Sexualisierte Gewalt
«Schweigen ist der beste Freund der Täter»
Wie soll man mit Kindern über sexualisierte Gewalt sprechen und sie davor schützen? Agota Lavoyer ist vierfache Mutter und hat ein Kinderfachbuch darüber geschrieben. Es ist bereits ein Bestseller.
wir eltern: Frau Lavoyer, wie erklären Sie sich den Erfolg ihres Präventionsbuch «Ist das okay?» - das Thema sexuelle Gewalt ist nicht einfach zu vermitteln.
Agota Lavoyer: Vor fünf bis zehn Jahren wäre das sicherlich noch anders gewesen. Inzwischen ist die breite Öffentlichkeit aber wachgerüttelt und erkennt: «Wir haben in unserer Gesellschaft ein Problem». Ausserdem ist die Angst, ihr Kind könnte Opfer sexualisierter Gewalt werden, eine der grössten Ängste der Eltern. Das ist einerseits gut, andererseits lähmt Angst aber auch. Deshalb wollte ich ein Buch schreiben, das mit Aufklärung dieser Angst entgegenwirkt. Solange die Angst alles überschattet, kann man keine Prävention betreiben.
Jedes 7. Kind, schreiben Sie, erfährt irgendwann eine Form des sexuellen Übergriffs. Was genau versteht man darunter?
Ja, jedes 7. Kind. Mädchen doppelt so häufig wie Buben. Darunter fällt vieles. Und – ich hole ein bisschen aus – inzwischen ist man glücklicherweise so weit, nicht nur die «Hands on», sondern auch die «Handsoff»-Delikte im Blick zu haben. Zu sexualisierter Gewalt zählt nicht nur, wenn ein Kind an Penis und Vulva berührt wird, sondern auch – obwohl Hands off – mit einem Kind pornografische Videos zu schauen, vor einem Kind zu onanieren, es nackt zu fotografieren... Wir müssen Kinder über alle diese Formen aufklären. Denn während sie meist sehr klar wissen, dass es falsch ist, wenn man sie intim berührt, wissen sie oft nicht, dass auch kein Erwachsener das Recht hat, etwas Sexuelles mit ihnen zu machen, bei dem sie nicht angefasst werden. Darüber muss man mit Mädchen und Jungen reden. Kinder haben Grenzen, wie jeder Mensch. Sie haben ein Recht darauf, dass diese akzeptiert warden.
zvg
A. Lavoyer: «Ist das okay?», für Elter nund Kinder ab 6 Jahren, Mabuse-Verlag, Fr. 36.90
Ist deshalb das Buch alternierend aufgebaut: Informationen für Erwachsene, Seiten für Kinder, um das «im Dialog bleiben» zu betonen?
Ja. Es ist wichtig, dass Eltern und Kinder stets im Gespräch sind. Liest man gemeinsam das Buch, kann man gleich miteinander darüber reden, ob die Kinder es mögen, wenn sie sich bei einem Erwachsenen auf den Schoss setzen sollen. Ob ein Kuss auf den Mund okay ist und wenn ja, von wem. Wer mit wem Doktorspiele machen darf... All so etwas. Aber die Kinder dürfen auch ruhig die Passagen für die Erwachsenen lesen. Man muss Kinder nicht schonen. Mit Informationen. Wissen schützt!
Was ist die zentrale Botschaft Ihres Buches?
Die wichtigste Botschaft: Schweigen ist der beste Freund der Täter* innen. Es gibt nichts Abschreckenderes für potenzielle Täter* innen als ein Umfeld, in dem offen über Grenzen und Grenzverletzungen gesprochen wird. Deshalb müssen wir sexualisierte Gewalt an Kindern enttabuisieren.
Und noch ein wichtiger Tipp für die Eltern?
Die Erwachsenen müssen das Thema zu sich nehmen. Es ist Sache von Mutter oder Vater etwa, dem Grosi zu sagen, dass das Enkelkind die schlabberigen Küsse nicht mag. Was mir auch wichtig ist zu betonen: Kinder brauchen Zärtlichkeit, Kinder brauchen Nähe. Aber eine gute Nähe.
Caren Battaglia hat Germanistik, Pädagogik und Publizistik studiert. Und genau das interessiert sie bis heute: Literatur, Geschichten, wie Menschen und Gesellschaften funktionieren – und wie man am besten davon erzählt. Für «wir eltern» schreibt sie über Partnerschaft und Patchwork, Bildung, Bindung, Erziehung, Erziehungsversuche und alles andere, was mit Familie zu tun hat. Mit ihrer eigenen lebt sie in der Nähe von Zürich.