Glaube
Oh mein Gott!

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Fällt Ihnen etwas auf, wenn Sie diesen Songtext hören? «Ich ghöre es Glöggli, das lüüted so nett, dä Tag isch vergange jetzt gan ich is Bett, im Bett tuen ich singe und schlafe dänn i, d’Sunne im Himmel wird morn au wieder bi mir si.»
Genau, «beten» und «Gott» sind ersetzt worden durch «singen» und «Sonne». Geträllert wird die unchristliche Variante des Gute-Nacht-Songs. Und damit eine der vielen umgedichtetenVersionen, die in Schweizer Kinderzimmern heutzutage im Umlauf sind. Denn viele Mütter und Väter hierzulande laufen zu kreativer Hochform auf, wenn es darum geht, traditionelle Lieder und Gute-Nacht-Geschichten umzutexten. Man könnte auch sagen: zu entreligionisieren.
Am Glauben fehlts nicht
Leben wir also in einem Land von Ungläubigen? Das könnte man durchaus annehmen in Anbetracht der gähnend leeren Kirchenbänke. Die jüngste Schweizer Volkszählung jedoch erzählt eine andere Geschichte: Nur einer von zehn Schweizern gibt an, keiner Glaubensgemeinschaft anzugehören. Und noch verblüffender: 90 Prozent der Bevölkerung beten gelegentlich, jeder Dritte davon tut es sogar täglich. Diese Beichte entlockte jedenfalls das Lausanner Institut für Sozialethik den Befragten. Auch Gott verneinen mag niemand so richtig: So seien es gerade mal 5 Prozent der Schweizer, die der Aussage «Es gibt keinen Gott» klar zustimmen mögen. Das lässt sich übrigens ganz einfach nachprüfen: Fragen Sie beim nächsten Abendessen unter Freunden doch mal nach, wer am Tisch an Gott glaube. Zuerst wird man rumdrucksen und dann werden Sie so einiges zu hören bekommen: Von einer «höheren Macht» wird die Rede sein oder von «Energien, die durchs Universum schwirren und das menschliche Dasein beeinflussen», das volle Programm eben. Ein klar und deutlich ausgesprochenes «Ich glaube nicht an Gott» ist selten.
Vorab unter Eltern. Denn mit den Kinder ist auch die Glaubensfrage plötzlich wieder da. Von Müttern und Vätern hört man deshalb nicht selten: «Gott war mir lange Zeit egal, aber als unser Kind auf die Welt kam, habe ich mir überlegt, es taufen zu lassen. » Ein klares Glaubensbekenntnis! Denn schliesslich bedeutet die Kindstaufe nichts anderes als die Aufnahme des Babys in den Bund der christlichen Gemeinschaft. Im Jahr 2009 geschah das immerhin 15 100 Mal in der katholischen und 15 170 Mal in der reformierten Kirche. «Die Taufe ist ein Geschenk », sagt Pfarrer Simon Weber vom Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund (SEK). «Aber die Kirche knüpft daran natürlich eine Erwartung: Nämlich, dass die Eltern ihre Kinder verantwortungsbewusst auf diesem Weg begleiten und ihnen christliche Werte und Traditionen vermitteln.»
Unzeitgemässe Kirchen
Wo aber findet man sie, all die gläubigen Eltern mit ihrer getauften Kinderschar? In den christlichen Gotteshäusern jedenfalls eher selten. Dort sitzen in den Bankreihen fast nur noch ältere Herrschaften. Das ist auch Insidern längst aufgefallen: «Die Landeskirchen haben ein Imageproblem», sagt etwa Pfarrer Simon Weber vom SEK. «Damit hat das Christentum allerdings zu kämpfen, seit es existiert.» Bedauernswert findet der Seelsorger, dass man die Kirche als starres, einheitliches Gebilde wahrnehme. «Wie in einer Schule immer schlechte Lehrer zu finden sind, gibt es eben auch in der Kirche schlechte Pfarrer – dies sollte aber nicht den Betrieb als solchen infrage stellen.» Tut er aber. Die Landeskirchen haben tatsächlich Mühe, die jüngere Generationen von sich zu überzeugen. Freikirchen schaffen das viel besser. Und das liegt nicht nur an der musikalischen Untermalung. Der freischaffende Theologe Andreas Wagner aus Neuhausen am Rheinfall findet für die flüchtig gewordenen Schäfchen jedenfalls eine andere Begründung: «Die Landeskirchen nehmen die Menschen nicht ernst – sie hören ihre Fragen gar nicht. Der Kardinalsfehler der Kirche schlechthin ist es Antworten auf Fragen zu geben, die gar keiner gestellt hat.»
Jahrelang stand Andreas Wagner selbst vor einer römisch-katholischen Gemeinde. Bis er sich für die Liebe zu einer Frau entschieden hat. Seither führt er als freischaffender Theologe Trauungszeremonien und Feiern zum Lebensanfang durch. «Die Kirche müsste ihr Selbstbild überarbeiten – nur so kann sie zu einer Glaubensgemeinschaft werden, die sich mit den Menschen auf den Weg macht und gemeinsam nach Antworten sucht», empfiehlt er.
Glaubensbekenntnisse
20% der Jugendlichen in der Schweiz halten sich selbst für gläubig. Das ergab eine Nationalfondsstudie.
50% weniger Konfirmationen verzeichnen die reformierten Kirchen im Land seit 1960. Liessen sich damals noch 42 000 junge Frauen und Männer konfirmieren, so schrumpfte diese Zahl im Jahr 2009 auf 20 000 zusammen.
50% zugenommen haben im neuen Jahrtausend die Taufen von bereits schulpflichtigen Kindern in den katholischen Kirchen.
15'170 Kinder sind im Jahr 2009 in den reformierten Kirchen der Schweiz getauft worden. 1960 waren es 40 012.
Eine Empfehlung, über die man ruhig mal nachdenken kann. Gerade in der heutigen Zeit. Zwar leben wir in einer säkularisierten Gesellschaft, aber Religion ist gerade in letzter Zeit zum Politikum geworden. Denn in einer multikulturellen Gesellschaft, in der Weltbilder und Wertvorstellungen aufeinanderprallen, kommt der Einzelne nicht darum herum, sich mit den eigenen Wurzeln auseinander zu setzten. «Mami, warum feiert der jüdische Junge in meiner Klasse keine Weihnachten?» – «Warum dürfen die Muslime in der Schweiz eigentlich keine Türme bauen?» – «Und warum trägt die Mama von Leila ein Kopftuch?»
Religion wird politisch
Zu Andreas Wagner kommen Menschen, die auf diese Fragen eigene Antworten gefunden haben. Oder manchmal auch solche, die vor verschlossenen Kirchentüren stehen. Geschiedene, denen eine zweite kirchliche Vermählung verwehrt bleibt, etwa weil die Katholiken nicht sehen wollen, dass die Schweiz mittlerweile zur Heimat unzähliger Patchwork-Familien geworden ist. Schliesslich heisst es nicht «bis der Richter euch scheidet», sondern der «Tod». Amen. Auch Homosexuellen wird die Kirchenpforte vor der Nase zugeschlagen – zumindest die römisch-katholische. Eine Kirche, die ihre Schafe im Regen stehen lässt, muss sich auch nicht wundern, wenn die Herde plötzlich freiwillig draussen bleibt.
Die störrische Unveränderlichkeit, die Realitätsferne und die Immunität gegenüber gewissen Lebensfragen bleibt nicht ohne Folgen: Viele junge Familien glauben zwar, aber ohne kirchlichen Segen. Sie feiern anstelle der Taufe in der Kirche ein Fest zum Lebensanfang, zum Beispiel auf einer Waldlichtung. Auf Spiritualität, christliche Werte und Rituale wollen sie nicht verzichten.
Feuer statt Wasser
«Wie ein solches Fest gestaltet wird, ist jedem selber überlassen», sagt der freischaffende Theologe Andreas Wagner. «Vor Kurzem haben die Eltern eines Babys die geladenen Gäste darum gebeten, ein Holzscheit zur Feierlichkeit mitzubringen. Aus den Scheiten wurde dann ein Feuer entfacht und die Erwachsenen haben ihre Hände darüber gehalten. Die gewärmten Hände wurden dem Baby aufgelegt, um symbolisch zum Ausdruck zu bringen, dass sie ihrem Kind immer genug Lebenswärme geben wollen.» Spiritualität in Reinkultur.
Auch der Familienalltag ist häufig durch religiöses Gedankengut geprägt. Suchen Eltern nach Antworten auf kindliche Fragen, wie «Wo war ich, bevor ich auf die Welt gekommen bin» oder «Wohin geht Kater Carlo, wenn er gestorben ist?», werden sie oft in der üppigen Schatzkiste christlicher Metaphern fündig.
Als moderne Light-Version des Glaubens bezeichnet dies der Religionssoziologe Roland J. Campiche in seiner Schrift «Dualisierung von Religion»: Er definiert ihn als «universale Religiosität», welche eine höhere Macht anerkennt, das Gebet sucht, den Tod als Kreislauf von Werden und Vergehen deutet und Riten wie Heiraten, Taufen und Begräbnis als ethisches Verhaltensmuster versteht. In dieser Form des Glaubens gehören Schutzengeli-Anhänger, das abendliche Gebet und das Begräbnis des verstorbenen Katers zum Familienleben, wie in der Kirche das Amen.
Im Glauben zu Hause
Eva Schrader, Björn Schrader, Lukas (11), Marie (9), Johanna (7)

«Der katholische Glaube ist für mich wie eine Heimat. Ich bin darin verwurzelt, denn ich bin in einer katholisch geprägten Region aufgewachsen. Das Leben wurde mitgestaltet durch die Feste des Kirchenjahres. In den Kinderund Jugendlagern, die ich besuchte, begegnete ich Menschen, die den Glauben ganz selbstverständlich lebten. Das beeindruckte mich nachhaltig. Warum soll ich diese positiven Erfahrungen meinen Kindern vorenthalten?
Björn wuchs protestantisch auf – kirchenferner, weniger religiös. Schon vor und während der ersten Schwangerschaft sprachen wir darüber, wie unsere Kinder getauft werden sollten. Wir einigten uns auf eine katholische Taufe, um einen Grundstein für den Glauben zu legen. Wir wünschen uns, dass unsere Kinder ihr späteres Leben aus christlichen Werten gestalten können. Und hoffen, dass der Glaube sie durch Höhen und Tiefen trägt. Ich selber empfinde ein emotionales Getragensein im Glauben – aber für unsere Kinder ist der soziale und kulturelle Kontext ein anderer. Sie werden in der Stadt viel heterogener sozialisiert als ich damals auf dem Lande. Sie gehören einer Minderheit an. Der Katholischunterricht an der Schule wurde aus einem Mangel an Nachfrage abgeschafft, die Kinder aus dem Quartier wurden zusammengezogen. Nun besuchen sie einmal pro Woche altersdurchmischt die Religionsstunde in der Pfarrgemeinde.
Das Tischgebet befremdete Björn zunächst etwas. Aber mittlerweile schätzt er es – speziell die Sekunden vor dem eigentlichen Beten, das kurze Innehalten, den Genuss der Stille. Das Abendgebet richten wir an Maria: «Maria, breit’ den Mantel aus, mach’ Schirm und Schild für uns daraus.» Das Leben von Maria hat mich schon als Kind fasziniert und begleitet, es war ein Trost- und Muntermacher.
Mir gefällt das unverkrampfte Bild, das unsere Kinder vom Tod haben. Björns Schwester starb vor acht Jahren bei einem Autounfall. Wenn wir das Grab besuchen, taucht bei Lukas, Marie und Johanna manchmal die Frage auf: Wo ist die Tante jetzt? Die Kinder machen sich zwar kein konkretes Bild vom Jenseits. Aber Björns Schwester bleibt durch die Kinderfragen lebendig. Während wir Erwachsenen zu oft darüber schweigen.»
Aufgezeichnet von Manuela von Ah
Neue Rituale
Katarina Bachmann-Aerni , Martin Bachmann, mit Nike (7) und Merrill (4)

wir eltern: An was für einen Gott habt ihr in eurer Kindheit geglaubt?
Martin Bachmann: An einen Gott, der darüber entscheidet, ob ich dereinst in den Himmel oder in die Hölle komme. Ich fühlte mich unter Druck und gezwungen zu beten, um Gott gnädig zu stimmen.
Katarina Bachmann-Aerni: Die Hölle als möglicher Aufenthaltsort nach dem Tod existierte für mich nicht. Relativ früh war mir aber klar, dass Gott kein Mann sein kann, der im Himmel sitzt. Von der Bibel fühlte ich mich daraufhin nicht mehr angesprochen, weil die Frau darin kaum je eine tragende Rolle spielt.
Ihr habt kirchlich geheiratet. Wieso?
Martin: Die Kirche hat Rituale geschaffen, die in unserer Kultur verankert sind. Ritual und Feier waren uns wichtig.
Katarina: Die Alternative wäre gewesen, selbst ein Ritual zu erfinden, aber das hätte uns und vielleicht auch die Gäste überfordert. Der Pfarrer hat sich viel Zeit für uns und unsere Anliegen genommen und schliesslich sogar eine aramäische Urform des Vaterunsers gefunden, welche auch mir als Frau entspricht.
Hat sich die Bedeutung von Religion geändert, seit ihr Kinder habt?
Katarina: Religion hat mich früher kaum interessiert. Mit den Kindern aber stellten sich plötzlich Frage wie: Lassen wir sie taufen? Wollen wir uns wirklich verpflichten, die Kinder im christlichen Glauben zu erziehen? Diesbezüglich machen wir es uns relativ einfach: Wir schicken sie an die Steiner-Schule, in welcher die geistige Welt eine wichtige Rolle spielt. Mir selbst wurde erst in den letzten Jahren und in der Auseinandersetzung mit dem Buddhismus klar, welche Bedeutung die Begriffe «Himmel» und «väterlicher Gott» im übertragenen Sinn haben. Dass ich das Beschützende und die himmelartige Weite in mir selbst finden kann.
Martin: Die Geburt eines Kindes, wie wir es erlebt haben, trug uns in eine andere Dimension. Ein Wunder, wie ein neuer Mensch entsteht! Und man fragt sich: Woher kommt er?
Die meisten Kinder interessiert ganz besonders die Folgefrage: Wohin gehen wir? Was antwortet ihr?
Martin: Als vor einiger Zeit das Kind eines Freundes starb, gingen wir in eine katholische Kirche und zündeten eine Kerze an. Das tun wir seither immer wieder mal. Meine altersgerechte Antwort für die Kinder lautet: Am Himmel hat es einen Stern für jeden Menschen. Wir kommen von diesem Stern und gehen auch wieder dahin zurück.
Betet ihr vor dem Einschlafen mit den Kindern?
Katarina: Wir haben eine Art Ritual, das die Kinder zum Teil selber weiterentwickelt haben: Nach dem Liedlisingen spanne ich einen Regenbogen über sie, der sie beschützt – mittlerweile auch die ganze Siedlung und das Gotti Sandra. Dann sage ich: Da ist dein Stern, er gibt dir Licht. Die Kinder verlangen jeden Abend nach diesem Ritual, egal wie spät es ist oder wie müde sie sind.
Aufgezeichnet von Veronica Bonilla Gurzeler
Auf der Suche
Franziska Wehrli-Brader, Patrick Wehrli, Sofie (4) und Linda (3)

«Ich weiss nicht, ob ich die richtige bin für dieses Interview,» sagt mir Franziska Wehrli bei der Begrüssung an der Tür ihrer Wohnung in einem Zürcher Aussenquartier. «Wie sie denn darauf komme?» entgegne ich und hänge meine Jacke an den Bügel. «Ich bin punkto Glauben eine Suchende.»
Auf die Frage wonach sie denn suche, antwortet sie ohne nachzudenken: Nach Ruhe und Tiefe. Eine Tiefe wie sie es aus ihrer Kindheit kenne. Damals, als sie mit ihrer Familie jeden Sonntag den römisch katholischen Gottesdienst in der Dorfkirche besucht habe. Jedes Mal sei sie berührt gewesen von den Worten des Pfarrers, obwohl sie nicht immer alles genau verstanden habe. Glücklich und erfüllt habe sie die Messe verlassen, um sich dann mit der halben Dorfgemeinde auf dem Kirchenplatz zu versammeln, wo die Erwachsenen noch bei einem Schwatz zusammen standen und die Kinder herumtollten. «Ich fühlte mich als Teil einer Gemeinschaft, das tat gut.» Der Bruch kam für Franziska Wehrli in der Pubertät. «Vieles erschien mir plötzlich verlogen. Was soll man mit dem Satz «Und führe uns nicht in Versuchung» im Vater-Unser anfangen, wenn man als Teenie erkennt, dass die Versuchung doch zum Leben dazu gehört.»
Seither bete sie an dieser Stelle jeweils «Und führe uns in der Versuchung» – auch abends wenn sie das Gebet mit den Kindern spreche. Als junge Frau habe sie in der Folge so einiges ausprobiert oder gelesen, um ihr Leben mit Spiritualität zu füllen. Und während sie spricht, holt sie einen Stapel Bücher aus dem Regal, Werke zum Buddhismus oder philosophische Abhandlungen zum Sinn des Lebens liegen vor uns auf dem Tisch. Einen ersten Schritt wieder auf die Kirche zugemacht, habe sie dann mit der Geburt ihrer ersten Tochter. Der Besuch bei ihrer Grosstante gab den Ausschlag. «Ich werde deine Familie im Himmel leider nicht wieder sehen», entgegnete die ältere Dame sichtlich gestresst beim Anblick ihrer nicht getauften Ur-Grossnichte.
«Ich entschloss mich daraufhin zur Taufe – für das evangelisch-reformierte Ritual, weil ich mir erhoffte, damit einen christlich toleranteren Weg einzuschlagen.» Sie habe einen Grundstein legen wollen für ihre mittlerweile zwei Töchter, in dem die kulturellen Wertvorstellungen unserer Gesellschaft verankert seien. «Und zudem», ergänzt ihr Mann Patrick Wehrli, der unterdessen am Tisch Platz genommen hat, «bietet der Glaube neben der Mystik vor allem praktische Leitplanken für unsere ethischen Grundsätze. » So trage Tochter Sofie ihre verstorbene Grossmutter – die sie im Übrigen nie kennengelernt habe – fest in ihrem Herzen und stelle sich vor, dass diese alles sehen könne; ganz so wie die Mama von Pippi Langstrumpf, die vom Himmel auf ihre Tochter niederschaut.
Aufgezeichnet von Nicole Gutschalk