Sprachentwicklung
Mehrsprachig: sechs Mythen im Check
Von Bettina Leinenbach
Warum Babys problemlos mehrere Sprachen lernen können – der Frühchinesisch-Kurs aber trotzdem nichts bringt.
Kinder, die mehrsprachig aufwachsen, haben häufiger Mühe, Sprache zu erlernen, als ihre einsprachigen Gspänli.
Stimmt nicht!
Wenn ein Kind nicht oder nur teilweise in der Lage ist, Sprache zu produzieren, zu verstehen und/oder richtig einzusetzen, leidet es möglicherweise unter einer sogenannten Spracherwerbsstörung. Diese Diagnose kann bei zirka sechs bis acht Prozent aller Kinder gestellt werden – und zwar unabhängig davon, ob die Mädchen und Buben ein- oder mehrsprachig aufwachsen, erläutert Judith Häusermann, Logopädin und Expertin auf dem Forschungsgebiet «Mehrsprachigkeit».
Ein Nebeneinander von zwei, drei oder mehr Sprachen überfordert und verwirrt die Mädchen und Buben.
Falsch. Das menschliche Gehirn ist problemlos in der Lage, viele Sprachen parallel zu erlernen. Dass es länger dauern kann, bis ein Kind die jeweiligen Regeln verinnerlicht hat, ist kein Hinweis auf eine Überforderung, sondern vielmehr eine Frage des Inputs. Spricht ein Kind beispielsweise mit seiner Mutter Spanisch, mit allen übrigen Bezugspersonen aber Deutsch, ist der sprachliche Input auf Spanisch vergleichsweise kleiner. Die Expertin geht noch einen Schritt weiter: Wer zeitgleich unterschiedliche Sprachen erlernt, profitiert möglicherweise zusätzlich. Es gibt jeweils von Sprache zu Sprache andere Regeln für die Laut- und Wortverwendung und auch für das Gesprächsverhalten. Wenn sich ein Kind tagtäglich mit diesen Varianten auseinandersetzen muss, stärkt dies sein Empfinden für Sprachstrukturen.
Die Hochsprache ist leichter zu erlernen als die Mundart.
Das stimmt nicht. Das Schweizerdeutsche hat – wie jede andere Sprache auch – klare Regeln und Strukturen. Deswegen rät Judith Häusermann Lehrpersonen mit Schülerinnen und Schülern, die noch kaum Deutsch oder Schweizerdeutsch sprechen, keinesfalls nur auf Schriftdeutsch zu kommunizieren. Die Expertin schlägt vor, die zwei Varianten des Deutschen gemäss ihrer Funktionen in der Schweiz zu verwenden: Hochdeutsch ist die Bildungssprache, Schweizerdeutsch die Alltagssprache. Hierzu ein Beispiel: Während der Lehr- und Lernphasen sollten die Lehrerinnen und Lehrer Schriftdeutsch sprechen. Sobald es aber darum geht, in welcher Halle der Sportunterricht stattfindet oder welche Schuhe die Kinder zur Wanderung anziehen sollen, macht ein Wechsel in die Mundart Sinn. Übrigens für alle Kinder.
Eltern mit unterschiedlichen Muttersprachen sollten ausschliesslich in der ihnen besonders vertrauten Sprache mit dem Nachwuchs reden, also die Westschweizer Mutter nur Französisch, der St. Galler Vater nur Schweizerdeutsch.
Falsch. Diese Annahme wurde in den letzten Jahren wissenschaftlich widerlegt. Es schadet dem Spracherwerb eines Kindes nicht, wenn seine Eltern mal in dieser, mal in jener Sprache mit ihm sprechen. Wichtig ist, dass die Gründe für die Sprachenwechsel für die Kinder nachvollziehbar sind: Es ist nur natürlich, dass eine französischsprachige Mutter mit ihrem Kind Deutsch spricht, wenn dessen deutschsprachige Spielkameraden zu Besuch sind. Judith Häusermann ermutigt Mütter und Väter ausdrücklich, ihre jeweilige «Herzenssprache» zu verwenden, aber ruhig auch mal zu wechseln und somit flexibel zu bleiben: Je lebendiger und intuitiver Sprache im Familienalltag eingesetzt werde, desto besser.
Ein deutschsprachiges Kind lernt leichter Englisch als beispielsweise Arabisch, da Deutsch und Englisch näher miteinander verwandt sind.
Das ist nicht korrekt. Die Kleinen verinnerlichen Sprachen viel intuitiver. Sie nehmen die Unterschiede in der Grammatik und im Lautsystem nicht so bewusst wahr und sie vergleichen auch nicht eins zu eins. Die Meinung, eine Sprache sei einfacher zu erlernen, wenn sie von ihrer Struktur her der Muttersprache näherstehe, ist deswegen vor allem eine Erwachsenenmeinung.
Kinder lernen alle Sprachen, die man ihnen anbietet.
Jein. Es spricht nichts dagegen, die Zweijährige in der englischsprachigen Kinderkrippe anzumelden oder den Dreijährigen in den Mini-Chinesischkurs zu schicken. Eltern sollten ihre Erwartungshaltung allerdings hinterfragen. Als Faustregel gilt: Kinder lernen die Sprachen dann, wenn ihnen das Wissen auch in ihrem Alltag nützt. Bleiben wir beim Beispiel Krippenenglisch. Sobald das Kind daheim ist, spielt es keine Rolle mehr, dass die Erzieherin «milk» statt «Milch» sagt. Daheim ist Milch immer nur Milch. Somit fehlt der Anreiz, das in der Kita Gelernte zu vertiefen.