zu tun, damit der nächste, der sich hier hinsetzt, keinen Dreck am Hintern hat. Weil meine Kinder das verstehen und mir vertrauen, verhalten sie sich entsprechend.
Nun sind aber nicht alle Kinder immer so kooperativ.
Kommt das Kind gerade aus dem Kindergarten und damit aus der Fremdbestimmung, sagt es vielleicht gerade prinzipiell Nein. Nicht weil es blöd ist, sondern weil es für sich sorgt. Ich kann überlegen, welche Alternativen ich habe: Können wir woanders hingehen? Ein Spiel daraus machen? Es gibt tausend Lösungen. Ich kann ihm auch soldatenmässig die Füsse runternehmen, doch dann habe ich ihm nicht beigebracht, rücksichtsvoll zu sein, sondern zu gehorchen.
Was tun, wenn der Partner das Kind weiterhin erziehen will und ich nicht?
Dann habe ich ein Beziehungsthema und muss auf die Beziehung schauen. Den Partner dazu zu bringen, es wie ich zu machen, ist übergriffig und schadet der Beziehung. Ich würde ihn in Ruhe lassen, selber tun, was mir wichtig ist und schauen, was er oder sie dazu sagt.