Wenn das Kind bei den Eltern schläft
Gute Nacht im Familienbett
Von Anita Zulauf und Martina Schnelli

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Ganze Völkerstämme von Kindern sind jede Nacht barfuss unterwegs, um im Bett ihrer Eltern Unterschlupf zu finden. Für diese Erkenntnis braucht es keine Studien, da genügt eine kleine Umfrage im Quartier vollkommen. Fast alle Eltern haben dafür Verständnis. Wer seinen Kindern allerdings offiziell einen Schlafplatz im eigenen Bett einräumt, macht sich schnell zum Hippie. Können die nicht loslassen? Spielen sie sich als kleines Naturvolk auf? Oder haben sie kein Geld für Kinderzimmermöbel?
Für reichlich Gesprächsstoff bei den Nachbarn ist jedenfalls gesorgt. In der Schweiz ist das gemeinsame Schlafen (Co-Sleeping) wenig etabliert. Nur etwa 5 Prozent der Einjährigen verbringen die Nacht im Bett der Eltern, bei den Vierjährigen sind es immerhin 13 Prozent. Dann flacht das Interesse wieder ab, und noch etwa 2 Prozent der Zehnjährigen schlafen dauernd bei Mama und Papa. Die Zahl der Kinder, die sporadisch und unangemeldet im Elternbett landen, ist jedoch viel höher.
Fast die Hälfte aller zwei- bis siebenjährigen Schweizer Kinder schlüpfen mindestens einmal pro Woche ins Elternbett. Diese aktuellen Zahlen aus Langzeitstudien des Kinderspitals Zürich zeigen unser zwiespältiges Verhältnis zum gemeinsamen Schlafplatz. Es ist doch ziemlich überraschend, dass Vierjährige häufiger in Mamas Arm schlafen als Neugeborene. Und mit den leeren Kinderbetten, die nachts wie stille Vorwürfe in den Wohnungen herumstehen, könnte man eine Leiter bis tief in den Nachthimmel bauen.
Mit schlechter Erziehung haben die nächtlichen Völkerwanderungen jedoch nichts zu tun. Wenn sich die Kinder ab etwa zwei Jahren langsam von ihren Eltern ablösen und ihre Autonomie entwickeln, kann das nachts zu Verlassenheitsgefühlen führen. Zudem ist die Fantasie von Kleinkindern so bildhaft und real, dass sie im Dunkeln häufig Angst bekommen.
Schlafen ist eine kulturelle Angelegenheit
Trotzdem setzen sich viele Eltern unter Druck, dass ihr Kind möglichst bald allein schlafen sollte. Warum eigentlich? «Schlafrituale verraten viel über die Kultur eines Landes, aber wenig über unsere biologischen Schlafbedürfnisse», sagt Oskar Jenni, leitender Arzt Entwicklungspädiatrie des Kinderspitals Zürich. In afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern ist der gemeinsame Schlafplatz üblich, während in den hoch industrialisierten Ländern der USA und in Europa getrennte Zimmer der Norm entsprechen.
Es gibt jedoch auch Industrienationen, in denen das Familienbett praktiziert wird. Bestes Beispiel dafür ist Japan. In Japan betrachtet man ein Neugeborenes als eigenständige Persönlichkeit, die lernen muss, sich in die Gemeinschaft einzufügen – eine gemeinsame Schlafstätte hilft ihm dabei. In den USA, wo das Familienbett weitgehend verpönt ist, wird ein Neugeborenes dagegen als abhängiges Wesen gesehen, das lernen soll, autonom zu leben. Im eigenen Bett, mit Nachtlicht und Teddy. Ebenso ist in Europa frühe Autonomie ein hohes Gut, und separate Kinderzimmer sind Standard. So planten die Architekten in den 70er- und 80er- Jahren, als viele der heutigen Eltern noch in den Windeln lagen, wie das Familienleben nachts auszusehen hatte: Hier das 14-Quadratmeter-Elternzimmer mit zwei Betten, zwei Nachttischchen plus Wandschrank, dort drei 9-Quadratmeter-Kinderzimmer mit Wiege, Gitterbett und Kommode.
Ganz ausgemistet sind diese ordentlichen Wohnlandschaften in unseren Köpfen nicht. Und wenn Grosseltern sich darüber mokieren, dass die heutigen Babys überallhin mitgenommen werden – sogar ins Ehebett – schwingt vielleicht sogar ein wenig Neid auf die Mütter von heute mit. Der amerikanische Kinderarzt William Sears hat nämlich in seiner Praxis eine Umfrage gemacht und festgestellt, dass die meisten Mütter ihr Baby nachts am liebsten zu sich nehmen würden.
Schluss mit dem Liebesleben?
Viele Kinder, die als Baby im Familienbett schlafen, verlassen es freiwillig im 2. oder 3. Lebensjahr. Autor und Kinderarzt William Sears meint, man müsse sich bei kleinen Kindern wegen der Abhängigkeit keine Sorgen machen. Ein Kind, das unbedingt bei den Eltern schlafen wolle, bekomme so schlicht ein elementares Bedürfnis gestillt. Es werde dann unabhängig, wenn es die entsprechende Reife dazu hat. «Eltern können ihren Kindern nicht Unabhängigkeit antrainieren, vielmehr sollten sie ihnen eine sichere und liebevolle Umgebung bieten, die es den Kindern ermöglicht, ein gutes Selbstwertgefühl zu entwickeln», so William Sears.
Und was ist mit den Bedürfnissen der Eltern? Wenn sie über Jahre gemeinsam mit ihren Kindern schlafen, leidet dann nicht ihr Sexualleben darunter? Ulrike Zöllner, Professorin an der Hochschule für Angewandte Psychologie in Zürich, beurteilt das Familienbett aus diesem Grund kritisch: «Kinder beeinflussen die Sexualität ihrer Eltern schon ohne diesen Familienschlaf sehr. Deshalb muss man genau anschauen, ob man sein Kind ans eigene Bett bindet, weil man sich vom Partner distanzieren will.» Wenn das Kind im Bett die mangelnde Lust auf sexuelle Zweisamkeit mit dem Partner kaschieren soll, ist das sicher keine kluge Strategie. Eltern sind darum gut beraten, offen und ehrlich darüber zu sprechen, ob ein Familienbett für beide akzeptabel sein könnte – und das auch noch nach einigen Wochen Praxis.
Abgesehen von der möglichen Einschränkung im Liebesleben befürchten viele Eltern aber auch, sie könnten ihr Kind im Elternbett gefährden. So warnt die Vereinigung der amerikanischen Kinderärzte ausdrücklich vor dem Familienbett, und in Europa getrauen sich viele Fachleute nicht mehr, es zu propagieren. Weil neuere Studien einen Zusammenhang zwischen dem gemeinsamen Schlafen und dem plötzlichen Kindstod sehen. Die Schweizer Kinderärzte geben deswegen jedoch keine Warnung ab. Der Luzerner Kinderarzt Georg Magyar meint: «Es gibt klare und eindeutige Richtlinien für den gemeinsamen Schlaf. Wieso sollte ich abraten? Ein Polizist zieht Autofahrer auch nicht aus dem Verkehr, wenn sie angeschnallt sind und korrekt fahren, nur weil immer etwas passieren kann.»
Erstaunliche Studienergebnisse
Das Familienbett hat sich in den letzten Jahren zu einem Lieblingsobjekt der Forschung entwickelt. Deshalb weiss man heute einiges über das Verhalten von Eltern und Kind während des Schlafs. Der amerikanische Forscher James McKenna stellte in seinem Schlaflabor fest, daß die Säuglinge im Familienbett die meiste Zeit mit dem Gesicht zur Mutter schlafen. Seine bemerkenswerteste Beobachtung: Die Schlafphasen von Mutter und Kind gleichen sich an, wenn sie nebeneinander liegen. Die Mutter wird also vom weinenden Kind nicht aus dem Tiefschlaf gerissen, sondern sie gleitet gleichzeitig mit ihm sanft in eine leichtere Schlafphase hinüber. Beide schlafen grundsätzlich weniger tief, als wenn sie in zwei Zimmern liegen würden, und ihre Antennen sind auf Stand-by geschaltet. Mit ein Grund, warum man nicht Angst haben muss, das Baby im Schlaf zu erdrücken.
In Filmaufnahmen war zu beobachten, dass sich Kind und Mutter im Schlaf exakt so bewegen, dass es nie zu einer bedrohlichen Situation kommt. Das funktioniert allerdings nicht, wenn die Eltern übermüdet in einen bleiernen Schlaf fallen und wenn Alkohol oder Medikamente im Spiel sind. Für eine Mutter ist der gemeinsame Schlafplatz bestimmt komfortabler als die getrennten Zimmer. Sie kann ihr Baby im Halbschlaf stillen und es beruhigen, ohne dafür immer aufzustehen und eine halbe Stunde wach zu sein. «Mit Kindern wird man pragmatisch und unorthodox», weiss die Hebamme Barbara Schwärzler. Etwas praktische Fantasie braucht es auch dann, wenn sich ein zweites Kind anmeldet.
Schlafen wie im Pfadilager ist nicht jedermanns Sache, und ein älteres Kind wegen des Neuankömmlings auszuquartieren zieht Eifersucht geradezu an. Da viele Kinder nicht gerne alleine schlafen, kann ein gemeinsames Kinderzimmer die Lösung sein. Autor und Kinderarzt Remo Largo empfiehlt das Schlafen mit Geschwistern in seinem Buch «Babyjahre» ausdrücklich, damit sie sich nachts nicht verlassen fühlen: «Kinder, die mit ihren Geschwistern schlafen, suchen nur ausnahmsweise das elterliche Schlafzimmer auf.»
Familienbett ist tabu
- wenn Eltern rauchen
- bei Alkohol-, Drogen- oder Medikamentenkonsum
- bei extremer Übermüdung,
- auf Wasserbetten, weichen alten Matratzen, Klappbetten und Sofas.
Regeln für ein sicheres Familienbett
Das Baby auf den Rücken legen und es vor Überwärmung schützen. Am besten ist ein Babyschlafsack. Das Kind nicht zusätzlich mit dem eigenen Duvet zudecken. Die Elterndecken sollten leicht sein und das Schlafzimmer ungeheizt.
- Keine Kissen in Babys Kopfnähe
- Schlafen Sie möglichst dem Kind zugewandt
- Schläft Ihr Baby allein im Elternbett, muss es abgesichert werden (z.B. mit einem Stillkissen) oder in ein Babybett gelegt werden
- Kein Haustier im Familienbett
- Keine Lücken zwischen Wand und Bett oder zwischen den Elternbetten, in die das Neugeborene hineinrutschen könnte
- Ein Neugeborenes nicht neben ein Geschwister betten
- Ein Neugeborenes nicht zwischen die Eltern legen, sondern neben die Mutter