Die Schnüerlischrift wird in der Schweiz abgeschafft. Barnaby Skinner, Kolumnist und Vater einer Erstklässlerin, versteht die Nostalgiker im Appenzell. Zumindest ein wenig.
Bis vor kurzem hatte ich nur eine vage Vorstellung von schulischen Elternabenden. Am ehesten bildete ich mir ein, dass es sich hierbei um lockere Schwätzchen zwischen Mutter, Vater und Lehrperson zur späten Abendstunde handelte. Oh, wie hatte ich mich geirrt! Das merkte ich Anfang Juni beim Betreten des vollgepackten Singzimmers an der Primarschule in Trogen, Appenzell Ausserrhoden.
Der kleine Saal vibrierte an diesem, unserem ersten Elternabend bereits vor Aufregung. Eine Stimmung wie vor einem Konzert. Die Lehrerschaft hatte ein sorgfältig gestaltetes Programm vorbereitet: Vorstellungsrunde, Kurzanekdoten aus den Leben der Lehrerinnen, ein Puppenschauspiel. Das alles war allerdings nur ein Vorspiel des wichtigsten Themas des Abends: Der Ankündigung, dass die Schnüerlischrift abgeschafft werde. Erstklässlern wird im Kanton Appenzell Ausserrhoden ab diesem Schuljahr ausschliesslich die Basisschrift beigebracht. «Wer hat dazu Fragen?», schloss die Schriftexpertin ihr Referat.
Die Trogner Lehrerinnen hatten sich minutiös vorbereitet. Denn selbstverständlich hatten die anwesenden Mütter und Väter Fragen zum Ende der Schnüerlischrift. Brennende Fragen sogar: «Wie sollen die Kinder künftig die Briefe der Grosseltern lesen?», wollten die einen wissen. Oder: «Stirbt damit nicht auch ein Stück Heimat?» Und vor allem: «Diese Basisschrift ist doch absolut langweilig!»
Auch mich packte die Nostalgie. Die Schnüerlischrift gehört zu meinen ersten Eindrücken der neuen Heimat. Mit acht Jahren bin ich ohne ein Wort Deutsch aus England in die Schweiz gezogen. Doch an meinem ersten Schultag stellte ich fest, dass ich nicht nur eine neue Sprache, sondern auch das Alphabet komplett neu lernen musste. Ersteres bereitete mir grösste Mühe. Vor allem die Fälle wollten mir nicht einleuchten: Heisst es nun der, die oder das Stift? Und was zum Teufel ist der Akkusativ? Die Schnüerlischriftübungen nach der Grammatik-Büffelei dagegen waren Erholung pur. Hier ein Bogen für ein Schnüerli-«H», dort ein Schlenker für ein Schnüerli-«Z». Mein Lieblingsbuchstabe war das kleine «k»: ein grosser und ein kleiner Schlenker!
Am Elternabend in Trogen stand ich kurz davor, ebenfalls ein: «Warum sollen unsere Töchter nicht in den Genuss kommen, die Schnüerlischrift zu lernen?» in die Runde zu werfen. Doch da erinnerte ich mich daran, was ein paar Jahre später mit mir passierte. Irgendwann zwischen 12 und 14 Jahren kam es in der Klasse zu einer Revolution. Wie genau und wer dafür verantwortlich war, ist mir bis heute schleierhaft. Nur eines war klar: Wer dazu gehören wollte, brauchte einen eigenen Schreibstil, einen, der mit der Schnüerli-Form nichts mehr zu tun hatte.
Von einem Tag auf den anderen änderte ich damals meine Schrift: Aus feinen, wohlgeformten Schlenkern wurden unförmige Ungetüme von Buchstaben, aus «Ü»-Pünktchen riesige Kreise, aus den Schlenkern des Buchstaben «k» hässliche Krallen. Doch je heftiger der Lehrer meine Schrift rügte, desto überzeugter hielt ich daran fest. Leider. Die Schnüerlischrift habe ich verlernt und meine normale Handschrift ist bis heute nur bedingt besser geworden.
Wir können unseren Kindern deshalb wohl keinen grösseren Gefallen tun, als ihnen gleich von Anfang an statt der Schnüerli-, eine möglichst langweilige Schrift beizubringen. Was sie später damit machen, lässt sich ohnehin nicht kontrollieren. Eigentlich erstaunlich, dass die Schulbehörden 70 Jahre brauchten, um zu dieser Einsicht zu gelangen. So alt nämlich wird die Schnüerlischrift im neuen Schuljahr.
Barnaby Skinner
Barnaby Skinner (40) ist Datenjournalist bei der «SonntagsZeitung» und beim «Tages-Anzeiger». Er wohnt mit seiner Frau Monica und den gemeinsamen Töchtern Mia (6), Holly (4) und Poppy (4 Monate) in Trogen, AR.