Sprachförderung
So lernen Babys sprechen
Der Mensch ist ein kleines Wunderwerk. Bezogen auf den Spracherwerb sogar in besonderem Masse. Da erblickt ein kleiner Erdenbürger das Licht der Welt und lernt – sofern keine hindernden Bedingungen vorliegen – scheinbar ohne Mühe und Anstrengung, Sprache zu verstehen und wiederzugeben. Nicht nur, dass eine Unmenge an Vokabular aufgebaut werden muss, ebenfalls ist es vonnöten, Wörter zu Sätzen zu verbinden und Bedeutung und Emotionen damit zu verknüpfen.
«Die Anlagen zur Sprachentwicklung bringt das Kind vom ersten Moment an mit auf die Welt», erklärt Christina Arn, Dozentin an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH) in Zürich. Bereits vorgeburtlich passiere beim Kind viel Erstaunliches, das ihm den Erwerb von Sprache ermöglicht, fügt die Fachfrau für Linguistik, Spracherwerb und Psycholinguistik hinzu. Körper und Geist des Kindes sind also ab Stunde null bereit zur Kommunikation und perfekt auf diese ausgerichtet. Die im Uterus ausgebildete Hörund Sehfähigkeit sowie die Atem- und Sprechwerkzeuge der Babys warten nur darauf, in Interaktion mit der Umwelt zu treten. Das Neugeborene ist durch die vorgeburtliche Prägung sogar dazu in der Lage, die Muttersprache von anderen zu unterscheiden. Auch erkennt schon ein wenige Tage altes Kind den Unterschied zwischen Geräuschen und der menschlichen Sprache. «In den ersten Tagen und Wochen laufen im Säugling bereits sehr wichtige Mechanismen ab, die ihn dazu befähigen, sich sprachlich optimal zu entwickeln», sagt Christina Arn. Wichtig sei deshalb, dass gleich nach der Geburt das Seh- und Hörvermögen des Kindes von einer Fachperson getestet werde, was hierzulande glücklicherweise seit vielen Jahren Standard sei. «Hat ein Kind in diesen Bereichen eine Behinderung, die zu spät bemerkt wird, kann das die Spracherwerbsfähigkeit erheblich beeinträchtigen.»
Woher nicht organisch bedingte Sprachentwicklungsstörungen kommen, wisse man nicht genau, erläutert Edith Volmer, Logopädin und Vize-Präsidentin des Deutschschweizer Logopädinnen- und Logopädenverbands (DLV), allerdings gebe es familiäre Häufungen. Liegt die Schuld also bei den Eltern? «Auf keinen Fall», stellt Volmer klar. «Wir suchen nicht primär Ursachen, sondern nach Wegen für eine erfolgreiche Kommunikation für das Kind.» Auch müsse dringend von der Idee Abstand genommen werden, dass Schwierigkeiten mit der Sprache etwas über die Intelligenz des Kindes aussagen: Es könne zwar Zusammenhänge geben, wenn beispielsweise Hirnverletzungen vorliegen. In der Regel habe das eine mit dem anderen aber nichts zu tun. Auch unter sehr intelligenten Menschen gibt es sogenannte Legastheniker*innen, also Menschen, die schulisch im Allgemeinen sehr erfolgreich sind, aber mit dem Lesen und Schreiben zu kämpfen haben. «Mir ist es wichtig, der Gesellscha bewusster zu machen, dass Sprachentwicklung nicht immer reibungslos abläu und dass das Kind dann unbedingt Hilfe benötigt,» sagt Edith Volmer. Das heisst: Wenn Eltern oder Betreuungspersonen merkten, dass ein Kind Mühe hat, zu verstehen und zu sprechen, dann ist laut Vollmer der Gang zu einer Logopädin oder zu einem Logopäden angezeigt – im Idealfall via Überweisung vom Kinderarzt. Sollte das Kind tatsächlich eine ‑erapie benötigen, wird es sein Leben lang von dieser frühen Unterstützung profitieren.
Eltern können ihr Kind in seiner Sprachentwicklung fördern, indem sie aktiv mit ihm sprechen. «Das Kind lernt Sprache mit einem aufmerksamen Gegenüber», sagt Volmer. Gerade die sogenannten «Lallphasen» – also Phasen, in welchen das Baby Laute wie ba-ba, wa-wa oder ma-ma vor sich hinbrabbelt –, von denen das Kind in den ersten zwölf Monaten mehrere durchlebt, sind laut der Logopädin von höchster Bedeutung. In diesen Phasen ist es zentral, dass das Baby ein Gegenüber hat, welches aktiv auf sein «Sprachtraining» reagiert und mit ihm in einen Dialog tritt. Das Kind lernt, auf spielerische Weise mit einer anderen Person zu interagieren und erlebt, wie sein Lallen beantwortet wird. Dies motiviert es, noch mehr zu brabbeln und seine Sprachfertigkeiten zu trainieren – ein positiver Kreislauf wird in Bewegung gesetzt.
«Spielen ist das A und O in der Sprachentwicklung des Kindes», weiss Jolanda Christ, Expertin für frühe Sprachförderung und erfahrene Spielgruppenleiterin aus Schönenwerd. Dies gelte sowohl für das Rollenspiel, in welchem das Kind in verschiedene Charaktere schlüp und «so tut als ob», wie auch für das Spiel draussen in der Natur oder auf dem Spielplatz. «Beim Spielen erlebt das Kind den lustgesteuerten Spracherwerb.» Ohne Anstrengung und in voller Konzentration – dem sogenannten Flow – fliegt dem Kind vieles einfach zu. Aber auch das berühmte Spiel im Sandkasten, wo manchmal die Fetzen fliegen, sei ganz wichtig. «In der Auseinandersetzung mit anderen lernt das Kind verstehen, dass es andere Sichtweisen als seine eigene gibt und es muss sprachliche Mittel entwickeln, um darauf reagieren zu können», erklärt Jolanda Christ.
Wahre Booster für die Freude an der Sprache sind Lieder und Verse. Das rhythmische und teils auch emotionale Erleben von Sprache spricht viele Kinder auf einer neuen Ebene an. Sprache ist für einmal nicht nur Kommunikation, sondern auch musisch-ästhetisches Erleben. Gerade Kinder, denen das Sprechen eher schwerfällt, können auf diesem Weg Blockaden abbauen und Selbstvertrauen gewinnen.
Extrakurse für sprachliche Frühförderung sind hingegen vergebliche Liebesmüh. Zwar schadet ein Kurs in Frühenglisch oder Frührussisch nicht, aber er nützt eben auch nicht viel, da dem Kind in der kurzen Unterrichtszeit das «Sprachbad» nicht geboten werden kann. «Ein Kind hat in den ersten zirka drei Lebensjahren die perfekten Voraussetzungen, um eine oder mehrere Sprachen zu lernen, danach schliesst sich dieses Fenster immer mehr», erklärt Logopädin Edith Volmer. Allerdings gelingt das nur, wenn das Kind umfassend mit einer Sprache konfrontiert wird, eingebettet im Alltag und eben nicht isoliert innerhalb eines Kurses. Nur in seiner vertrauten, alltäglichen Umgebung kann das Kind Sprache wirklich erfahren und erleben – darin baden – und schliesslich verinnerlichen.
Ein extra von den Eltern initiiertes Sprachförderungsprogramm erachten die befragten Expertinnen darum als wenig zielführend. Viel besser sei es, neben den bereits erwähnten Aktivitäten, Kinder in den Alltag miteinzubeziehen, mit ihnen zu kochen, aufzuräumen und – falls möglich – im Garten Zeit zu verbringen. Dabei soll über das, was gerade passiert, gesprochen werden. Und last, but not least: Kindern soll man regelmässig, am besten im Rahmen eines Rituals, Geschichten erzählen. Ob frei erfunden oder vorgelesen spielt dabei keine Rolle. Hauptsache, die Fantasie wird angeregt und Sprache als etwas Lustvolles und Verbindendes erlebt. Alles andere macht das Kind ganz von allein. Eben – ein kleines Wunderwerk.