Wandern
Selbstversuch: Grosse Wandertour mit kleinem Kind
Wandern mit kleinen Kindern? Vergiss es, sagen die Zweifler. Versuch es! sagt sich unsere Autorin. Und macht sich mit 4-jähriger Tochter auf eine mehrtägige Höhenwanderung in der Innerschweiz.
Vor mir hangelt sich die Sonne am Gipfel des Rothorn entlang, neben mir sitzt Anouk am Frühstückstisch und plant das Picknick für die Wanderung. «Wir brauchen Käse- und Schinkenbrote, ein hart gekochtes Ei und getrocknete Aprikosen, falls uns die Kraft ausgeht», zählt sie auf. Recht hat sie! Wir wollen mit unserer vierjährigen Tochter von Melchsee-Frutt nach Engelberg wandern. Es ist unsere erste «richtige» Bergtour. «4-Seen-Höhenwanderung» nennt sich die Tour, sie zählt zu den schönsten der Schweiz. In vollem Umfang ist sie mehr als 20 Kilometer lang und selbst für Erwachsene anspruchsvoll. Aber es gibt eine familienfreundliche Variante: Das wunderschöne Panorama ist dasselbe, aber einige Abschnitte kann man mit der Gondel, einer kleinen Bimmelbahn oder dem Sessellift überwinden. Wir haben die Route zudem zweigeteilt: Am ersten Tag wollen wir von Melchsee-Frutt bis zur Engstlenalp wandern, 7,4 Kilometer. Am zweiten dann weiter von der Engstlenalp nach Engelberg, mit einem Anstieg von 400 Höhenmetern. Für uns Erwachsene ist das eher ein Sonntagsspaziergang. Aber für Vierjährige ein riesengrosses Abenteuer.
Ein gemeinsames Ziel
Als wir zehn Minuten später vor die Tür treten, liegt der Melchsee vor uns wie eine blank polierte Glasplatte. Im Wasser spiegeln sich die Gipfel, an den Ufern stehen ein paar Angler und hoffen auf den grossen Fang. In den vergangenen Monaten sind wir oft in die Berge gegangen. Anfangs waren unsere Touren fast flach und keine drei Kilometer lang. Doch schon bald wurden die Distanzen länger und die Berge steiler. Wir haben diese Ausflüge als Vorbereitung für unsere erste «echte» Wanderung immer sehr genossen. Das gemeinsame Ziel «Hüttentour» hat unsere Familie zusammengeschweisst. Und Anouk hat schnell verstanden, dass man beim «Wandern» nicht nur Berge hochläuft, sondern die Eltern auch mal ganz für sich allein hat. Sie können nicht aufs Handy schauen oder telefonieren. Sie müssen dem Kind zuhören. Und meistens kehren sie nach der Wanderung in einer Hütte ein, wo es grosse Portionen mit Käsespätzli gibt.
Seit wir mit Kind unterwegs sind, ist «Hunger» ein verlässlicher Begleiter unserer Touren. Das ist auch diesmal nicht anders: Als wir den Tannensee erreichen, kommt er um die Ecke. «Wann machen wir Picknick?», fragt Anouk. Wir wissen: Jetzt haben wir noch etwa zehn Minuten, um ein schönes Plätzchen für die Rast zu finden. Zum Glück wartet am Ende des Sees eine Bank wie aus dem Bilderbuch auf uns. Gerade als wir unsere Rucksäcke wieder zusammenpacken, fährt hinter uns der «Fruttli»-Zug vorbei. Wir könnten jetzt in die kleine, gelbe Bimmelbahn steigen und uns bis zur Tannalp kutschieren lassen. Doch mein Mann und ich sind uns einig: Diese Etappe schaffen wir aus eigener Kraft.
Kurz hinter der Tannalp biegt der Weg, der sich bisher immer sanft bergauf und bergab geschwungen hat, plötzlich ab und stürzt sich waghalsig in die Tiefe. Links von mir baut sich eine fast senkrechte Felswand auf, rechts geht es steil bergab ins Tal. Dankbar greife ich nach dem Seil, das an den Felsen befestigt ist. Auch Anouk klammert sich ein bisschen fester als sonst an meine Hand. Als wir die Steilpassage geschafft haben, können wir auch schon das Ziel unserer Etappe sehen: ein rosafarbenes Haus direkt am Engstlensee. Die Engstlenalp liegt irgendwo im Nirgendwo zwischen Melchsee und Engelberg. Die Hochebene auf 1834 Metern gehört zu den wenigen Orten in den Alpen, die vom Massentourismus verschont geblieben sind. Ein paar Mal am Tag kommt ein Bus aus Innertkirchen angefahren, ansonsten hat man hier oben seine Ruhe.
Abends gibt es Schnitzel mit Pommes oder Poulet mit Reis und Wasser aus der hauseigenen Quelle. Unser Zimmer hat weder Fernsehen noch WLAN, warum auch? Wir schauen vom Bett aus auf die verschneiten Gipfel von Wetterhorn, Mittelhorn und Rosenhorn und fallen kurz darauf in einen tiefen Schlaf.
«Altersloser» Klassiker
Als wir am nächsten Morgen die Rucksäcke schultern, laufen wir Fritz Immer in die Arme. Der 75-Jährige führt das «Hotel Engstlenalp» in vierter Generation. Er weiss nicht, wie oft er schon die «4-Seen-Wanderung» gelaufen ist. «Es ist halt ein wunderschönes Stück Schweiz», sagt er. Das Schöne an der Wanderung sei, dass sie absolut «alterslos» ist. Er habe schon Babys im Hotel empfangen und Senioren von mehr als 90 Jahren. Denn: «Man kann ja fast überall in einen Lift oder in die Bergbahn steigen, wenn man nicht mehr kann.»
Das ist auch unser Plan für die zweite Etappe: Die 400 Höhenmeter hoch zum Jochpass wollen wir aus eigener Kraft schaffen – und uns anschliessend vom Sessellift runter zum Trübsee tragen lassen. Trödeln dürfen wir trotzdem nicht, denn das Wetter soll umschlagen. Statt strahlendem Sonnenschein erwartet uns laut Wetterbericht ab Mittag Regen und Nebel. Doch jetzt ist die Landschaft noch in ein zauberhaftes, milchig-weisses Licht getaucht. Die schroffen, steilen Bergflanken sehen aus wie Burgmauern. Über dem Engstlensee tanzen die Wolken wie Schleiergeister. Und jedes Mal, wenn der Himmel aufreisst und sich helle Löcher auftun, jauchzt Anouk: «Schaut mal, die Sonne guckt uns zu.»
Unser Kind wirkt an diesem Tag sehr aufgeräumt. Es klettert den schmalen felsigen Wanderweg zum Jochpass wie eine Bergziege hoch und erzählt dazu die ganze Zeit Geschichten. Ansonsten treffen wir keinen Menschen, dafür aber sehr, sehr viele Kühe. Gegen Mittag erreichen wir den Jochpass. Aus den dünnen, weissen Schleiergeistern sind jetzt dicke graue Gespenster geworden. Wir ziehen Mützen und Jacken über und sind froh, dass der Sessellift uns den Abstieg zum Trübsee abnimmt. Der See selbst ist an diesem Tag so trüb wie sein Name. Auch den grossen Abenteuer-Spielplatz am Ufer lässt Anouk links liegen. Stattdessen macht sie auf den letzten Metern nochmal richtig Tempo. Als wir die Gondel erreichen, klatschen wir uns alle drei ab. «Geschafft», sagt mein Mann, «unsere erste gemeinsame Bergtour!» Später, als wir frisch geduscht beim Abendessen in unserem Hotel in Engelberg sitzen, schmiedet Anouk schon neue Pläne. «Nächstes Jahr machen wir diese Tour nochmal», sagt sie. «Aber dann trage ich meinen eigenen Rucksack.»