Alternative Lebensformen
Platz im Herzen

Elisabeth Real
Die Familienmitglieder
Matthias Hugenschmidt (46), Stéphanie Erni (43), Ronja Hugenschmidt (21), Tizian Hugenschmidt (19), Pflegekind Miguel Dos Santos (21), Judith Erni (9) und Loris Erni (7). Und damals noch Chanel (5) und Erika (3) als Pflegekinder.
Wohnort
Büren SO
Wohnform
Haus
Familienorganisation
Matthias ist selbstständiger Unternehmer, Stéphanie 40 Prozent angestellt und auch noch selbstständig als Journalistin tätig; beide arbeiten meist von zu Hause aus und teilen sich die Betreuungs- und Haushaltsaufgaben.
Beginn des Modells
2002, seit Stéphanie und Matthias zusammenleben.
Unser Haus steht gleich neben dem Kindergarten. Zwischen unserem Garten und dem Spielplatz ist nur ein Zaun. Und an eben jenem Zaun stehen jetzt drei kleine Mädchen und fragen mich, wie es Chanel geht. «Ich weiss es nicht», antworte ich. Sie habe noch nicht angerufen. «Dann ruf du doch an», sagt eines der Mädchen. «Ja, das will ich tun und ich werde ihr Grüsse ausrichten », verspreche ich den Mädchen. Tatsächlich hab ich schon versucht, Chanel, ihre Schwester Erika und ihre Mutter telefonisch zu erreichen, aber die Verbindung hat nicht geklappt. Und wenn ich sie dran hätte – würden sie mich überhaupt verstehen? Und wenn ja, was würden sie mir erzählen?
Chanel wird im Juli sechs Jahre alt, Erika vier. Aber das wissen wir erst seit wenigen Wochen. Als die beiden Mädchen im vergangenen Winter zu uns kamen, wussten wir gar nichts ausser ihren Namen. Und was besonders schwierig war: Wir sprachen nicht die gleiche Sprache. Wie integrierst du jemanden in deinen Familienalltag, wenn er dich nicht richtig versteht? Wenn du nie weisst, ob er nur nickt, um in Ruhe gelassen zu werden, oder weil er wirklich verstanden hat, was du wolltest. Die Kommunikation ist in so einem Fall sehr rudimentär und vieles, was über die Befriedigung der elementaren Bedürfnisse hinausgeht, wird für beide Seiten zur Belastungsprobe.
Aber wir haben einen Weg gefunden. Die Mädchen haben in den sieben Monaten, die sie bei uns waren, nicht nur unsere Sprache gelernt; sie haben sich integriert, nicht nur in unsere Familie, sondern in die ganze Dorfgemeinschaft. Chanel hat den Kindergarten besucht, Erika zweimal wöchentlich die Spielgruppe. Am Ende hatten sie Freundinnen. Eben jene, die jetzt am Zaun stehen und sich nach ihnen erkundigen.
Heute sind die Mädchen wieder zu Hause in ihrer Heimat und sie sind vor allem wieder bei ihrer Mutter. Sie hat von allen am meisten gelitten. Das habe ich gesehen. Jetzt leide ich. Nicht sehr fest, aber doch so, dass ich einen Kloss im Hals habe und Tränen in die Augen drücken, wenn ich wieder mal ein Kleidungsstück oder Plüschtier finde, das wir beim Einpacken vergessen haben. Die Abreise ging nämlich fast ebenso schnell über die Bühne wie die Ankunft von Erika und Chanel.

Es war am 5. November im vergangenen Jahr, als uns die Familienplatzierungsorganisation «Wopla», mit der wir zusammenarbeiten, fragte, ob wir zwei kleine Mädchen aufnehmen könnten, gleich am nächsten Tag. Sie seien etwa zwei und vier Jahre alt.
Unsere beiden eigenen Kinder sind älter und gehen zur Schule. Kinder unter fünf sind auch am Morgen zu Hause. Genau in jener Zeit, in der mein Partner und ich – beide selbstständig – üblicherweise ungestört daheim arbeiten oder Termine wahrnehmen können. Zwei kleine Kinder bedeuten mehr Organisation bei Familienausflügen und Einladungen. Aus all diesen Überlegungen heraus hatte ich erst wenig Lust, die Kinder aufzunehmen, und sagte dann doch Ja.
Als der Mitarbeiter von «Wopla» die Kinder brachte, klammerten sie sich an sein Bein und weinten. Ausser dem, was sie trugen, hatten sie nichts dabei. Wir waren schon ihre zweite Station, seit sie aufgegriffen wurden. In der ersten Familie konnten sie aus organisatorischen Gründen nicht länger als zwei Nächte bleiben. Es war wirklich wie im Film. Der kantonale Kinder- und Jugenddienst hat zwei Kinder, für die bis Feierabend ein Platz zum Schlafen gefunden werden muss. In Hollywood fangen meistens Komödien so an. Im richtigen Leben sind es Dramen.

Stéphanie Erni
Lange Zeit lag die familiäre Situation von Erika und Chanel völlig im Dunkeln. Und irgendwann fingen wir an, die beiden Mädchen in unsere Zukunftsplanung einzubeziehen. Während der Ferien über Weihnachten und Ostern, die wir in den Bergen verbrachten, ging ich mit ihnen an den Schlittelhang, während der Rest der Familie die Skipiste stürmte. «Wenn sie nächstes Jahr noch da sind, können wir sie auch in die Skischule schicken», überlegten wir uns. Im Frühjahr standen dann die Gespräche mit der Kindergärtnerin an. Sollte Erika im Sommer noch da sein, würde sie möglicherweise ebenfalls den Kindergarten besuchen. Und auch unsere Kinder Judith und Loris haben sich mit der Situation arrangiert. Zwar hat Sohn Loris, bis vor Kurzem noch der Jüngste, sich häufig über Erika geärgert. Mit Chanel, die ja nur gut ein Jahr jünger war als er, konnte er aber bald gut spielen. Und Judith hatte als Älteste einfach zwei weitere kleine Geschwister, mit denen sie besser mit den Puppen spielen konnte als mit ihrem Bruder.
Die Mädchen genossen regelmässige Besuche beim Grosi von Judith und Loris, Erika setzte sich regelmässig auf Opas Schoss an Familienfeiern. Ihr Kleiderschrank füllte sich ebenso wie der Stapel an Bildern und Geschenken, die sie in Kindergarten und Spielgruppe bastelten und immer voller Stolz mit nach Hause brachten. Wenn Chanel am Morgen in den Kindergarten loszog, strich ich ihr noch mal über den Kopf und winkte ihr dann hinterher, wie ich es auch bei den eigenen Kindern tat. Danach half mir Erika bei der Wäsche sortieren oder Geschirrspülmaschine ausräumen, wie es schon Judith und Loris taten, als sie noch kleiner waren. Manchmal machte sie es absichtlich falsch, um Lacher zu provozieren. Überhaupt haben wir sehr viel gelacht mit den beiden.
Und dann tauchte ihre Mutter auf. Oder zumindest eine Frau, die behauptete, die Mutter zu sein. Aber die nicht die nötigen Dokumente bei sich hatte, um das zu belegen. Am Tag der ersten Zusammenführung war ich wütend auf sie. Ich dachte mir den ganzen Weg zum Treffpunkt hindurch aus, was ich ihr alles sagen würde, übersetzte es im Kopf, damit sie mich verstand. Als wir in der Amtsstube ankamen und die Kinder ins Zimmer führten, stürzte eine junge Frau auf die Knie und umarmte die Mädchen, weinte, hielt sie fest und nannte immer wieder ihre Namen. Es war klar, dass die drei zusammengehörten. Ich habe nichts von dem gesagt, was ich mir ausgedacht hatte. Diese Frau hat vieles durchgemacht, bis sie ihre Kinder endlich wieder in ihre Arme schliessen durfte, das war ihr anzusehen.
Nach diesem ersten Treffen durften Erika und Chanel aber nicht bei ihrer Mutter bleiben. Die Papiere für die Heimreise der drei mussten erst fertiggestellt werden, und die Kinder wurden vorerst im gewohnten Rahmen, den wir ihnen in letzter Zeit geboten hatten, belassen. Trotzdem war von da an alles anders. Jetzt hiess es warten. Täglich telefonierten Erika und Chanel mit der Mama. Auf Schweizerdeutsch – ihre Muttersprache sprachen sie nicht mehr, verstanden sie nur teilweise noch. Und ihre Mutter lernte schnell ein paar Worte auf Deutsch, um sich einigermassen mit ihren eigenen Kindern verständigen zu können. Aber auch wir hatten wieder Kommunikationsprobleme. Erika vergass auf einen Schlag alles, war wir ihr beigebracht hatten. Sie weinte wieder beim Einschlafen und kroch nachts wieder ins Bett ihrer Schwester.
Am 1. Januar 2013 ist das neue Kinderund Erwachsenenschutzrecht in Kraft getreten und die «Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden » haben ihre Arbeit aufgenommen. Seither gilt auch die überarbeitete «Verordnung über die Aufnahme von Pflegekindern». Das heisst, dass jetzt Profi- und nicht länger Laienbehörden über die allfällige Fremdplatzierung eines Kindes entscheiden. Das Kindswohl wurde im Gesetz ins Zentrum gerückt, das betroffene Kind muss seinem Alter entsprechend informiert und angehört werden. Ab 2014 werden ausserdem die Familienplatzierungsorganisationen gesetzlich beaufsichtigt. Sie sind Ansprechpartner für die Pflegefamilien, die mit einer Organisation zusammenarbeiten möchten, und koordinieren den Kontakt zu den Behörden und zu den leiblichen Eltern. Eine hilfreiche Informationsquelle für Einsteiger ist die «Pflegekinder-Aktion Schweiz», www.pflegekinder.ch, die auch ein Vorbereitungsseminar sowie Kurse für Pflegeeltern anbietet. Die Entschädigungen, die für den Betreuungsaufwand geleistet werden, sind kantonal geregelt und liegen ungefähr zwischen 800 und 1200 Franken monatlich. Dazu kommen noch Entschädigungen für Kost und Logis sowie für Spesen oder Sackgeld. Eine Garantie, dass der angebotene Pflegeplatz belegt wird, gibt es nicht.
Die Sonntage, die nun kamen, verbrachten Erika und Chanel mit der Mutter. Der erste Abschied von ihr am Sonntagabend war schwer. Ich musste die Kinder ihrer Mutter fast entreissen, um dem Schluchzen und Trauern ein Ende zu bereiten. Danach nahmen sich alle drei vor, beim Abschied künftig nicht mehr zu weinen. Es gelang meistens. Die Mama besuchte uns auch zu Hause, schaute sich die Fotos an, die wir geschossen haben und war überrascht, wie gut ihre Kinder die Namen aller Verwandten kannten. Aber auch wir lernten Verwandte kennen. Denn das Kinderzimmer füllte sich mit Fotos des Vaters und des Bruders. Es war gut, die Mutter kennenzulernen und zu sehen, dass die Kinder in Zukunft gut aufgehoben sein werden, zumindest emotional. Wie stabil die wirtschaftliche Situation der Familie ist, in die Chanel und Erika zurückgekehrt sind, wissen wir nicht. In solchen Momenten fällt mir auf, wie heil die Welt ist, in der wir leben. Und das ist es auch, was wir den Kindern geben können: ein bisschen heile Welt.
Erika und Chanel sind nicht die ersten Kinder, die bei uns eine unfreiwillige Auszeit verbracht haben, hier gelebt, gegessen, geschlafen, geweint und gelacht haben. Jetzt ist der Platz, den sie eingenommen hatten, wieder frei. Für andere Kinder. Für den Kopf ist es mit jedem Mal leichter, die Rolle als Pflegemutter bei Kriseninterventionen zu verstehen. Aber der Bauch fährt trotzdem Achterbahn. Und ich weiss, wenn das nicht so wäre, könnte ich diesen Kindern gar keinen richtigen, familiären Rahmen bieten. Dann wäre es nicht echt. Natürlich werden wir für den Aufwand, den zusätzliche Kinder bringen, finanziell entschädigt; aber ich bin nicht angestellt in meiner Familie. Das ist unser Leben, da hinein kommen die Kinder. Daraus müssen wir sie wieder gehen lassen, auch wenn das nicht immer einfach ist.