Rolf Vetterli
«Kinder merken, dass etwas in der Luft liegt»
wireltern: Herr Vetterli, wieso sollen Kinder bei einem Scheidungsverfahren vor Gericht müssen?
Rolf Vetterli: Aus dem einfachen Grund, weil eine Scheidung nicht nur die Eltern betrifft, sondern sich auch auf den Alltag der Kinder auswirkt. Das revidierte Scheidungsrecht räumt dem Kind deshalb ein Recht auf Partizipation ein – es soll als Persönlichkeit wahrgenommen und informiert werden, seine Interessen und Wünsche sollen in das Gerichtsverfahren einfliessen.
Kinder leiden, wenn die Eltern sich scheiden lassen. Werden sie nicht zusätzlich belastet, wenn sie vor Gericht aussagen müssen?
Ich bin nicht einverstanden mit der Aussage, dass eine Scheidung an sich belastend ist. Man hat Scheidungskinder lange als defizitäre Wesen hingestellt. Das sind sie nicht, sie entwickeln eigene Stärken und eine besondere Flexibilität. Natürlich ist für viele Kinder die Übergangszeit der Trennung schwer erträglich. Wenn Eltern jedoch oft gestritten haben, kann die Trennung auch eine Erleichterung sein. Belastend ist nicht das Gespräch über die Scheidung der Eltern, sondern der Umstand, dass Kinder oft nicht wissen, was mit ihnen passiert.
Es ist doch die Aufgabe der Eltern und nicht diejenige des Gerichts, mit den Kindern über die Veränderungen in ihrem Alltag zu sprechen.
Die Eltern sind während der Trennung oft derart mit sich selbst beschäftigt, dass sie gar keine Zeit haben, mit den Kindern zu reden. Schon kleine Kinder merken aber, dass etwas in der Luft liegt.
Eine Untersuchung hat gezeigt, dass in der Schweiz nur gerade 10 Prozent der jährlich rund 15 000 Kinder, deren Eltern sich scheiden lassen, vom Gericht angehört werden. Wieso so wenige?
An vielen Gerichten herrscht die Grundhaltung, dass es bei einer einvernehmlichen Scheidung weder nötig noch nützlich ist, die Kinder anzuhören. Manche Gerichte sind zudem mit Arbeit derart überlastet, dass sie die Kinder nur einladen, wenn sich die Eltern in den Kinderbelangen uneinig sind. Das ist jedoch ein falscher Ansatz.
Inwiefern?
Die Kinderanhörung wird als Erkenntnismittel für das Gericht verstanden und das Kind zum Gehilfen in einem Elternstreit gemacht, zu dessen Lösung es einen Beitrag leisten soll. Ein Erwachsenenkonflikt muss aber von Erwachsenen gelöst werden.
Unterstützung
Wenn Eltern auseinandergehen, muss sich die Familie neu organisieren. Die Bedürfnisse und Fragen des Kindes bleiben in dieser schwierigen Situation oft ungehört. Ein Hilfsangebot für Eltern in Trennung (KET) des Marie Meierhofer Instituts bietet Gespräche für Eltern und Kind, Gespräche mit dem Kind sowie Begleitung beim oft konfliktbeladenen Wechsel von einem Elternteil zum anderen.
Mehr Infos: www.mmi.ch, Tel. 044 205 52 20
Was bringt eine Kindesanhörung, wenn die Scheidung einvernehmlich ist, wenn das gemeinsame Sorgerecht vereinbart wird oder die Kinder bereits gut informiert sind?
Oft ist das Thema Scheidung für das Kind mit Scham behaftet. Man redet kaum darüber, mit den Kollegen schon gar nicht. Doch wenn etwas verschwiegen wird, muss es offenbar schlimm sein. Für das Kind hat die Anhörung deshalb eine klärende Funktion. Es merkt, dass sich eine öffentliche Stelle für seine Belange interessiert, dass man über die Scheidung reden kann. Und es erfährt, dass es vielen anderen Kindern genauso geht wie ihm.
Ab welchem Alter machen Kindesanhörungen Sinn?
Das Bundesgericht empfiehlt, Kinder ab dem Schulalter anzuhören. Kinder sind allerdings schon wesentlich früher, nämlich ab dem vierten Altersjahr, imstande, einen eigenen Willen zu bilden und diesen zu äussern.
Wie genau geht eine Kindesanhörung vor sich?
Kindesanhörungen soll man ganz wörtlich nehmen. Das Kind steht im Zentrum. Es erhält die Möglichkeit, zu erzählen, was es beschäftigt, was ihm am meisten Sorgen macht, was es sich wünscht – ohne dass es ausgefragt wird.
Was kann sich das Kind vom Gespräch erhoffen?
Dass es ernst genommen wird. Man soll ihm allerdings sagen, dass seinen Wünschen nicht immer entsprochen werden kann, jedenfalls nicht im Grundschulalter. Bei Jugendlichen ist es anders, sie haben die berechtigte Erwartung, dass man ihre Anliegen weitgehend berücksichtigt. Einem 14-Jährigen kann man kaum mehr vorschreiben, bei welchem Elternteil er wohnen muss.
Was ist, wenn das Kind nicht zur Anhörung gehen will?
Das ist eine Haltung, die es zu respektieren gilt. Auch wenn das Kind zu einem bestimmten Thema nichts sagen will. Druck auszuüben ist sicher nicht gut. Man weiss, dass es wesentlich von der Einladungspraxis abhängt, wie viele Kinder man am Schluss sieht. Statt eines vorgedruckten Briefs soll das Gericht dem Kind eine persönliche Einladung schicken und gleich einen Termin vorschlagen – die Erfahrung zeigt, dass so die meisten kommen.
Soll sich das Gericht überhaupt einmischen? Man kann die Kindesanhörung auch als Bevormundung sehen.
Ich verstehe das ein Stück weit. Nicht alle Eltern verlieren ihre Erziehungsfähigkeit, wenn sie sich scheiden lassen. Wenn das Gericht merkt, dass die Kinder sich in der neuen Lebenssituation zurechtfinden, soll es das akzeptieren, sie nicht weiter ausforschen und ihnen schon gar keine guten Ratschläge geben.
In der Schweiz gibt es kaum spezialisierte Familiengerichte. Wie fähig sind Richterinnen und Richter, mit Kindern über deren Wünsche und Bedürfnisse in einer oft schwierigen Situation zu reden?
Etwas überspitzt ausgedrückt: Die Gerichte hören sich am Morgen Beschuldigte an, am Nachmittag Kinder. Im schlimmsten Fall tun sie dies im gleichen Stil. Dies ist ein Grund, weshalb ich mich immer für Familiengerichte eingesetzt habe. Erschwerend kommt dazu, dass Juristen während ihrer Ausbildung nicht einmal in Gesprächsführung geschult werden. Wer Kinderanhörungen macht, sollte sich in jedem Fall weiterbilden, etwas von Entwicklungspsychologie verstehen, wissen, wie man mit einem Kind umgeht.
«wir eltern»
Zur Person
Dr. iur. h. c. Rolf Vetterli, 69
Der Rechtsanwalt und Mediator wurde 1987 ans Kantonsgericht St. Gallen gewählt und präsidierte dort fast 20 Jahre lang die Familienrechtskammer. Rolf Vetterli setzte sich für alternative Methoden der Konfliktlösung ein und trug mit seinen Entscheiden und Publikationen zur Entwicklung des schweizerischen Familienrechts bei. Zugleich baute er im Kanton St. Gallen erstinstanzliche Familiengerichte auf. Vetterli ist Lehrbeauftragter für Familienmediation an der Universität St. Gallen und für Familienrecht an der Uni Zürich. Er lebt in St. Gallen, ist verheiratet und Vater einer erwachsenen Tochter.
Rolf Vetterli hat zusammen mit der Juristin Andrea Büchler das Lehrbuch «Ehe Partnerschaft Kinder» herausgegeben, eine spannende Einführung ins Familienrecht der Schweiz.
Wie können Eltern herausfinden, ob der zuständige Richter geeignet ist für Kindesanhörungen?
Die Eltern lernen den Richter im Voraus kennen und tun gut daran, mit ihm den Sinn der Anhörung zu besprechen. Ideal wäre, wenn es nach der separaten Eltern- und Kindesanhörung eine Art Familienkonferenz gäbe, während der die Kinder den Eltern im Beisein der Richterin sagen könnten, was sie beschäftigt und was sie sich wünschen. Doch so viel Aufwand wollen die Gerichte nicht betreiben.
Dies würde auch die Kosten deutlich erhöhen. Wird der Zusatzaufwand für die Kindesanhörung den Eltern verrechnet?
Auf diese Idee ist glücklicherweise noch niemand gekommen. Die Tarife für die Gerichtsgebühren stützen darauf ab, ob eine Scheidung vollständig oder zum Teil einvernehmlich ist oder ob es zur Scheidung auf Klage kommt. Die Kindesanhörung gehört zum Mindeststandard und erhöht die Scheidungskosten nicht – es soll ja nicht so weit kommen, dass Eltern ihr Kind aus Spargründen oder aus Geiz davon abhalten, zur Kindesanhörung zu gehen.
Woher kommt Ihr Engagement für die Kindesanhörung?
Ich mag Kinder, im nächsten Leben werde ich Kindergärtner (lacht). Ich habe überhaupt grosse Sympathie für Leute in Krisensituationen; sie wirken in ihrer Hilflosigkeit offen und ehrlich und brauchen nur jemand, der ihnen Mut macht. Meine Erfahrung ist, dass die Stimme des Kindes die Eltern am meisten beeindruckt – je persönlicher seine Äusserung, desto wirksamer ist sie. Erfolgreiche Richtertätigkeit besteht darin, die Parteien zu unterstützen, damit sie in eigener Verantwortung eine Lösung finden können, welche zu ihnen passt, und nicht darin, über die Köpfe der Beteiligten hinweg ein Urteil zu sprechen.
Der Richter als eine Art Geburtshelfer ...
Genau. Das zeigt auch, dass man sich in dieser Funktion nicht überschätzen sollte. Man kann in einer Krisensituation Beistand leisten, sollte sich aber nicht einbilden, darüber hinaus eine grosse Bedeutung für das Leben der Betroffenen zu haben. Auch für die Kinder nicht.