Persönlich
Ruedi Winet
So belastend oder spektakulär, wie meine Arbeit auf den ersten Blick erscheint, ist sie nicht. Dennoch braucht es oft viel Einsatz – zum Beispiel Eltern zu einem Gespräch zu motivieren. Nicht eingehaltene Termine gehören zum Tagesgeschäft, und erreiche ich eine Familie überhaupt nicht, gehe ich auch mal auf Hausbesuch. Dabei kann es natürlich passieren, dass ich auf der Türschwelle angeschnauzt werde, aber in eine richtig brenzlige Situation bin ich zum Glück noch nie geraten. Wenn ich unsicher bin, nehme ich eine Kollegin oder einen Kollegen mit. Wir treffen unterschiedliche Situationen an – meist aber sind psychische Probleme, Sucht oder häusliche Gewalt im Spiel.
Die meisten sogenannten Gefährdungsmeldungen erhalten wir von der Polizei. Die Beamten informieren uns, wenn sie wegen Gewalt in eine Familie gerufen wurden. Manchmal melden sich aber auch Nachbarn oder Angehörige direkt bei uns, weil sie befürchten, dass ein Kind misshandelt wird. Vom Kinderspitalzugewiesene Fälle wiederum lassen mich schon mal schlecht schlafen.
Ein typisches Beispiel: Ich bekomme einen Anruf von der Kinderschutzgruppe, weil Eltern ein Kind auf den Notfall gebracht haben, das massive Blutergüsse aufweist. Der Kinderarzt geht davon aus, dass sich das Kind die Verletzungen nicht so zugezogen haben kann, wie die Eltern es schildern. Manchmal muss in solchen Fällen eine Verfügung erlassen werden, die es ermöglicht, das Kind in der Klinik zu behalten, bis klar ist, was passiert ist.
Zu meinen Aufgaben gehört auch, im Gespräch mit den Eltern und den Fachstellen herauszufinden, wie eine Familie unterstützt werden kann. Dabei ist es wichtig, keine voreiligen Urteile zu fällen. Nicht immer ist der Fall so, wie er sich auf den ersten Blick präsentiert. Schuldzuweisungen sind deshalb sehr heikel. Was mit dem Kind schlussendlich passiert, hängt stark von der Bereitschaft der Eltern ab, mitzuarbeiten. Sind sie kooperativ, wird zum Beispiel ein Erziehungsbeistand eingesetzt, der eine sozialpädagogische Familienbegleitung organisiert.
Sind die Eltern aber nicht einsichtig oder erhärtet sich der Verdacht auf eine schwere Misshandlung, kann es sein, dass das Kind in einer Pflegefamilie oder in einem Heim platziert wird, bis die Situation geklärt ist. Haben die eltern das Kind körperlich misshandelt, hat die Sache natürlich auch einen strafrechtlichen Charakter. Die Polizei leitet eine Anzeige wegen Körperverletzung ein und wir schauen, dass das Kind vor Gericht vertreten wird. Es bekommt einen rechtlichen Beistand, der im Prozess gegen die Eltern seine Interessen wahrnimmt.
Das Thema Gewalt begleitet mich seit jeher. Schon in meiner Erstausbildung zum Psychiatriepfleger wurde ich damit konfrontiert. Später habe ich während 20 Jahren eine Beratungsstelle für Militärdienstverweigerer geleitet – aus pazifistischen Gründen. Während dieser Zeit entschied ich mich, mein juristisches Rüstzeug zu verbessern und schrieb mich deshalb vor acht Jahren an der Uni Fribourg für ein Jus-Studium ein. Meine beiden Töchter waren damals schon beinahe erwachsen.
Nach dem Studium arbeitete ich ein Jahr auf der Jugendanwaltschaft und seither bei der Vormundschaftsbehörde Winterthur. Bei beiden Stellen konnte und kann ich meine sozialen Fähigkeiten genauso einbringen wie mein juristisches Wissen. Natürlich gibt es ab und zu Fälle, die unter die Haut gehen. Es gibt Familien, die wir über Jahre, ja sogar über Generationen begleiten, ohne wesentliche Veränderungen zu erreichen. Zum Glück sind das aber Ausnahmen. Meist gelingt es, die Situation der Kinder deutlich zu verbessern.