
istockphoto
Erziehung
Kleine Tyrannen
Von Regina Kesselring
Viele Kinder werden zu Tyrannen, weil Eltern verlernt haben, intuitiv zu handeln, meint der Kinderpsychiater Michael Winterhoff.
Anmerkung der Redaktion vom 13.09.2021: Nachfolgendes Interview wurde vor längerem geführt - wahrscheinlich im Jahr 2010. Winterhoffs Arbeit und seine Bücher werden sehr kontrovers diskutiert. Im August 2021 sieht er sich massiver Kritik ausgesetzt. Ihm wird von ehemaligen Patient* innen und Fachleuten vorgeworfen, zweifelhafte Diagnosen zu stellen und zu häufig ein ruhigstellendes Medikament einzusetzen. Siehe dazu zum Beispiel den Beitrag der Tagesschau der ARD.
wir eltern: Herr Winterhoff, Ihre Erziehungsbücher haben sich zu Bestsellern ntwickelt. Wie erklären Sie sich das?
Dr. Michael Winterhoff: Viele Eltern erkennen sich in ihrem täglichen Umgang mit dem Kind wieder. Andere, die über eine Intuition verfügen und in ihrem Kind wirklich ein Kind sehen, fühlen sich bestätigt und gestärkt.
Und diese Intuition fehlt vielen Eltern heute?
Ich denke, dass sich die meisten sehr engagiert mit der Erziehung auseinandersetzen. Gesellschaftliche Veränderungen und moderne Denkweisen führen jedoch dazu, dass Eltern diese Intuition verlieren und in geradezu partnerschaftlichen oder symbiotischen Beziehungen mit ihren Kindern leben.
Eine partnerschaftliche Beziehung zwischen Eltern und Kind klingt doch eigentlich positiv.
Ja, das hat man vor 20 Jahren auch gemeint. Schon damals war ich skeptisch und stellte diesem Erziehungsansatz keine gute Prognose. Ich wäre gern eines Besseren belehrt worden, doch inzwischen sieht man, wohin das führt: Kleine Kinder sind komplett überfordert, wenn Eltern alles mit ihnen demokratisch verhandeln und diskutieren, sie nach ihrer Meinung fragen und ihnen zugestehen, Entscheidungen zu treffen.
Aber Kindern mit Respekt zu begegnen, ihnen Vertrauen in die eigene Urteilsfähigkeit zuzugestehen, kann doch kaum schaden.
Bei älteren Kindern spricht nichts dagegen. Es funktioniert aber nicht, eine Dreijährige nach ihrer Meinung zum Essen zu fragen, einem Fünfjährigen zu überlassen, wann er ins Bett gehen will. Kleinkinder sind darauf angewiesen, von ihren Eltern angeleitet und in ihrer Entwicklung unterstützt zu werden. Im Alter von vier bis fünf Jahren stecken sie in der Allmachtsphase und betrachten sich selbst durchaus als Partner ihrer Eltern. Verhalten sich nun die Eltern tatsächlich partnerschaftlich, werden die Kinder in der Fantasie der Omnipotenz fixiert. Sie können den nächsten Entwicklungsschritt nicht machen und wichtige psychische Funktionen nicht herausbilden, zum Beispiel eine gesunde Frustrationstoleranz, Gewissen oder das Bewusstsein für Recht und Unrecht. Kleine Kinder müssen dies aber einüben. Damit hätten sie kein Problem, denn sie tun Dinge in erster Linie aufgrund der Beziehung zu den Erwachsenen. Nicht weil sie nach Erklärungen und reiflicher Überlegung zur Einsicht gelangen, dass es besser für sie ist, um acht zu schlafen oder sich vor dem Essen die Hände zu waschen. Sie decken den Tisch für die Eltern, sie lernen für die Lehrerin und nicht, weil sie der Ansicht sind, es sei gut für ihre Zukunft.
Sie sind also für die gute alte Autorität – Eltern befehlen, Kinder gehorchen?
Nein, ganz und gar nicht. Mir geht es nicht darum, das Kind in der Erziehung anzupassen oder zu unterwerfen. Gehorsam ist nicht das Ziel und ebensowenig die Disziplin. Aus tiefenpsychologischer Sicht ist die heutige Erziehungspraxis ganz einfach ungünstig für die Kinder. Die Gesellschaft ist bedrohlich geworden, ständig lesen wir von Katastrophen und Krisen – da suchen wir das Glück im Kleinen. Das Kind soll uns Glück und Sicherheit bieten: Wenn es glücklich ist, dann bin auch ich glücklich. Diese Haltung führt zur Symbiose mit dem Kind, denn meine Befindlichkeit ist direkt mit dem Kind verknüpft. Nun lebt aber ein etwa einjähriges Kind in völliger Ichbezogenheit, alles ist Lust und was es will, will es sofort. Es schreit und fordert die Erfüllung seiner Wünsche. Das ist normal. Befinden sich die Eltern in einer symbiotischen Beziehung mit dem Kleinkind, sind sie ständig damit beschäftigt, diese Wünsche zu erfüllen, denn erst wenn das Kind zufrieden lächelt, ist die Welt wieder in Ordnung. Das Kind bleibt auf diese Weise in der Ich-Bezogenheit verhaften.
Mit welchen Folgen?
In der Praxis habe ich heute mit Kindern zu tun, die in gravierenden Beziehungsstörungen aufgewachsen sind. Vor 20 Jahren gab es weder diese Ausprägung noch dieses Ausmass. Teenager sitzen ihren Eltern quasi noch auf dem Schoss, Kinder sind antriebslos und indifferent, lernen und mitmachen fällt ihnen schwer. Ich würde sagen, dass die Hälfte der Schülerinnen und Schüler Auffälligkeiten im Sozial- und Leistungsverhalten zeigen, die auf eine fehlende Reifeentwicklung zurückzuführen sind.
Noch eine Katastrophenmeldung, die verunsichernd wirken kann ...
Es kommt darauf an, was die Medien daraus machen, ob sie aufklärend berichten oder reisserisch. Wenn ständig die verdorbene Jugend Schlagzeilen macht, hilft das niemandem. Ich möchte die Eltern nicht verunsichern, sondern ermutigen.
Sind denn die Eltern immer Schuld, wenns bei den Kindern kriselt?
Mir geht es nicht um Schuldzuweisungen. Ich will die Probleme benennen und Wege aufzeigen, um sie zu lösen. Die Eltern haben es heute tatsächlich viel schwerer in der Erziehung, weil sie unter gesellschaftlichem Druck stehen und die Orientierung fehlt. Sie sind ständig in Alarmbereitschaft, weil etwas schiefgehen könnte. Banalitäten wie der Abgrenzungsstreit in der Pubertät, normale kleine Reibereien stürzt sie schon in Zweifel. Und dann werden Erziehungsratgeber gelesen. Aber ich bin der Meinung, dass schon etwas schief gelaufen ist, wenn man Hilfe in einem Buch sucht.
Ist es nicht das Ziel Ihrer Ratgeber, eben diese Hilfe anzubieten?
Unbedingt, aber entscheidend unter dem Aspekt der Reflexion über sich selbst: Sehe ich das Kind als Kind oder habe ich die elterliche Intuition verlassen? Bin ich unbewusst in ein anderes Konzept gerutscht und befinde mich in einer der Beziehungsstörungen? Diese Fragen helfen dabei, das Verhalten gegenüber dem Kind anzuschauen, zu verändern.
Hat Ihr Wissen als Kinderpsychiater Ihnen bei der Erziehung Ihrer Kinder geholfen?
Erstens hatte ich das Glück, in einer Zeit Vater geworden zu sein, da es noch einfacher war, Werte für sich zu definieren und weiterzugeben, sich gewissermassen in traditioneller Weise als Eltern zu begreifen. Zweitens habe ich immer unterschieden: Zu Hause war und bin ich Privatmann, in der Praxis der Kinderpsychiater. Wir haben unsere Kinder auch nicht nach bestimmten psychologischen Vorgaben erzogen. Wichtig war uns, authentisch zu sein, uns nicht aufgrund unseres fachlichen Wissens so und so zu verhalten.
Wie ist man als Mutter oder Vater authentisch?
In erster Linie indem man seiner Intuition vertraut, wie schon gesagt, das Kind als Kind behandelt.
Gehört dazu auch Strafen und Grenzen setzen?
Von diesen Konzepten halte ich nicht viel. Strafe als Reaktion auf kindliches Verhalten ist bereits hilflos. Wenn ich mein Kind aufs Zimmer schicke, weil es sich daneben benommen hat, geht es darum, dass ich meine Grenzen kenne und nicht alles toleriere. Es ist keine Strafe, sondern die Botschaft: So nicht! Wenn ein Kind sich tyrannisch verhält, müssen die Eltern nicht lernen, Grenzen zu setzen, sondern ihre eigenen Grenzen zu ziehen.
Zur Person
Michael Winterhoff ist ein deutscher Kinder- und Jugendpsychiater, Psychotherapeut und Autor, michael-winterhoff.com
Bücher
«Warum unsere Kinder Tyrannen werden», Goldmann Verlag (2009)
«Tyrannen müssen nicht sein», Gütersloher Verlagshaus (2010)