Interview zum Thema «Schreibaby»
«Überforderung ist ein Tabu»
Wie lautet Ihr wichtigster Rat für die Eltern eines Schreibabys?
In erster Linie müssen die Eltern formulieren, wo ihre Bedürfnisse liegen. Danach sollten sie einen Plan erstellen, wer wann für das Baby zuständig ist. Es müssen feste Essund Erholungszeiten für die Mutter festgelegt werden, dazu ist manchmal auch Hilfe von aussen nötig. Rhythmus und Plan sind Zauberworte, um sich aus der Spirale von Müdigkeit und Erschöpfung zu befreien.
Die Dunkelziffer von Eltern, die ihre Schreibabys aus Überforderung misshandeln, ist gross. Was hindert Eltern daran, rechtzeitig Hilfe anzunehmen?
Das Gefühl der Überforderung wird in unserer Gesellschaft noch immer tabuisiert und ist deshalb schwer einzugestehen. Man hat ja oft das Baby so sehr gewollt und gerät in grosse Selbstzweifel, wenn man mit ihm nicht klarkommt. Grobes Behandeln bis hin zum Misshandeln eines Babys steht oft in Zusammenhang mit diesen grossen Erschütterungen des eigenen Selbstwertgefühls.
In der mehrtägigen, stationären Behandlung des TIKSS-Programms sind Babys oft massiv zufriedener als zu Hause. Was den Selbstwertzweifel von Eltern verstärkt …
Wir haben die Möglichkeit, viel Zeit mit Mutter und Kind zu verbringen und sie im Umgang miteinander anzuleiten. Ein Schreibaby muss seine Mutter wieder als beruhigende und rhythmisierende Bezugsperson erleben. Wir betreuen die Familie interdisziplinär und beginnen dabei eine physiotherapeutische oder sychotherapeutische Therapie, welche wir auch ambulant weiterführen. Ausserdem bekommen die Eltern eine Bezugsperson, mit der die auch nach der Entlassung in Kontakt stehen. In diesem Arbeitsbündnis kann das von Ihnen genannte Versager-Gefühl aufgefangen und korrigiert werden.
Warum hat die psychologische Behandlung einen festen Platz im Programm?
Alle Eltern stellen sich Fragen, wie es zum Schreien kommt und warum sie damit nicht umgehen können. Viele Fragen zu Schwangerschaft und Geburt sind offen. Die eigene Kindheit, das eigene Erleben wird einem wieder bewusst. Dazu kommt, dass die Zeit nach der Geburt ohnehin eine vulnerable Phase ist. Die bewusste Verarbeitung aber ist häufig die Grundlage für einen ruhigeren Zugang zum schreienden Baby.
Wie oft hat das Schreien anatomische Gründe?
Tatsächlich sind viele der Schreikinder verspannt und schmerzbereit. Dies zeigt sich in ihrem erhöhten Körpertonus und häufigem Fäusteln. Oder in dem bekannten Aufstossen, welches sich zu einer Refluxkrankheit entwickeln kann. Viele Kinder haben auch Koliken, im Sinne einer verstärkten Darmbeweglichkeit. Viel seltener ist eine anatomische Störung, wie zum Beispiel ein KISS-Syndrom (eine Art Gelenkverklemmung der Wirbelsäule) oder eine Nahrungsmittelunverträglichkeit.
Werden heute weinende Babys nicht relativ schnell in den Topf «Schreibaby» geschmissen?
Die praktische Definition eines Schreibabys ist aus unserer Sicht sehr einfach: Jedes Kind gehört dazu, das für seine Eltern mit oder ohne Beruhigungsmassnahmen unerträglich viel schreit. Die Schreidauer ist dabei sekundär und individuell.
Sind Schreibabys eine Neuzeitentwicklung?
Wir leben in einem Zeitalter des Machbarkeitswahns. Alles muss rasch gemanagt werden können. Wir fordern von uns in vielen Bereichen rasches Funktionieren. Viele Babys müssen rascher in Kleinfamilien Anpassungsleistungen erbringen, weil die Eltern schnell wieder als Berufsleute funktionieren müssen. Ein nicht pflegeleichtes Baby mit einer eventuellen besonderen Empfindlichkeit bringt Eltern in grossen Stress. Die heutige Gesellschaftsform mit Kleinfamilie und arbeitenden Grosseltern oder anderen Bezugspersonen ist sicher ein wichtiger Grund, dass das Phänomen der Schreikinder vermehrt wahrgenommen wird.
Viele Schreibabys sind später überdurchschnittlich zufriedene und glückliche (Klein)kinder. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?
Es ist entscheidend, wie die Eltern mit einem Schreibaby umgehen können. Wenn sie sich nicht erschöpfen und genügend Ressourcen haben, um die eigenen Gefühle richtig einzuordnen und bewusst zu verarbeiten, dann entsteht eine gute Bindung mit dem Kind. Eine gute Entwicklungsvoraussetzung. Wenn dies aber nicht geschieht, kann längerfristig die Bindungsfähigkeit gefährdet werden.
Zur Person
Dr. med. Raffael Guggenheim, Oberarzt Ärztlicher Leiter TIKSS
[mehr Infos zum TIKSS-Programm] (https://www.stadt-zuerich.ch/content/triemli/de/index/klinikeninstitute/kinderjugendliche/tikss_programm.html/"mehr Infos zum TIKSS-Programm")