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Interview zum Thema Vorbilder
«Heutzutage muss man unentwegt vorbildlich sein»
Heutige Eltern sind immerzu radikal beispielhaft, findet Kultursoziologe Jörn Ahrens. Aber müssen Eltern sich stets vorbildlich zeigen? Fehler sind nämlich prima.
wir eltern: Herr Professor Ahrens, Sie sind Kultursoziologe und forschen unter anderem zu Medien in der Gesellschaft. Auch zu Comics. Comics!
Da es hier um Vorbilder gehen soll, muss man sagen: nicht sehr vorbildlich.
Jörn Ahrens: (lacht) Ja, Comics haben schon seit den 50er-Jahren einen schlechten Leumund als schädliche Trivialliteratur für Kinder. Aber da bleib ich ganz gelassen.
Zu allen Zeiten gab es Medien, die verpönt waren: das Fernsehen oder im 18. Jahrhundert die Romane ... Heute gelten Games als die «Bösen». Medien sind exakt so lange verpönt, bis sie in der Breite der Gesellschaft angekommen sind.
Eltern haben nun mal Angst, dass Kinder in den Medien falsche Vorbilder serviert bekommen. Als Kind war ich Tom-und-Jerry-Fan. Darf man so einen Zeichentrickfilm einem Kind überhaupt noch zeigen? Immerhin knotet die Maus Jerry dem armen Kater Tom regelmässig Dynamit an den Schwanz …
Hach, ja, Tom und Jerry. Ich erinnere mich. Ich bin kein Wirkungsforscher aber misstrauisch. Simple Reiz-Reaktions-Gleichungen sind mir zu platt. So tickt der Mensch nicht. Trotzdem macht es Sinn, zu überlegen, was man Kinder schauen oder lesen lässt und welche Inhalte damit transportiert werden. Aber …
Aber?
In erster Linie sollten Kindermedien unterhaltend sein. Gut Gemeintes darf höchstens mitgeschleift werden. Steht das pädagogisch Wertvolle im Mittelpunkt, wirds öde.
Getreu Goethe: «Man merkt die Absicht und ist verstimmt.»
Genau. Nehmen wir Pippi Langstrumpf, die ist für viele ein Vorbild gewesen, aber nicht, weil sie so vorbildlich war, sondern eine tolle dentifikationsfigur: mutig, stark, lustig. Sie war sicherlich nicht von Astrid Lindgren als Vorbild angelegt. Deshalb funktioniert sie heute noch. Oft aber spiegeln Bücher stark die Ideale ihrer Zeit. Der Struwwelpeter des 19. Jahrhunderts zum Beispiel den gehorsamen Untertanen … Mediale Vorbilder transportieren stets aktuelle Werte.
Derzeit – ist mein Eindruck – scheint das ganze Wort «Vorbild» etwas wäh zu sein.
Ja, es passt nicht in den Zeitgeist, es klingt zu entmündigend, wo wir doch Kinder zu selbstständig denkenden Menschen erziehen wollen. Doch eigentlich ist es skurril, dass heute das Wort «Vorbild» einen schlechten Ruf hat. Denn nie zuvor war die Vorbildhaftigkeit von Eltern so radikalisiert wie momentan.

zvg
Jörg Ahrens ist Professor für Kultursoziologie an der Universität Giessen und Vater von vier Kindern zwischen 5 und 28 Jahren.
Radikalisiert, was meinen Sie damit?
Heutzutage muss man doch unentwegt vorbildlich sein. Jeder. Immer. Das ganze Leben ist durchdidaktisiert. Man muss die «richtigen» Wörter beim Sprechen wählen, sich gesund ernähren, darf nicht rauchen, sollte moralisch
korrekt einkaufen … Ansonsten muss man sich rechtfertigen oder hat zumindest das Gefühl, man müsste. Vor allem vor den Kindern. Ich zum Beispiel trage keinen Fahrradhelm.
Uiuiui …
Ja, ich bin ein bekennend schlechtes Vorbild. Ich weiss, ich sollte vor meinen Kindern einen Helm tragen, aber ich tue es nicht und ich werde es auch nicht. Natürlich stellen sie mich deshalb zur Rede.
Na, da bin ich aber auf Ihre Begründung gespannt.
Ich sag einfach: Ich bin alt, ich brauch das nicht mehr.
Und das funktioniert?
Ich habe bei ihnen – diesbezüglich – das Label «Papa ist nicht ganz normal. Also kein Massstab für uns». Paradoxe Intervention. Funktioniert.
Comics, keine pädagogisch zugerüsteten Bücher und jetzt nicht mal ein Fahrradhelm. Rebellisch!
Klingt schlimmer, als es ist. Ich mache mir natürlich schon Gedanken, welche Werte ich meinen Kindern mitgeben möchte. Ich wähle auch bei den Büchern aus, die ich vorlese. «Der kleine Wassermann» beispielsweise ist gestrichen. Das Frauen- und Familienbild da drin ist mir einfach zu staubig. Jim Knopf dagegen ist immer noch fest in unserem Repertoire.
Es wurde an Michael Endes Buch kritisiert,
dass dort schwarz mit schmutzig gleichgesetzt
wird …
Es gibt schwierige Passagen, aber Kinder spüren, dass der Text insgesamt kein bisschen rassistisch ist. Ausserdem kann man mit ihnen darüber reden: Was gut ist, was schlecht, was vorbildlich ist, warum, warum nicht und warum manches trotzdem sein darf, auch wenn wir eine andere Meinung haben. Ambivalenzen und Differenzen rtragen zu können, ist ein hoher Wert. Darin kann man schliesslich auch Vorbild sein. Aber das fällt heute leider vielen schwer.
Sind Sie ihren Kindern ein Vorbild?
Ich hoffe nicht. Denn wie sagt Freud: «Töte deinen Vater». (lacht) Gemeint hat er damit, dass jeder Mensch sich irgendwann vom elterlichen Vorbild absetzen und den eigenen Weg finden muss. Ich jedenfalls bin ein Mensch mit vielen Fehlern. Ich sage nur: Fahrradhelm … Aber mir ist es wichtig, authentisch zu sein und meinen Kindern Integrität vorzuleben. Zu Integrität gehört es, Fehler zu haben, sie zuzugeben, dazu zu stehen, aber auch zu zeigen, dass man an Fehlern arbeiten kann. Ich glaube, das ist mir gelungen. Meine Kinder sind jedenfalls prima.
*Das Interview wurde in «wir eltern» 09/20 publiziert.
Caren Battaglia hat Germanistik, Pädagogik und Publizistik studiert. Und genau das interessiert sie bis heute: Literatur, Geschichten, wie Menschen und Gesellschaften funktionieren – und wie man am besten davon erzählt. Für «wir eltern» schreibt sie über Partnerschaft und Patchwork, Bildung, Bindung, Erziehung, Erziehungsversuche und alles andere, was mit Familie zu tun hat. Mit ihrer eigenen lebt sie in der Nähe von Zürich.